An diesem Montagmittag ist im 100-Seelen-Dorf Rossa weit hinten im Calancatal nur das Sprudeln des Flusses zu hören. Auf der Terrasse des Ristorante Alpino sitzt niemand. Drinnen ist nur ein Vorraum geöffnet, mit einer Theke und einem einzigen Tisch, über dem ein Wachstuch liegt. Im italienischen Fernsehen werben Verkäuferinnen für Antifaltencremes. Die Besitzerin des Restaurants macht Feuer im Kamin.

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«Heute ist es kühl», sagt Renata Zanardi. «Niemand kommt ins Dorf bei diesem Wetter.» Zanardi geht hinter die Theke und nimmt die Kaffeemaschine in Betrieb. Angestellte könne sie sich keine leisten, sagt die Wirtin. Und sowieso, wenn es so weitergehe, müsse sie bald schliessen.

Frau Zanardi, sind Sie für oder gegen den geplanten Nationalpark?

«Ich weiss nicht. Vielleicht kommen ja dann mehr Touristen ins Tal.»

Vier Kilometer weiter hinter Rossa, zwei Kilometer nach dem letzten Weiler Valbella, dem schönen Tal. 2000 Meter hohe Flanken mit felsdurchsetztem Wald, ein Fluss, ein Weg, sonst ist da nichts.

Nichts? Plötzlich meint man, Stimmen zu vernehmen. Gemurmel. Schreie. Doch die Geräusche stammen nicht von Menschen, sondern vom Fluss, der sich im Talgrund durch rohe Felsblöcke zwängt. In den Tannen macht eine ganze Meisenfamilie Radau. Am Wegrand blühen Graslilien, Türkenbund. Eine Smaragdeidechse verschwindet im Unterholz.

Die Natur erscheint allmächtig. Der Mensch spielt an diesem Ort, zuhinterst im Calancatal, keine Rolle.

Quelle: Raffael Waldner

Hier beginnt die Kernzone des Parc Adula. Er wäre der zweite Nationalpark der Schweiz und befindet sich derzeit in der Errichtungsphase. Man schaut hinauf in die Felsflanken, in den «Nucleo» des Parks in spe, und wer auf dem steilen Pfad nun weitergehen würde, stünde irgendwann direkt unter den Schneebergen: unter dem unscheinbaren Puntone dei Fracion, 3202 Meter hoch, dem vergletscherten Zapporthorn, 3152 Meter, oder dem berühmten Piz Adula, 3402 Meter, der dem Park den Namen gegeben hat. Hochgebirge, nichts für Turnschuhtouristen.

Auf einer Fläche von über 1000 Quadratkilometern, das entspricht rund dem Sechsfachen des Engadiner Nationalparks, würde sich der Parc Adula erstrecken. Die Region liegt eingebettet zwischen Lukmanier- und San-Bernardino-Pass. 20 Prozent sollen aus der geschützten Kernzone Greinaebene, aus Kuhalpen und Gletscherbergen bestehen. Der Rest wäre die sogenannte Umgebungszone mit den Dörfern und Strassen, wo die Menschen weiterhin leben und wirtschaften könnten.

Die Frage ist: Wollen die Bewohner der Region den neuen Park überhaupt? Werden sie 2015 definitiv für oder gegen den Park stimmen, in den Dörfern des Calancatals, des Bleniotals, der Surselva, des Hinterrheintals?

Rodolfo Keller kann dem Projekt noch nicht viel abgewinnen. Der 71-Jährige ist Sindaco, Gemeindepräsident von Arvigo-Landarenca. Er besitzt ein einfaches Restaurant im Weiler Landarenca. Das Dörfchen aus Stein- und Holzhäusern liegt auf einer Sonnenterrasse inmitten von Wiesen und Wald. Man erreicht es nur zu Fuss oder per Seilbähnchen von Selma aus; vier Franken kostet die Fahrt. Rodolfo Keller sitzt an einem der wenigen Tische in seinem Ristorante, an den Wänden hängen historische Fotos aus dem Tal, draussen regnet es.

Herr Keller, die Natur hier im Calancatal ist atemberaubend.

«Ja, aber die Natur gibt den Menschen auch keine Arbeitsplätze.»

