Sport: Kaputte Körper kosten Milliarden
Leistungswahn und exzessives Training fordern ihren Preis: 250'000 Sportverletztepro Jahr verursachen Gesundheitskosten von 1,8 Milliarden Franken- und die Zahl der Opfer nimmt rapide zu.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Wenn der Arm eines Fussballers vor der Weltmeisterschaft brichtund das Opfer Ike Shorunmu heisst, dann erfährt die Öffentlichkeitjedes Detail: «Beeindruckende Szenen» hätten sicham 8. Mai in der Kabine des FCZ abgespielt, nachdem der nigerianischeTorhüter vor der Halbzeitpause verunfallt war, berichteteder «Tages-Anzeiger». Shorunmu sei auf dem Boden gelegenund habe geweint. Keiner habe etwas gesagt, «es herrschtevöllige Stille».
Kein Wunder, interessierten sich die Journalisten für ShorunmusUnfall. Der 31jährige war der Wunschgoalie der nigerianischenWM-Nationalmannschaft. Sein Unfall war von Bedeutung, aber beileibenichts Aussergewöhnliches. Sportunfälle sind an derTagesordnung - nicht nur vor der WM und längst nicht nurim Fussball. Nur selten allerdings sorgen sie für Schlagzeilen.
«Sport ist gesund», sagt der Volksmund. Doch die Statistikender Unfallversicherungen zeigen ein ganz anderes Bild. Sicher:Niemand bestreitet, dass körperliche Ertüchtigung denKreislauf in Schuss hält, doch Leistungssport und Fitnesswellehaben eine teure Kehrseite. So registrierte die Sammelstelle fürdie Statistik der Unfallversicherung UVG (SSUV) allein fürdas Jahr 1996 nicht weniger als 147371 Sportunfälle mit Verletzungen.Und diese Zahl umfasst nur Personen, die UVG-versichert sind.Wenn Kinder, Studierende, Senioren sowie andere nicht berufstätigeMänner und Frauen beim Sport verunfallen, wird das statistischnicht erfasst.
170 Tote in einem Jahr
Die Schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung(bfu) versuchte, das effektive Unfallgeschehen für das Jahr1994 auf die Gesamtbevölkerung hochzurechnen. Das erschreckendeResultat: rund 245'000 Sportunfälle, 170 davon mit Todesfolge.Spitzenreiter ist der Fussballsport mit 70'000 Unfällen, gefolgtvom Alpinskifahren (52'000 Unfälle) und vom Wassersport (14'000).Beim Wassersport ereigneten sich sogar die meisten Todesfälle(70), dicht gefolgt vom Bergsport mit 60 Toten. 20 Menschen starbenbei Skiunfällen, 20 weitere bei anderen Sportarten.
Auf insgesamt 1,8 Milliarden Franken schätzt die bfu dievolkswirtschaftlichen Kosten der Sportunfälle. Das sind 1800Millionen Franken, die für Heilung, Wiedereingliederung,Produktionsausfälle, immaterielle Schäden (Genugtuungsleistungen)und anderes ausgegeben werden - und zwar jährlich! Zum Vergleich:Fachleute beziffern die volkswirtschaftlichen Schäden desRauchens mit 300 bis maximal 500 Millionen Franken pro Jahr. Unddies bei gleich vielen Akteuren: Rund ein Drittel der Bevölkerungraucht, rund ein Drittel treibt aktiv Sport.
Von solchen Zahlen spricht man in der fitnessbesessenen Gesellschaftnicht gerne. Oder die hohe Gesamtzahl von Sportunfällen wirdmit der Behauptung verharmlost, die meisten Unfälle verursachtennur Bagatellverletzungen ohne bleibende Folgen.
Junge belasten die Kassen
«Fünf Prozent der Unfälle verursachen 80 Prozent der Kosten»,bestätigt zwar Alois Isenegger von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt(Suva). Immerhin: Die bfu setzt in ihren Berechnungen pro Verletztendurchschnittlich 5900 Franken ein. Bei den Todesfällen musstendie Kosten mit zwei Millionen Franken pro Fall im Vergleich zuanderen Unfallarten sogar eher hoch angesetzt werden. Der Grund:Bei den Betroffenen handelt es sich meist um junge Menschen mitentsprechenden Karriere- und Lebenschancen.
Suva-Mann Alois Isenegger kennt das Problem Sportunfall nichtnur aus seiner beruflichen Tätigkeit. Er war bis vor kurzemauch Sekretär des Eidgenössischen Schwingerverbands.In dieser Sportart haben sich letztes Jahr gleich zwei schwereUnfälle ereignet. Im April 1997 brach sich der 19jährigeNachwuchsschwinger Daniel Rytz beim Basellandschaftlichen Kantonalenin Oberwil den fünften Halswirbel und ist seither querschnittgelähmt.Kaum hatten seine Kameraden am 1. August 1997 ein Benefizschwingenfür Rytz veranstaltet, traf es am kantonalen Jungschwingertagin Rotkreuz ZG den fast gleichaltrigen Toni Schillig. Auch erlandete mit Querschnittlähmung im Paraplegiker-Zentrum Nottwil.
