Vom Austeilen und Einstecken
Der Athletic Box Club Bern hat Kämpfer wie Fritz Chervet, Max Hebeisen und Enrico Scacchia hervorgebracht. Doch auch Hobbysportler trainieren hier. Denn Boxen ist das Leben selbst.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2008 - 08:31 Uhr
Sandstein und Jugendstil. Die Berner Kochergasse ist eine altehrwürdige Nachbarschaft. Vom Hauseingang gegenüber dem Hotel Bellevue, in Sichtweite des Casinos, führen Stufen in einer halben Wende ins Untergeschoss hinab. Auf der bordeauxroten Kellertür steht «Athletic Box Club Bern».
Im Büro dahinter sitzt Max Hebeisen: 43 Kämpfe; 37 Siege, fünf Niederlagen und ein Unentschieden. Boxerleben sind Zahlenreihen. Hebeisens sportliche Vita dauerte 318 Runden; zehneinhalb Stunden Prügel für neun K.-o.-Siege. Viermal wurde er selber ausgezählt. «Boxen ist das Leben selbst», sagt der 61-Jährige. Eine Reihe grosser und kleiner Kämpfe, die mal so und mal so enden. Im Boxen wird das schonungslos ausgewiesen.
Hebeisen ging mit 29 Jahren für immer aus dem Ring. Dem Faustkampf ist er aber treu geblieben. Und dem Keller. «Ich bin seit fast 50 Jahren hier.» Damit ist er nicht allein. Vieles hier ist schon lange da. Auf dem schmalen Pult, an dem schon Hebeisens Vorgänger sassen, steht eine Kartei mit teilweise vergilbten Mitgliederkarten. An der Wand hängen Zeichnungen und Diplome; auf dem Schrank ruht ein mächtiger Pokal. «Wir waren elf Mal in Folge Schweizer Meister bei den Mannschaften», sagt Hebeisen. Das war in den Fünfzigern und Sechzigern. Er blättert in seiner Agenda. Wieder ein Jahr vorbei.
Der Athletic Box Club Bern, kurz ABCB, ist die Wiege des Schweizer Boxsports. Aber die Geschichte der Boxschule begann in Russland. Die Familie des kleinen David Avrutschenko war 1910 vor der Judenhatz aus Kiew nach Bern geflohen. Nach Studien in Burgdorf ging der Jüngling als Bauingenieur nach Brüssel, kam von dort als Boxprofi zurück und gründete 1935 den Boxkeller. Damit wurde er zum Urvater einer Erbfolge, die bis heute anhält.
Gross gemacht hat den Keller aber ein anderer. «Das da ist Charly Bühler», sagt Hebeisen und zeigt auf ein Schwarzweissbild mit ovalem Goldrahmen. Ein kleiner Junge mit Boxhandschuhen. Bühler, die Legende. Mit seinen Zöglingen Fritz «Die Berner Fliege» Chervet, Max Hebeisen selbst und zuletzt Enrico Scacchia machte er Boxen in der Schweiz salonfähig. In Bühlers Ära sind diesem Boxkeller 113 Schweizer Meister entstiegen. Obwohl er sich vor ein paar Jahren zurückgezogen hat, steht an der Tür noch immer sein Name.
Die Zeit der grossen Kämpfer ist vorbei. Dafür ist der Geist jener Jahre unten hängengeblieben. In einer Kiste rosten gusseiserne Hanteln. Ein einzelner Boxsack hängt reglos von der Decke. Millionen von Schlägen haben das Leder speckig gerieben; viele mehr werden noch folgen. In der Ecke neben den Medizinbällen steht ein Klavier. «Das hat irgendwann mal jemand für ein Fest hier runtergeschleppt», sagt Hebeisen. Vor 30 Jahren oder so.
Langsam füllt sich der Keller. Das Publikum sei sehr durchmischt, sagt Hebeisen. Berufsschüler, Studenten, Handwerker; Jung und Alt. Darauf ist er stolz. An diesem Abend kommen die Studenten der Universität und der Gewerbeschule – und die Studentinnen.
«Am Anfang hätten wir nie gedacht, dass hier mal Frauen auftauchen», sagt Hebeisen, während er einer zierlichen Anfängerin die Boxhandschuhe schnürt. Eines Abends Anfang der Siebziger seien auf einmal zwei dagestanden. Die eine komme heute noch.