Rodolfo Keller war 24 Jahre lang Gemeindepräsident von Illnau-Effretikon, einer Stadt mit 15'000 Einwohnern, und sass für die Sozialdemokraten im Zürcher Kantonsrat. «Irgendwann merkte ich, dass ich wegmusste, dass ich mich nach einem anderen Leben sehnte.» Also kaufte er sich das Haus im Calancatal. Vor elf Jahren siedelte er um, lernte den Dialekt, politisierte mit den Einheimischen. 2009 wurde er zum zweiten Mal zum Gemeindepräsidenten gewählt. Diesmal sogar einstimmig.

«Das Restaurant führe ich sozusagen als Hobby», sagt Rodolfo Keller. «Von einem Restaurant allein zu leben ist in diesem Tal heute aussichtslos.»

Noch vor 30 Jahren sei es anders gewesen, so Keller. Damals gab es im Calancatal mehr Bauernbetriebe, mehr Kinder, mehr Restaurants. «Aber seit einiger Zeit dreht sich einmal mehr diese Negativspirale.» Die Jungen wandern aus, um anderswo eine Arbeit zu finden. Die Bauern geben auf. Die Beizen schliessen.

Zurück bleiben leere Dörfer. Verlassene Alpen. Wald statt Wiesen. Stallruinen. Zurück bleibt diese Lethargie inmitten einer traumhaft schönen Landschaft.

«Heute haben wir im ganzen Tal nur noch 14 Bauern», sagt Rodolfo Keller. Zwei winzige Lebensmittelläden gibt es noch. Keine Post, keinen Arzt, keinen Bäcker, keinen Coiffeur. Das Postauto fährt siebenmal pro Tag vom Misox ins Tal, das letzte um halb sieben. 800 Menschen leben heute im Valle Calanca, im 17. Jahrhundert waren es noch über 3000.

Und der geplante Nationalpark, Herr Keller? Wird der neuen Schwung bringen?

«Ich bin skeptisch», gibt der Sindaco zu. «Denn ich glaube nicht, dass der Park uns besonders weiterbringt.»

Was Keller vor allem stört: dass man sich heute «eher um die Tiere und Pflanzen kümmert als um die Bauern im Tal». Die Natur sei ja längst geschützt. Aber die Bauern, die kämpften ums Überleben. Man sei daran, die ganze Kultur des Tals zu verlieren, seine Identität. «Das sind die echten Probleme hier, nicht ein neuer Nationalpark.»

Die Idee zum Parc Adula entstand im Jahr 2000. Pro Natura versprach damals jeder Region, die einen Nationalpark gründen wollte, eine Million Franken. Mehrere Projekte scheiterten, zwei sind noch im Rennen: der «Parco nazionale del Locarnese» rund um das Maggiatal und der Parc Adula rund um die Greinaebene und das Rheinwaldhorn. Das Projekt des Parc Adula ist bereits weit fortgeschritten: Alle 20 beteiligten Gemeinden haben den Segen dazu gegeben, das Vorhaben weiterzuverfolgen. 2015 sollen die letzten Abstimmungen erfolgen, darauf soll der Park eröffnet werden.

Bloss: Die Jäger denken, sie könnten dann nicht mehr jagen. Einige Bauern haben Angst, sie könnten mit ihren Tieren nicht mehr auf die Alp ziehen. Strahler wollen auch in Zukunft nach Kristallen suchen. Fischer glauben, sie könnten nicht mehr fischen. Und viele denken, der Park werde der Region nicht viel bringen – ausser Spesen.

«Neue Ideen hatten es hier schon immer schwer», sagt Rodolfo Keller. «Vor allem, wenn sie von aussen kamen.»

Auf dem Kirchendach von Arvigo hockt ein Gartenrotschwanz, unermüdlich singt er sein Lied. An der Dorfgasse sitzt ein Mann in Arbeitshose und nippt an einer Weinflasche. Mehrere Häuser stehen hier zum Verkauf, andere wurden zu Ferienhäusern umgebaut, ihre Fensterläden sind geschlossen. Im Lebensmittelladen wartet eine junge Frau auf Kundschaft. Zu kaufen gibt es nicht viel mehr als eine Packung Waschmittel, drei Beutel Kartoffelchips, vier Zitronen, ein wenig eingeschweisstes Fleisch.

Das Postauto spuckt zwei Wanderer aus, die das schöne Tal bewundern kommen, die schmucken Rustici, die Geranien, die Wasserfälle, die Eidechsen und die schwarzen Schlangen. Sie suchen den gelben Wegweiser und entschwinden am Laden vorbei in Richtung Höhenweg.

Wird der Park das Calancatal aus dem Dornröschenschlaf wecken, Herr Quarenghi?

