Bäume beflügeln die Phantasie
Meist schreibt der Volksglaube einzeln stehenden, sehr alten Bäumen wie der bekannten Linde von Linn eine besondere Bedeutung zu.
aktualisiert am 10. Juni 2016 - 16:43 Uhr
Der Glaube an die Macht der Bäume ist fest in unserem Kulturgut verankert. In der germanischen Mythologie verkörpert die Esche Yggdrasil den ganzen Kosmos. Einigen heidnischen Völkern waren besondere, meist einzeln stehende Bäume so heilig, dass sie weder umgehauen noch ihrer Zweige beraubt werden durften. Christliche Missionare versuchten diesen Kult zu unterbinden, fällten die Bäume – und bezahlten häufig mit ihrem Leben dafür.
Vielerorts gingen junge Mädchen zur Wintersonnenwende in den Wald und umarmten die Bäume. Durch den engen Kontakt sollten sie einen verstorbenen Ahnengeist aufnehmen, um ihn eines Tages wieder ins Leben zurückzuführen. Auch der Weihnachtsblock, den man zu Urgrossmutters Zeiten in der Schweiz noch kannte, soll Ahnenwesen enthalten haben. Dabei handelt es sich um einen alten Baumstrunk, den man während der kürzesten Tage ins Haus holte – und der Kraft und Wärme spendete.
In den katholischen Gebieten der Schweiz sind heilige Bäume bis in unsere Zeit bekannt. Bei der Einführung des Christentums wurden sie mit christlichen Symbolen versehen und als eigentliche Naturkapellen genutzt.
Oft sind es skurrile Baumgestalten und eigenartige Wuchsformen, die die Phantasie der Menschen anregen. So werden wirre Triebe manchenorts mit dem Teufel in Verbindung gebracht, die Hohlräume im Innern von alten Bäumen mit Zwergen und Elfen. In der Elfenau bei Bern soll sich sogar die Madonna in einer Eiche offenbaren – die Wülste um einen beschädigten Teil des Stamms bilden die Umrisse einer weiblich wirkenden Gestalt in einem Umhang.
Aber auch ohne solche Symbolik kann der Besuch eines Baums ein besonderes Erlebnis sein. Ein Spaziergang durch den Wald wirkt erholsam für Körper und Geist: Die natürlichen Gerüche und Geräusche regen unsere Sinne an und bieten eine wohltuende Abwechslung zum Lärm und Gestank der Zivilisation. Zudem bilden solitäre Baumriesen für viele Tiere und Pflanzen ein eigenes, in sich geschlossenes Ökosystem. So wird die Rast im Schatten einer grossen Baumkrone garantiert nie langweilig.
- Linde von Linn AG: Der gewaltige Baum steht einsam inmitten saftiger Wiesen des Tafeljuras ob Brugg. Der Legende nach pflanzte Ende 1668 der letzte Linner die Linde auf das Grab der durch die Pest dahingerafften Einwohner. www.aargautourismus.ch
- Bettlereiche in Gwatt BE: Ihr Name ist wohl eine Verballhornung des keltischen Worts «beth», was «Lebenswelt», «Stein» oder «Muttergöttin» bedeutet. Die Stieleiche ist rund 600 Jahre alt, steht im Dorfzentrum – und hat den Status eines kantonalen Naturdenkmals.
- Eichenwald bei Tamins GR: Die rund 2700 Jahre alten Gräber unterhalb des Kirchhügels deuten darauf hin, dass es sich beim nahen Eichenwald um einen heiligen Hain handeln könnte – einen Wald, in dem eine Gottheit verehrt wurde. www.tamins.ch
- Marientanne von Blitzingen VS: Oberhalb des Dorfs an einem Fussweg nach Ammern steht eine knorrige Tanne, an der ungefähr auf halber Höhe eine Marienfigur angebracht ist – ein Ahnenbaum, der Teil des christlichen Glaubens wurde. www.obergoms.ch
- Kastanienriese TI: Einer der dicksten Bäume der Schweiz steht unweit der Postautohaltestelle von Chironico bei Faido. Der Umfang des Kastanienbaums beträgt mehr als zwölf Meter. Beim Wandern Richtung Ronco und Orsino entdeckt man weitere Riesen. www.leventinaturismo.ch
Kurt Derungs: «Baumzauber. Die 22 Kultbäume der Schweiz»; Edition Amalia, 2008, 192 Seiten, 39.90 CHF