Während Toni Schillig nicht über seinen Unfall sprechenmöchte, gibt sich Daniel Rytz optimistisch: «Meine Einstellungzum Sport hat sich durch den Unfall nicht geändert. Das kannimmer passieren, auch ausserhalb des Sports.» Bereits plantRytz eine zweite Sportkarriere - als Rennrollstuhlfahrer.
Immer mehr Schwerverletzte
Die Fälle Rytz und Schillig liegen leider im Trend: Sportunfällemit schwerwiegenden Folgen mehren sich. Das zeigen unter anderemdie Einsatzstatistiken der Schweizerischen Rettungsflugwacht (Rega).Besonders schlimm ist es im Winter: 1997 flog die Rega 847 schwerverletzteAlpinskifahrer und 290 Snowboarder von den Pisten in die Spitäler.Zwei Jahre zuvor waren es noch 653 Skifahrer und 133 Boarder.
Aber auch im Sommer zeigen die Unfallzahlen wieder steil nachoben. «Anfang der neunziger Jahre stieg die Zahl der Bergtotenrapide an», sagt Rega-Sprecher Roland Linder. Unter anderemeine Folge der Öffnung im Osten. Viele schlechtausgerüsteteBergsteiger aus den ehemaligen Ostblockstaaten bliesen zum Sturmauf die Gipfel. Inzwischen ist die Ausrüstung besser geworden.Roland Linder: «Das Bild vom Turnschuhkletterer am Matterhornstimmt nicht mehr.» Entsprechend ist die Zahl der Toten von149 (1991) auf 98 (1996) gesunken.
Der positive Trend erwies sich jedoch nur als Zwischenhoch. VerregnetesWetter im Juni und Juli sorgte im letzten Sommer für einerneutes Ansteigen der Bergunfälle. «Als es endlichschön wurde, setzte ein regelrechter Run auf die Berge ein»,sagt Linder. Mit verheerenden Folgen: 1997 starben in den SchweizerAlpen wieder 123 Menschen, 25 Prozent mehr als im Vorjahr.
Je nach Wetter steigt die Unfallgefahr auch bei ganz banalen Freizeitsportarten.Heisse Sommertage locken auch ungeübte Schwimmer ins kühleNass, während ein nasskalter Sommer mehr die Putz- als dieRettungskünste der Bademeister erfordert. Und wenn ein Grümpelturnierbei «durstigem Wetter» durchgeführt wird, straucheltmanch bierseliger Hobbykicker auch schon mal über die eigenenBeine.
Profis gehen voll auf Risiko
Lassen sich die Risiken für Sportunfälle noch mit nacktenZahlen illustrieren, so sieht das bei Langzeitschäden durchchronische Uberbeanspruchung und exzessives Training andersaus. Ein Opfer schleichender Körperschädigung ist derEx-Fussballprofi Dominique Herr, der 1996 nach einer glanzvollenKarriere als Topskorer der Nationalmannschaft die Fussballschuhean den Nagel hängen musste. Es begann mit starken Kopfschmerzen.Dann stellten sich Konzentrationsschwächen und gravierendeGedächtnislücken ein. Als Ursache des Leidens wurdendie vielen Kopfzusammenstösse in Luftkämpfen lokalisiert.«Ich bin invalid», sagt der 33jährige heute.
Dennoch hat sich auch Dominique Herrs Einstellung zum Sport nichtgenerell geändert. «Als Spitzensportler muss man Risikenin Kauf nehmen. Wer sich davor scheut, hat keine Chancen, nachoben zu kommen.» Es sei es sehr heikel, zu Verletzungen zustehen: «Man steht unter dem enormen Druck, schnell wiederfit zu sein. Schliesslich will man ja nicht seinen Stammplatzin der Mannschaft verlieren.»
Als prominenter Spitzensportler mit ernsthaften gesundheitlichenProblemen steht Herr nicht allein da. Er weiss von einigen Kollegen,die ebenfalls kurz vor dem erzwungenen Rücktritt stehen.Vor ihm erwischte es die FCZ-Legende Rene Botteron mitähnlichen Problemen. Im Tennis kämpft Steffi Graf verbissenmit ihrem malträtierten Knie. Radprofi Alex Zülle ignoriertseine vielen sturzbedingten Schlüsselbeinbrüche vorderhandnoch erfolgreich: Am diesjährigen Giro d'Italia starteteer als Leader. Bei all diesen Fällen ist zwar nicht ein einzelnesEreignis die Ursache der Gesundheitsprobleme. Sicher ist aber,dass sie vom Sport herrühren.