Stefano Quarenghi, 38, Rossschwanz, Jeans, Adidas-Turnschuhe, lacht. «Genau das ist das langfristige Ziel.»

Quarenghi ist Direktor des Parc-Adula-Projekts. Sein Büro ist in einer Wohnung eingerichtet, in einem Neubau in Roveredo, am Eingang des Calancatals. Die Küche dient als Besprechungszimmer, es riecht nach Farbe.

Der Nationalpark solle eine sozioökonomische Entwicklung anstossen, sagt Quarenghi in schönstem Akademikerdeutsch. «Dank dem Park werden mehr Touristen kommen. Und man kann die Produkte besser vermarkten, sie mit einem Adula-Label versehen.»

Er habe die Leier x-mal gehört: Wir haben nichts! Wir können doch hier nichts tun! Dabei gebe es doch Möglichkeiten. Man könne einen Agrotourismus aufbauen. Seminarhotels eröffnen. Kurse und Wanderungen durchführen. Survivalcamps für gestresste Manager anbieten. «Die schöne Natur ist Kapital!»

Stefano Quarenghi weiss, wie man Leute überzeugt. Seit einem Jahr ist er für den Aufbau des Parc Adula zuständig, vorher war er Elektroingenieur und als Entwicklungshelfer in Kolumbien tätig.

Und die Jäger, Bauern und Fischer, Herr Quarenghi, wie bringen Sie die auf Ihre Seite?

«Indem wir ihnen erklären, dass ihre Ängste unbegründet sind.» Der Parc Adula sei schliesslich kein Totalreservat wie der Nationalpark im Engadin, er habe ein moderneres Konzept. In der Umgebungszone, in der alle Dörfer liegen, gäbe es keine neuen Gesetze. Nur in der Kernzone habe die Natur Vorrang. Aber diese Zone liege ja im Hochgebirge und sei schon heute in mehrere Jagdbanngebiete eingeteilt.

«Für die Jäger ändert sich daher nicht viel. Und die Bauern dürfen ihre Tiere weiter auf die Alpen treiben, solange die Bewirtschaftung nachhaltig ist.»

Bleibt die Frage, wie denn die Natur profitieren kann – wenn doch fast alles beim Alten bleibt.

Stefano Quarenghi legt die Hände auf den Tisch. «Die Kernzone bleibt so, wie sie jetzt ist», sagt er. Ohne den Park hingegen könne vieles passieren. «Wer weiss schon, was in 30 Jahren geschieht?» Vor zehn Jahren habe es auch auf der Greina noch viel weniger Besucher gegeben. «Heute sind es ja 19'000 Besucher pro Jahr, allein in den Sommermonaten.»

Zudem, sagt der Direktor, seien vor allem in der Umgebungszone Projekte vorgesehen. «Wir wollen die Verwaldung bremsen, die Artenvielfalt stärken.»

Letzte Frage, Herr Quarenghi. Wird das Parkprojekt 2015 in den Gemeinden angenommen?

«Davon gehe ich aus. Mindestens die Hälfte der Leute ist schon dafür. Die anderen müssen wir nur noch besser informieren.»

Später am Nachmittag steht kurz nach Bodio eine Herde Ziegen auf der Strasse. Es sind Tiere der seltenen und gefährdeten Rasse Capra Grigia, Bergziegen mit Glöcklein und einem Fell so silbern wie der Gneis aus dem Calancatal. Inmitten der Ziegen steht eine kleine Frau, Dorothea Rigonalli. Die Bauersfrau lädt zum Kräutertee ein.

Frau Rigonalli, wie überlebt man als Bäuerin in diesem Tal?

«Wenn man motiviert ist und viel ‹chrampft›, schafft man es.»

Dorothea Rigonalli sitzt in der Küche ihres Biohofs. Sie lebt seit 33 Jahren im Calancatal. Als junge Pfadfinderin nahm sie hier an Kursen teil. Dann lernte sie einen einheimischen Landwirt kennen. Sie beschloss zu bleiben und zu bauern.

«Es war nicht immer einfach», sagt sie. Nicht nur die Steilheit des Tals habe ihr manchmal Mühe bereitet. Sondern auch die Mentalität der Einheimischen. «Gemeinsame Projekte durchzuführen wäre früher unmöglich gewesen.» Oft spürte sie auch Neid. Neid auf eine Bauersfamilie, die vieles anders machte und damit erstaunlich erfolgreich war. Doch bald wurde Dorothea Rigonallis Mann schwer krank – so schwer, dass die Frau den Hof allein führen musste.