«Mädchen lernen besser als Buben.» Buben wollten immer gleich zeigen, wie stark sie sind. Hebeisen führt die Hand des Mädchens an sein Kinn und richtet seine Schülerin Glied für Glied aus: Arm strecken, Schulter hochnehmen, Kopf zur Seite legen und Hüfte ausdrehen. «Schlag zweimal hoch und zweimal tief.» Hebeisen fängt mit der offenen Hand ihre zaghaften Schläge ab und boxt sie dann sanft in den Bauch. Deckung offen. «Strecken», sagt er und nimmt wieder ihre Faust zum Kinn. Diese Szene wiederholt sich wieder und wieder; an die 15 Mal. «Das braucht keine Geduld», sagt Hebeisen. Das ist einfach so.
Pascal Brawand leitet unterdessen mit kurzen Anweisungen das Aufwärmen: «Kreisen.» Der 37-Jährige ist eidgenössisch diplomierter Berufstrainer und ebenfalls ein Kellerkind. «Ausdrehen.» Mit Brawand engagiert sich bereits die vierte Generation im Boxkeller. Irgendwann möchte ihm Hebeisen den Betrieb übergeben. «Gut, bandagieren und Handschuhe anziehen.» Die Boxer stellen sich paarweise auf. Laufschule und Sandsackarbeit sind nicht die Grundpfeiler des Boxens im ABCB. «Wir ziehen hier sofort die Handschuhe an», sagt Brawand, «deshalb kann hier unten jeder mit jedem boxen. Das war ein Grundsatz von Charly Bühler.»
Die Selbstbezogenheit des Boxkellers sorge dafür, dass diese Idee weiterlebt. Versuche mit externen Trainern wurden bald einmal abgebrochen. «Die haben zu viel Härte reingebracht», sagt Brawand. Zu harte Schläge, zu viel Blut. Letztlich sei es aber auch eine Stilfrage; jede Schule habe ihren eigenen. «Man soll schliesslich sehen, wo einer Boxen gelernt hat.»
Eine, die es hier gelernt hat, ist Monika Hofmann. Die 26-jährige Studentin boxt seit fünf Jahren; zweimal pro Woche, wenn sie die Zeit hat, auch häufiger. Sie hat über den Uni-Sport zum Boxen gefunden. «Bei so viel Kopfarbeit tut es einfach gut, auch einmal den Körper zu benutzen.» Ausserdem mache das Kämpfen Spass. Man versuche natürlich, einander nicht weh zu tun. Und natürlich gelinge das nicht immer. Männer vergässen ob Hofmanns guter Technik manchmal, dass sie ihnen körperlich unterlegen ist. Und Anfängerinnen schlügen hin und wieder ebenfalls zu ungestüm: «Weil sie denken, sie hätten sowieso keine Kraft.»
Aussenstehende tun Boxen gern als primitive Lust an der Gewalt und tumbes Prügeln ab. Hofmann hat eine ganz andere Wahrnehmung: «Boxen ist wie ein Tanz: Es geht um Nähe und Distanz; man muss auf sein Gegenüber eingehen.»
Ausser dem Gegner gibt es im Boxkeller denn auch nicht viel, womit man sich auseinandersetzen könnte. Vier Säulen tragen den Raum und grenzen gleichsam den Ring ab. Neonröhren streuen ein flächiges Licht. An der Wand hängen Springseile und Teppichmatten für die Bodenübungen. Die wichtigsten Trainingsgeräte sind die Leiber der andern. Und natürlich der eigene.
Nach jeder Runde wechseln die Boxer den Sparringpartner. «Los.» Max Hebeisen drückt auf den Zeitgeber. Ein Schwall von dumpfen Stössen füllt den Saal, die Paare drängen sich keuchend übers Linoleum. Der Zeitgeber pfeift. Im Boxkeller vergeht das Leben im Zweiminutentakt.
Immer am Dienstag trainieren Amateure Leichtkontakt und olympisches Boxen. Leichtkontaktboxen ist wahres Faustfechten: Flinkes Stupsen statt wuchtiger Schläge, es geht nur um Treffer – den Gegner auf die Bretter zu schicken gibt keine Punkte. Im olympischen Boxen geht es härter zur Sache, aber es wird mit Kopfschutz gekämpft. Zudem gehen die Kämpfe nur über vier Runden, was das Verletzungsrisiko senkt.
