Pack die Nähmaschine aus
In Schweizer Stuben rattern wieder die Nähmaschinen: Immer mehr junge Frauen entdecken das alte Handwerk neu.
Veröffentlicht am 16. September 2013 - 13:52 Uhr
Warum ausgerechnet ein Geschäft für Nähbedarf? Und ihr seid doch auch schon Mitte 50, und da fangt ihr nochmals von vorne an? – Solche Fragen mussten sich Irène Kissling und Maya Morf anhören, als sie vor zwei Jahren ein Stoffgeschäft samt Nähatelier in Nürensdorf ZH eröffneten.
Heute können die beiden herzlich lachen über die Zweifler von damals. Die Heilpädagogin und die Klavierlehrerin hatten mit ihrer Geschäftsidee nämlich den richtigen Riecher. Gerade erlebt die Do-it-yourself-Szene einen Boom. Neben dem Stricken und dem Häkeln hat sich ausgerechnet das Nähen, das lange Zeit als altbacken galt, binnen kurzer Zeit zum Trend entwickelt. Vor allem jüngere Frauen entdecken das Arbeiten mit Nadel und Faden für sich.
Das spürt auch der Schweizer Nähmaschinenhersteller Bernina: «Wir waren 2012 auf dem Heimmarkt so erfolgreich wie seit Jahren nicht mehr», sagt Sprecher Matthias Fluri. Die neue Lust am Nähen sei übrigens nicht auf die Schweiz beschränkt. Trotz dem anhaltend hohen Franken schaffte es die Firma, den Umsatz im ersten Halbjahr 2013 um zehn Prozent zu steigern.
Fluri spricht von einem Generationenwechsel: «Neue Näherinnen haben einen kreativeren Zugang als ihre Vorgängerinnen.» Es gehe kaum noch darum, Hemdsärmel zu kürzen oder Hosen zu flicken. Heute werden Unikate hergestellt: Kinderkleider, Patchworktaschen, Modeartikel.
Dazu passt, dass Bernina doppelt so viele Zugriffe auf die kreativen Inhalte ihrer Homepage verzeichnet als noch vor zwei Jahren. Kostenlose Schnittmuster und Anleitungen zum Herunterladen sind besonders begehrt. Ebenfalls gut laufen Nähcomputer, mit denen frau nicht nur nähen, sondern auch sticken kann.
Die meisten Arbeiten können aber problemlos mit einem Standardmodell bewältigt werden. In vielen Haushalten steht noch eine mechanische Nähmaschine, die nun aus ihrem teils jahrzehntelangen Dornröschenschlaf wachgeküsst wird. Die Handgriffe sind unverändert: Oberfaden einfädeln, Spulenkapsel einsetzen, Stichart festlegen, Stoff unters Nähfüsschen klemmen, Pedal drücken – und los gehts. Es gibt Näherinnen, die behaupten, das Rattern der Maschine beruhige sie. Andere verzichten lieber auf die Geräuschkulisse. Sie greifen von Hand zu Nadel und Faden.
Was die Näherinnen eint, ist die Liebe zum Stoff. Farben, Muster, Strukturen – alles wird mit Sorgfalt aufeinander abgestimmt. Um ihren Kundinnen ein möglichst vielfältiges Spektrum bieten zu können, fliegen die Jungunternehmerinnen Irène Kissling und Maya Morf jedes Jahr nach Texas zur wichtigsten Stoffmesse. Dort kaufen sie jene Stoffmuster ein, die sie in ihrem loftartigen Laden präsentieren möchten. «Die Schweizerinnen mögen es tendenziell weniger bunt als ihre amerikanischen Kolleginnen», erzählt Kissling, die längere Zeit in den USA lebte. Obwohl es «die» Schweizer Kundin gar nicht gebe. Gerade jüngere Frauen hätten Spass an leuchtenden Farben.
Früher nähten viele Frauen, weil Mode von der Stange vergleichsweise teuer war. Heute ist es umgekehrt: Ein in Massen produziertes T-Shirt aus Fernost ist für wenige Franken zu haben, ein handgearbeitetes aber kostet ein Vielfaches. Wer selbst Hand anlegt, muss tief in die Tasche greifen: In der Schweiz zahlt man für den Meter Baumwollstoff mindestens zehn Franken. Im Durchschnitt legen Kundinnen aber das Doppelte hin. Elastische Jerseystoffe sind ab 25 Franken pro Meter zu haben. Neben dem Stoff braucht die Hobbynäherin Zubehör. Ganz zu schweigen von Hilfsmitteln wie Stecknadeln, Kreide, Schere und passenden Schnittmustern. Mit anderen Worten: Nähen ist ein kostspieliges Hobby.
