Der Irrglaube geht am Stock
Millionen «walken» mit zwei Stöcken im Glauben, etwas für die Gesundheit zu tun. Aber: Millionen können auch irren.
Veröffentlicht am 29. August 2006 - 08:53 Uhr
Den Blick starr gerade, den Rücken aufrecht, den Schritt federnd und das Bewusstsein erhaben: Das ist der Nordic Walker. Man hört ihn schon von weitem mit seinen Stöcken klappern wie einst im Mittelalter die Warner vor der Pest. Er wandert mit seinen an Skistöcke erinnernden Poles durch gepflästerte Altstadtgassen und auf Asphaltstrassen und auch durch Wald und Flur. Selbst spöttische Bemerkungen der Kategorie «He Opa, Schnee gibts nur im Winter» können ihn von seinem Tun nicht abhalten.
Der Nordic Walker tut Gutes in eigener Sache: Er frönt seiner Gesundheit. Denn das ohnehin als gesund verschriene Wandern soll mit Stöcken noch gesünder sein. Sein Glaube wird von Stockherstellern und anderen Interessenvertretern kräftig geschürt. So schreibt etwa eine Nordic Walking Academy in Freiburg im Breisgau (D), dass das Stocklaufen den Bewegungsapparat um bis zu 30 Prozent entlaste. Auch die Ferienregion Disentis-Sedrun preist auf ihrer Homepage das Walking als gelenkschonend an, und sogar der Berufsverband für Gesundheit und Bewegung Schweiz, in dem Fitness- und Breitensporttrainer, aber auch Instruktorinnen von Geburtsvorbereitungskursen vereint sind, schreibt auf seiner Webseite, dass es sich um ein gelenkschonendes Ausdauertraining handle, «bei dem die Überlastungsgefahr gering ist».
Keine Entlastung der Gelenke
April, April, tönt es nun von Seiten der Wissenschaft, alles Marketing in seiner reinsten Form! Der Druck beim Auftreten soll gemäss jüngsten Forschungen sogar höher sein als beim gewöhnlichen Gehen. «Die behauptete Gelenkentlastung von 30 bis 50 Prozent muss als unhaltbar zurückgewiesen werden», betont der deutsche Sportmediziner Thomas Jöllenbeck. Jöllenbeck geht sogar noch weiter: «Vor einem therapeutischen Einsatz in der Hoffnung, dass die Gelenke entlastet werden, muss ich warnen.»
Das bestätigt auch Urs Mäder vom Bundesamt für Sport: «Dieser Befund erstaunt mich nicht», hält er fest. Immerhin, so Mäder, werde wenigstens der ganze Körper beansprucht, auch wenn keine Entlastung der Gelenke stattfindet. Zu diesem Resultat kommt auch Jachen Denoth vom Institut für Biomechanik der ETH Zürich: «Es ist zum Teil lachhaft, wie diese Stöcke eingesetzt werden. Das Einzige, was diese Stöcke bringen, ist ein etwas höherer Energieverbrauch.» Stattdessen, so Denoth, könne man auch dasselbe Gewicht im Rucksack mittragen und nach dem Wandern einige Gymnastikübungen für den Oberkörper durchführen. Immerhin würden die Stöcke unsicheren Wanderern etwas Halt verleihen.
Den vermeintlich positiven Effekt des Nordic Walkings untersuchten kürzlich auch finnische Sportmediziner. Sie liessen zwei Gruppen von Frauen im Alter zwischen 50 und 60 Jahren während dreier Monate mit und ohne Stöcke laufen. Der Befund der Mediziner: Die Poles bringen keinerlei Vorteile. Im Gegenteil - die Gruppe ohne Stöcke legte sogar etwas mehr Kraft in den Beinen zu.
Die Idee eines Studenten
Zwar gibt es das Nordic Walking als Trainingshilfe für Langläufer seit den dreissiger Jahren. Doch richtig populär wurden die Stöcke erst, als die Stock- und Freizeitindustrie einen neuen Absatzmarkt suchte und fand. Den Grundstein dazu legte der finnische Sportstudent Marko Kantaneva. Er überlegte sich, wie aus dem Sportgerät für Langläufer eine Sportart für jedermann werden könnte. Seine Idee wurde von dem finnischen Stockproduzenten Exel, der damals unter Absatzproblemen litt, umgesetzt. Wenn man sieht, wie Millionen überflüssigerweise an den Stöcken durch die Landschaft klappern, muss man sagen: Chapeau, die Werbung hat ganze Arbeit geleistet.