Einer, der für den Ernstfall trainiert, ist Fabian Brown. Drei Kämpfe bisher; ein Sieg und zwei Niederlagen. Der 21-Jährige kommt zweimal pro Woche hierher; in den letzten beiden Monaten vor Kämpfen sind es viermal. Dazu kommt Joggen und Krafttraining. Sein Trainer tänzelt durch den Ring und gibt ihm Schlagfolgen vor. Bevor er mit Boxen anfing, spielte Brown Basketball. Niederlagen im Boxen seien schlimmer, sagt er, weil man niemandem die Schuld geben kann. «Und weil man am eigenen Körper spürt, wenn der andere besser war.» Trotzdem sei es besser, gegen einen Stärkeren zu verlieren, als einen Schwächeren zu bezwingen – «bei leichten Siegen lernt man nichts».
Das Treiben im Athletic Box Club ruht auch samstags nicht. Ab neun Uhr ist «Boxen für jedermann». Das Aufwärmen hat viel von Altherrenturnen: Keine Frauen, fast alle sind über 40 Jahre alt, und bei den meisten haben die grauen Haare längst überhandgenommen. Vereinzelt sind aber auch Jüngere dabei. «Das sind Büezer, Beamte, Lehrer und Stadträte», sagt René Schmid, der das Einturnen leitet. Hin und wieder stünden sich im Ring unter der Kochergasse Kommunismus und Wirtschaftsliberalismus gegenüber. Tiefschläge sind hier nicht erlaubt.
Mit dem Signal des Zeitgebers beginnt der Reigen. Die gestandenen Herren kommen schnell in Fahrt. Allfällige Gebrechen sind wie weggeblasen. «Schön, wenn man die Jungen schwitzen lassen kann», sagt ein 70-Jähriger, während er für einen neuen Gegner, der sein Enkel sein könnte, die Ringseile auseinanderhält.
«Beim Boxen besinnt man sich auf sich selber», sagt Schmid. «Die körperliche Bedrohung ist so präsent, dass alles ausser dem Hier und Jetzt ausgeblendet wird.» Deshalb könne man dabei so gut abschalten. Boxen entblösst auch. An der Art, wie jemand boxt, erkenne man in zwei, drei Minuten dessen Charakter, sagt Schmid. Wer im Ring konstant vorwärtsmarschiere, sei sicher auch sonst nicht zögerlich.
Andere lernen, ihre Zögerlichkeit abzulegen. Bestes Beispiel: ein Pädagogikprofessor, der sagt, er sei eher «contre cœur» hergekommen, auf Anraten eines Arztes, wegen Rückenproblemen. Das war vor dreieinhalb Jahren. «Mittlerweile hat er gelernt, mich richtig ins Gesicht zu schlagen», sagt Schmid und grinst. Der Professor grinst auch, findet aber, es passe nicht unbedingt zu seiner Gilde. «Man langt sich ins Gesicht und geht hinterher zusammen ein Bier trinken», sagt Schmid. Respekt sei das A und O; es gehe darum, den Gegner zu besiegen, nicht zu vernichten.
Die flache Nase in seinem Gesicht zeigt, dass er in 27 Jahren Boxen Respekt nicht nur gelehrt, sondern auch gelernt hat. Nasenbluten und Veilchen gehören hin und wieder dazu. Das, sagt Schmid, sei eine weitere Lektion: Schmerz aushalten und weiterkämpfen. Schmid ist Leiter einer Privatschule. Weil Boxen in diesem Kreis so vieles vermittelt, bringt er manchmal auch Schüler mit in den Keller: «Die kommen dann jeweils mit mehr Selbstbewusstsein wieder hoch.»
Während die anderen auf der Bank ihre Bandagen lösen, gehen Schmid und sein Partner noch einmal richtig zur Sache, versuchen auch mal einen wuchtigen Haken anzubringen. «Häbet Sorg, Giele», ruft Max Hebeisen in den Ring. «Man muss wissen, wann man aufhören muss», sagt er. So wie er damals, als er seine Boxhandschuhe an den Nagel hängte. Hebeisen hatte hoch geführt, wurde aber in der zweitletzten Runde niedergeschlagen und angezählt. Er rettete sich in die Pause. «Ich hätte nur noch diese letzte Runde überstehen müssen – aber ich konnte mich nicht mehr erholen.» Der Kampf wurde abgebrochen, K.o. in der zehnten Runde. «Beim Boxen», sagt Hebeisen, «lernst du vor allem dich selbst kennen.»
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