Obwohl man in der Schweiz alle Waren erhält, fahren viele Näherinnen ins Ausland, um sich dort mit Stoffen und Mercerie einzudecken. Besonders beliebt ist der «Stoffmarkt Holland». So heisst ein Verbund von Stoff- und Kurzwarenhändlern, der durch Deutschland tourt. Jedes Wochenende gastiert die Wandermesse mit rund 140 Ständen in einer anderen Stadt, unter anderem in Freiburg im Breisgau.
«Wenn wir dort Station machen, überrennen uns die Schweizer Kundinnen förmlich», sagt Sprecherin Eva Gall. «Ein Gastspiel in der Schweiz wäre aus rechtlichen und organisatorischen Gründen für unsere Händler aber kaum zu bewältigen, deshalb haben wir nach zusätzlichen Gaststädten in Grenznähe gesucht.» Mit Erfolg: Diesen Herbst kommen die fahrenden Händler nach Weil am Rhein und nach Rheinfelden.
Die Kritiker des «Stoffmarkts» mäkeln, ein Teil der angebotenen Ware stamme aus Fernost. Bei Preisen von teilweise weniger als fünf Euro pro Meter Baumwollstoff bleibt kaum eine andere Erklärung. Ein Grossteil der Waren ist jedoch kaum günstiger als in der Schweiz. Die meisten Besucherinnen kommen darum nicht wegen der Schnäppchen, sondern wegen der Auswahl. Auf dem «Stoffmarkt» spielen Beratung und Service eine untergeordnete Rolle. Laut Eva Gall kaufen die Schweizerinnen oft grosse Mengen ein und sind dabei qualitäts- und trendbewusst.
Wenn in einem vielbeachteten Do-it-yourself-Blog steht, Stoffe mit Eulenmotiven seien der letzte Schrei, dauert es nicht lange, und viele Näherinnen verlangen nach Eulenmustern. Ausserdem sind gerade geblümte skandinavische Tilda-Stoffe und besonders kleingemusterte Dessins gefragt. Seit mit DaWanda.com oder Etsy.de grosse Verkaufsplattformen für Selbstgemachtes entstanden sind, kann jeder seine Werke im Internet anbieten.
DaWanda hat seit der Gründung vor sieben Jahren eine stetig wachsende Fangemeinde. Für Schweizer Käufer und Verkäufer ist das Portal nur bedingt interessant: Wer Handarbeiten ordert, zahlt zwar den geringeren Europreis, muss aber mit hohen Porto- und Zollgebühren rechnen. Umgekehrt gilt: Selbstgenähtes made in Switzerland kann im Euroraum kaum gewinnbringend verkauft werden. Nach Angaben von DaWanda bieten zwar 220 000 Hersteller ihre Waren an, aber nur ein Prozent ist von der Schweiz aus aktiv. Das ist mit ein Grund, dass man momentan keinen Schweizer Ableger aufbaut. Kleinere einheimische Do-it-yourself-Portale wie Handundkunst.ch versuchen, diese Nische zu besetzen.
Die Nachfrage nach Nähkursen ist grösser geworden. Nicht selten füllen sich angebotene Workshops wie von Geisterhand. In den Kursen geht es oft nicht mehr darum, nähen zu lernen. Das können die meisten Teilnehmerinnen bereits, Hauswirtschaftsunterricht sei Dank. Heute will man sich eher in geselligem Rahmen mit Gleichgesinnten austauschen und dabei allenfalls die Technik verfeinern. Bei Maya Morf und Irène Kissling vom Nürensdorfer «Quiltplace» etwa finden «Ufo»-Abende für Quilterinnen statt. «Ufo» steht dabei für unfertige Objekte. Vielleicht motiviert ja das Treffen mit Gleichgesinnten, die Projekte abzuschliessen.
Patchwork: Stoffstücke (Patches) von verschiedenen Farben, Formen und Mustern werden zu einer grossen Fläche zusammengenäht.
Quilt: Ein Quilt (Steppdecke) besteht in der Regel aus einem Top (verzierte Seite), das oft gepatcht ist, aus einem Volumenvlies und aus einer Rückseite. Beim Quilten werden die Textilschichten mit Zierstichen verbunden. Traditionell wird von Hand gequiltet.
Stoffe und Quiltzubehör:
www.thequiltplace.ch
www.cotton-color.com
Kinderstoffe:
www.yucami-kinderstoffe.com
www.lottiswelt.ch
www.urmeli.ch
Handarbeiten kaufen und verkaufen:
www.dawanda.com
www.handundkunst.ch
«Stoffmarkt Holland»:
Weil am Rhein: 28. September, 10 bis 17 Uhr; Freiburg im Breisgau: 16. November, 10 bis 17 Uhr; Rheinfelden: 17. November, 11 bis 17 Uhr