Drei kleine Kinder hatte sie zu betreuen, dazu 80 Ziegen, 10 Kühe sowie Schweine und Hühner. Im Frühling stiegen alle zusammen hinauf zum Maiensäss, im Sommer weiter auf die Alp. Die Bäuerin mähte 15 Hektar Wiesen. Sie molk ihre Ziegen und Kühe von Hand. Sie verarbeitete die Milch zu Käse und trug die Laibe ins Tal. «Manchmal fragte ich mich schon, was mich so packte an diesem Tal, dass ich all diese Schwierigkeiten auf mich nahm.»

Rigonalli lernte, ihre Produkte zu verkaufen. Nach Zürich Ziegenkäse für das trendige Volkshaus und Kalbfleisch für ein Delikatessengeschäft, im Calancatal Brot für die Pfadilager. Irgendwann baute sie einen Laufstall, dazu ein einfaches neues Wohnhaus. Und bald will sie zusammen mit anderen Bauern ein Molkerei- und Käsereigeschäft ins Leben rufen. Es wird die erste Gemeinschaftsmolkerei im Tal sein. «Bis jetzt», sagt sie und lacht, «hat hier jeder Bauer seinen Käse selber gemacht.»

Braucht es den Nationalpark, Frau Rigonalli?

«Ja, denn sonst leben dereinst nur noch einige wenige Unentwegte im Tal.»

Sie meint wohl: Unentwegte wie sie selbst. Leute, die sich wie sie in das steile Tal verliebt haben und nicht mehr wegwollen.

«Natürlich hat der Nationalpark grosses Potential», sagt die Bäuerin. Und vielleicht sei der Parc Adula ja tatsächlich ein Mittel gegen die alpine Brache. Vielleicht führe er auch zu mehr Zukunftsvisionen und zu mehr Enthusiasmus und Gemeinschaftssinn in der Region.

Dorothea Rigonalli steht auf, um nach den Ziegen zu schauen, und sagt noch: «Wenn wir den Nationalpark nicht wollen, was wollen wir dann?»

Auf die Alp de Naucal
Das Calancatal ist ein Eldorado für Wanderer. Vor allem Liebhaber anspruchsvoller, langer Wanderungen in steilem Gebirge kommen auf ihre Kosten. Besonders beliebt ist der Sentiero Alpino vom San-Bernardino-Pass bis nach Santa Maria (drei Tage). Auch wer es gerne etwas gemütlicher nimmt, findet etliche attraktive Routen, etwa die Wanderung von Santa Domenica über die Alp de Naucal nach Valbella und weiter nach Rossa (fünfeinhalb Stunden, siehe Karte). Alternativ bietet sich ein Abstieg direkt nach Rossa an, der die Wanderung um eine Stunde verkürzt. Die Wege sind meist gut, gegen Ende stellenweise undeutlich. Es sind Auf- und Abstiege von je 850 Metern zu meistern. Eine genaue Karte (Blatt 1274, Mesocco) gehört ins Gepäck. Details im Wanderführer «Val Calanca» (siehe unten).

Klicken Sie auf die Karte, um sie zu vergrössern

Quelle: Raffael Waldner

Anreise
Das Calancatal vereinigt sich im Süden mit dem Misox. Man erreicht es via San-Bernardino-Route oder per Bus ab Bellinzona mit Umsteigen in Grono.

Übernachten
Hotel-Restaurant La Cascata: herrschaftliches Haus, schöne Zimmer, gute italienische Küche, preiswert (montags geschlossen). Albergo La Cascata, Augio, Tel. 091 828 13 12; www.lacascata.ch

Weitere günstige Hotels:


Buchtipps

Ueli Hintermeister und Silvia Fantacci: «Val Calanca. 21 Wanderungen in einem ursprünglichen Südalpental»; Rotpunktverlag, 2009, 296 Seiten, CHF 39.90 – Guter Wanderführer mit vielen Hintergrundinformationen.

Rodolfo Keller und Giuseppe Russomanno: «Ecco … la Valle Calanca. Calancatal»; it./dt., Edizioni CalancaViva, 2011, 72 Seiten. Gratis erhältlich in der Bottega Vecchia Posta in Cauco. Download: www.landarenca.ch/...

Links
Infos zum Calancatal:
www.calanca.ch
www.moesano.ch

Parc Adula:
www.parcadula.ch