Volles Rohr gegen Lawinen
Wer Ski fährt, kommt ohne sie nicht aus: Patrouilleure sprengen Lawinen los, bevor diese jemanden gefährden. Unterwegs mit dem Pisten- und Rettungsdienst des Davoser Jakobshorns.
Veröffentlicht am 20. Januar 2009 - 08:42 Uhr
Nur in der Gondel brennt Licht, draussen ist noch schwarze Nacht. 6.30 Uhr in der Jakobshornbahn. Es schneit ein wenig, die Temperatur ist erträglich, minus sechs Grad. 30 Zentimeter Neuschnee sind prognostiziert. Plötzlich öffnet Rettungschef Vali Meier das Fenster und schmeisst eine Sprengladung in den Steilhang. 90 Sekunden später knallt es, Schwefelgeruch macht sich breit. Die Gondel fährt weiter. Fast alle Patrouilleure haben Ohrenschäden.
Zwei Tonnen Sprengstoff werden pro Saison zur Sicherung des Skigebiets Davos-Klosters und des Flüelapasses verpulvert – rund 50 Ladungen pro Tag. Eine teure Sache: 15 Franken kostet eine Handsprengung, eine Helikopterladung 36 und eine Rakrohrladung gar 127 Franken. Und die Zahl der Sprengungen nimmt zu, da Haftungsfragen immer wichtiger werden. Bauchgefühl und Erfahrungswerte der Patrouilleure zählen nicht mehr – nur eine Testsprengung kann belegen, dass das Sicherheitsdispositiv eingehalten wurde.
Vali Meier erzählt ein Beispiel: Letzten Winter starb ein Mann am Zermatter Rothorn – eine Lawine hatte die Skipiste verschüttet. Untersucht wird zurzeit, ob die Piste hätte gesperrt werden müssen. Verantworten müssen sich die Bergbahnen Zermatt und damit ihr Patrouillenteam, das für die Pistensicherheit zuständig ist. «Die Verantwortung macht uns schon zu schaffen. Wir müssen das ganze Einzugsgebiet des Jakobshorns so sichern, dass es begehbar ist.» Also auch Hänge ausserhalb des eigentlichen Skigebiets. Mit der Zunahme des Variantenfahrens werde das immer wichtiger, so Meier. Durchschnittlich 25 Menschen sterben in der Schweiz jährlich in Lawinen.
Patrouilleur Emil Pleisch, seit 42 Saisons dabei, bringt die Gondel zum Stillstand. Hier oben auf dem Jakobshorn, 2590 Meter über Meer, befindet sich die Einsatzzentrale des Pisten- und Rettungsdienstes samt Sprengstoffmagazin. Heute sind neben Vali Meier, gelernter Zimmermann, und Emil Pleisch die Patrouilleure Nic Konrad, Bauer, und die junge Miriam Grämiger dabei. Und Grämigers Hund Yuri, das Maskottchen des Teams, ein Yorkshireterrier.
Grämiger verteilt Pamirs, die Original-Gehörschutze der Schweizer Armee. Die 29-Jährige ist die einzige Frau im Team und hat letztes Jahr den Lawinensprengkurs mit Bestnote absolviert. Dies ist ihre vierte Saison als Patrouilleurin, in einem Berufsstand, der immer noch fest in Männerhand ist. «Eine gute Abwechslung zum Geburtssaal», lacht sie, die jeweils im Sommerhalbjahr im Spital Einsiedeln als Hebamme arbeitet. Sie schiebt sich das kurze blonde Haar aus dem Gesicht, setzt den Helm auf, und los geht es Richtung Jatzhütte, wo am Fuss des Jatzhorns die felsigen Hänge gesprengt werden müssen. Von hier startet eine Abfahrtsroute ins Sertigtal, eine markierte, aber nicht präparierte und nicht kontrollierte Piste. Vali Meier schiesst mit dem Rakrohr, das in der Armee zur Panzerabwehr eingesetzt wird. «Eins, zwei, Feuer!» Ein mächtiger Feuerball und ein starker Rückschlag. Meier lacht: «Das macht mir nichts mehr.» Nur die verbrannten Härchen am Arm seien etwas mühsam. Eine kleine Lawine löst sich vom Felshang. «Viel weniger Schnee als erwartet», sind sich Grämiger und Meier einig. Viel zu tun in Sachen Sprengungen gibt es an diesem Morgen hier nicht mehr.
Doch auch die zweite Abfahrtsroute ins Dischmatal, die direkt bei der Gondelstation der Jakobshornbahn startet, muss gesichert werden. Emil Pleisch ist schon mit den Skiern vorausgefahren und steigt abseits der Piste auf, um so den gefährlichen Nordhang von oben her zu erreichen. Er zündet eine Sprengkapsel an und dreht sich ab. «Den Rauch sollte man nicht einatmen; das ist ungesund.» 90 Sekunden später knallt es. Noch ein, zwei Winter will er weiterarbeiten, dann aber Platz machen für die Jüngeren. Seinen Hof hat er bereits vor vier Jahren dem Sohn überschrieben. Miriam Grämiger sichert mit mehreren Handsprengungen den steilen Einstieg der Teufi-Abfahrtsroute. Dann kehrt das Team zurück in die Einsatzzentrale, ein Büro mit 360-Grad-Panoramablick. Durchschnittlich treffen hier zwei Unfallmeldungen pro Tag ein.
«Am schlimmsten sind jene Unfälle, wo wir sofort sehen, dass der Verunfallte mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen hat», sagt Meier. Das sei tragischer als ein Toter, da komme jede Hilfe ohnehin zu spät. Gut ein Dutzend Tote hat Meier in seiner 18-jährigen Amtszeit schon geborgen. Letzten Dezember, während des internationalen Ärztekongresses in Davos, verunglückte hier ein teilnehmender koreanischer Arzt ausserhalb der Piste. «Wir sahen sofort, dass er schwerste Rückenverletzungen hatte», erinnert sich Meier, «und als Doktor wusste er selber natürlich auch, was das bedeutet.»
Grämiger und Meier setzen sich an die Computer und werten die Sprengungen vom Morgen aus, tragen die Daten säuberlich ein. Gespannt verfolgen sie die Prognosen der Meteorologen für die kommenden Tage. «Nicht mehr so viel Schnee, dafür etwas Sonne», freut sich Meier. Das Schönste in seinem Beruf seien die Wetter- und Naturschauspiele, von denen andere Leute nur träumen könnten. Und die Unvorhersehbarkeit: «Man weiss von einer Minute zur anderen nicht, was alles auf einen zukommt.» Das Schlimmste hingegen seien die Rettungen bei kritischen Wetter- und Lawinenverhältnissen. Der vierfache Vater erzählt von seiner schönsten Bergung: «Der Mann war bis zum Kopf verschüttet in einer Lawine und konnte sich deshalb nicht selber befreien. Als wir kamen, war er schon blau wie eine Heidelbeere.» Eine Rettung in letzter Minute. Das war vor gut 15 Jahren. Jede Saison kommt der Unterländer wieder zum Jakobshorn, und sie schauen sich dann jeweils in die Augen und nicken sich zu – mehr braucht es nicht. «Wir wissen dann beide, woran wir denken.»