So hat der Präsident das Spiel im Griff
An der Hauptversammlung nicht weiterzuwissen – der Alptraum jedes Vorsitzenden. Wer den Ablauf kennt und die Übersicht nicht verliert, hat als Vereinsleiter kein schweres Spiel.
Veröffentlicht am 19. Februar 2002 - 00:00 Uhr
Roland Studer spielt seit zehn Jahren leidenschaftlich Fussball. Jetzt haben ihn seine Kollegen am Stammtisch überredet, sich zum Vereinspräsidenten wählen zu lassen. Das ist eine Ehre. Doch kaum ist der Applaus verstummt, stellt Studer fest, dass mit diesem Amt viele Aufgaben und Pflichten verbunden sind. Das merkt er spätestens dann, wenn die jährliche Generalversammlung (GV) vor der Tür steht. Denn: Wenn die Statuten es nicht anders bestimmen, leitet der Vereinspräsident die Versammlung. Er und der Vorstand tun deshalb gut daran, alle möglichen Rechtsfragen frühzeitig abzuklären.
Zuerst muss feststehen, für welche Geschäfte die GV überhaupt zuständig ist. Das Zivilgesetzbuch (ZGB) erklärt die Generalversammlung zum obersten Organ des Vereins: «Die Vereinsversammlung beschliesst über Aufnahme und Ausschluss von Mitgliedern, wählt den Vorstand und entscheidet in allen Angelegenheiten, die nicht anderen Organen des Vereins übertragen sind.»
Das heisst im Klartext: Die Generalversammlung entscheidet über alle Geschäfte, für die nach den Statuten nicht der Vorstand oder ein anderes Vereinsorgan zuständig ist.
Da die meisten Vereinsstatuten Bestimmungen über die Kompetenzen der Organe enthalten, sollte Roland Studer einen Blick in die Satzungen werfen. Auf diese Weise erfährt er rasch, bei welchen Geschäften die Mitglieder ein Wörtchen mitzureden haben. Es ist wichtig, dass das zuständige Vorstandsmitglied diese Geschäfte frühzeitig – empfehlenswert ist mindestens eine Woche bis zehn Tage vorher – den Mitgliedern in Form einer Traktandenliste mitteilt. So können auch sie sich auf die GV genügend vorbereiten.
Für die meisten frisch gebackenen Vereinspräsidenten steht vorab eine Frage im Zentrum: Wie muss ich die Versammlung leiten? Wichtigster Grundsatz: sachlich und neutral. Sobald der Präsident die Generalversammlung formell eröffnet hat, ist er verantwortlich dafür, dass sie geordnet abläuft.
Um das sicherzustellen, kann der Vorsitzende Mitglieder zurechtweisen, die andere beleidigen oder die Diskussion stören. Stört jemand ununterbrochen, kann er auf Beschluss der GV sogar von der Versammlung ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt muss der Präsident dafür sorgen, dass alle Mitglieder ausreichend zu Wort kommen.
Doch vor der ersten Diskussion sollte der Vorsitzende einige Formalitäten erledigen. Zuallererst muss er die Anzahl der stimmberechtigten Mitglieder unter den Anwesenden feststellen. Wer von ihnen stimmberechtigt ist, ergibt sich aus den Statuten. In vielen Sportvereinen dürfen alle Aktivmitglieder abstimmen, die – je nachdem, wie das geregelt ist – mindestens 16 oder 18 Jahre alt sind. Passiv- oder Ehrenmitglieder haben oft nur beratende Stimme.
Im Zusammenhang mit dem Stimmrecht könnte Roland Studer auch mit der ersten Knacknuss konfrontiert werden: Wie soll er sich verhalten, wenn ein verhindertes Mitglied eine bevollmächtigte Drittperson an die GV schickt?
Massgebend, wie mit Bevollmächtigten umzugehen ist, sind die Statuten. Enthalten sie keine Bestimmungen, wonach eine Stellvertretung an der Versammlung zulässig ist, kommts auf die Vereinsübung an. Mit anderen Worten: Nur wenn die Stellvertretung einer langjährigen Praxis des Vereins entspricht, ist diese zulässig.