Das ist beileibe nicht immer der Fall. Ueli Müller, Präsidentdes Konkordats der Schweizerischen Krankenversicherer: «Wenneiner mit 60 ein neues Kniegelenk braucht, so kann man nicht mehreruieren, ob die Abnützung von der Arbeit oder vom Sportherrührt.» Solche Fälle werden auch in keiner Statistiküber Sportverletzungen erfasst. Auch versicherungsmässighandelt es sich in solchen Fällen um Krankheiten, die vonden Krankenkassen bezahlt werden müssen, und nicht um Nichtberufsunfälle,die von Unfallversicherungen gedeckt sind.
«Wir besitzen keinerlei Zahlenmaterial über das Ausmassvon Spätschäden des Sports», bedauert Ueli Müller.«Dennoch wissen wir, dass Sport ein wesentlicher Faktor beider Prämienexplosion ist.» Müller macht eine einfacheRechnung: «Sporttreibende sind zwar insofern gesünder,als sie eher älter werden als Nichtsportler. Aber sie müssenauch häufiger repariert werden.»
Mittlerweile befasst sich auch die Sportmedizin vermehrt mit nichtunfallbedingten Gesundheitsrisiken des Sports. Dass Uberbeanspruchungvor allem in Ausdauersportarten wie Krafttraining, Aerobic oderMarathonlauf auf die Dauer schädlich ist und zudem das Leistungsniveaueher senkt als hebt, ist zwar seit langem bekannt. Besser erforschtsind heute aber die konkreten Auswirkungen von Ubertrainingauf den Organismus.
So zählt der deutsche Sportmediziner Ludwig V. Geiger, Verbandsarztim bayerischen und deutschen Skiverband, in seinem Buch «Uberlastungsschädenim Sport» viele Fakten an, die zu denken geben. Ubertrainingführe, so Geiger, zu Fehlfunktionen des Muskel-Energie- unddes Herz-Lungen-Systems. Die Folgen: Muskelschwäche, Krampferscheinungen,Koordinationsstörungen, hormonelle Verschiebungen, Neigungzu Kollapszuständen, Hyperventilation.
Durch extremes Training kann sogar das Immunsystem geschädigtwerden. Ludwig V. Geiger weist nach, dass die bei vielen Spitzenathletenbeobachtete Neigung zu hartnäckigen Infektionen der oberenLuftwege auf dieses sogenannte Immunsuppressionssyndrom zurückzuführenist. Während erwartet werden darf, dass sich solche wissenschaftlichenErkenntnisse auf die Betreuung von in Vereinen oder Verbändenorganisierten Spitzensportlern und -sportlerinnen auswirken, dürftees noch lange dauern, bis sie auch den Weg in den Breitensportfinden. Exzessives Training ist voll im Trend und vor allem inder Fitnessszene oft die tragende Philosophie.
Vom Fitnessstar zum Wrack
Selbst prominente Vorbilder der Fitnesskultur, die bereits demSpitzensport zuzurechnen sind, senden in dieser Hinsicht unklareSignale an ihre Anhängerschaft. So bekannte zwar die SchweizerFitness-Queen Tanja Baumann gegenüber der «Weltwoche»:«Ich bin ein Wrack.» Jahrelang hatte sie alle Warnzeichenüberhört, bis sie das Training reduzieren musste. Fastgleichzeitig erschien aber in der «Schweizer Illustrierten»ein Interview mit Baumann. Darin antwortet sie auf die Frage,warum sie täglich drei bis vier Stunden trainiere: «MeinTraining gibt mir Kraft und ein gesteigertes Selbstwertgefühl;die dabei ausgeschütteten Endorphine werden nicht umsonstGlückshormone genannt.»
Dass Aerobic Suchtpotential hat, gilt heute als eine Tatsache- besonders wenn der Sport mit einer Neigung zur Magersucht einhergeht.Verletzungen sind nicht selten eine direkte Folge von Uberbeanspruchungim Training. So kommt es oft zu Ermüdungsbrüchen, dieauf eine hormonell bedingte Veränderung der Feinstrukturund Dichte der Knochen zurückzuführen sind.
Ubrigens: Hin und wieder erfährt die Öffentlichkeitauch von Sportunfällen, die nichts mit Prominenten und nichtsmit Fussball zu tun haben. Ein solcher Unfall ereignete sich diesenFrühling im italienischen Siena. Ein leitender Bankangestelltererklomm als «Batman» verkleidet seine Schlafzimmerkommode,um von dort auf seine ans Bett gefesselte Geliebte zu springen.Der sportliche Liebhaber verfehlte sein Ziel, brach sich beimAufprall auf dem Fussboden einen Arm und wurde ohnmächtig.