Es lohnt sich, die Frage der Stellvertretung vor der Versammlung abzuklären. Anhaltspunkte über die Vereinspraxis erhält Roland Studer in den Protokollen früherer Versammlungen. Oder notfalls mit einem Anruf bei seinem Vorgänger. In grösseren Vereinen ist es zudem empfehlenswert, wenn der Vorsitzende vorgängig Stimmenzähler wählen lässt. Das beschleunigt das Prozedere.
Sind alle Formalitäten erledigt, unterbreitet der Vorsitzende den Anwesenden das erste Geschäft – in der Regel ist dies die Genehmigung des Vorjahresprotokolls. Das Drehbuch für den weiteren Verlauf der Versammlung bildet die Traktandenliste. Sie bestimmt die Reihenfolge, in der die Geschäfte behandelt werden. Zu Beginn jedes Traktandums muss entweder der Vorsitzende oder ein Vorstandsmitglied die Versammlung über den Inhalt der Vorlage orientieren.
Danach beginnt die Debatte. Alle Stimmberechtigten haben ein Recht auf Wortmeldungen und dürfen Anträge stellen. Dabei geht es manchmal heftiger zu und her als in einem Parlament. Dann muss beziehungsweise sollte der Vorsitzende nicht tatenlos zusehen, wie die Diskussionen ausufern. Kommen keine neuen Standpunkte hinzu, kann er den Schluss der Debatte erklären. Noch besser ist es, gleich von Beginn weg eine Redezeitbeschränkung einzuführen – dies vor allem dann, wenn viele Stimmberechtigte zu Wort kommen wollen.
Aus der Debatte resultiert meistens eine Fülle verschiedenster Anträge. Daraus die definitive Abstimmung auszusondern, gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Vorsitzenden. Wichtigste Grundregel: ruhig Blut bewahren und sich einen Überblick über die Anträge verschaffen.
Zuerst wird über die Ordnungsanträge abgestimmt. Sie beziehen sich nur auf das Verfahren; ein Antrag verlangt zum Beispiel, die Abstimmung zu verschieben. Danach sind die Anträge zum Inhalt eines Traktandums – die sogenannten Sachanträge – an der Reihe. Zum Hauptantrag des Vorstands können Gegenanträge oder Abänderungsanträge gestellt werden.
In welcher Reihenfolge soll nun darüber abgestimmt werden? Als Vorlage für die Bereinigung der Anträge dient das «Cupsystem», wie es vor allem vom Fussball her bekannt ist. Zuerst lässt der Vorsitzende alle Abänderungsanträge gegeneinander antreten. Der siegreiche Antrag daraus trifft dann auf den Hauptantrag. Der Sieger aus dieser Abstimmung steht im «Final» gegen den Gegenantrag. Aufgepasst: Die Siegerehrung findet erst statt, nachdem der verbliebene Vorschlag in der Schlussabstimmung mit dem erforderlichen Stimmenmehr bestätigt wurde.
Aber wann gilt ein Antrag überhaupt als angenommen? Enthalten die Statuten keine Bestimmungen zu diesem Punkt, so kommt das ZGB zum Zug: «Die Vereinsbeschlüsse werden mit der Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder gefasst.» Sind also beispielsweise 78 stimmberechtigte Mitglieder anwesend, sind zu einem gültigen Beschluss mindestens 40 Stimmen nötig.
Nachdem alle Traktanden behandelt worden sind und sich die Gemüter wieder beruhigt haben, macht sich ein weiteres Vorstandsmitglied an die Arbeit: Der Protokollführer muss sämtliche Voten und Abstimmungen schriftlich festhalten. Darüber abgestimmt wird aber erst an der nächsten GV. Bis dahin spielt sich das Vereinsleben für Roland Studer wieder hauptsächlich auf dem Fussballplatz ab.