Zaubertrunk
Die Brasserie des Franches-Montagnes erfindet das Bier ständig neu – weit weg von Reinheits- und anderen Geboten. Ein Besuch im Jura, wo das «weltbeste Bier» herkommt.
Beobachter: Bonjour, Monsieur Rebetez, wir sind vom …
Jérôme Rebetez: Ich sage kein Wort, bevor du nicht eine Partie Baby-foot mit uns gespielt hast. (Zeigefinger auf den männlichen Besucher, spricht betont langsam, mit Akzent) Tö-gge-le! Compris?
Der Mann füllt die Eingangstür zu seinem Reich weitgehend aus, und der Empfang macht die Vorahnung zur Gewissheit – dieses Interview wird anders als üblich. Jérôme Rebetez, 40, Braumeister, von unten nach oben: spitze Cowboystiefel, Jeans, Hemd mit eigentümlichem Muschelmuster über beachtlichem Bauch. Weiche Gesichtszüge, halblanges Haar, Dreitagebart. Die blauen Augen verraten, dass der Mann zuletzt wenig Schlaf bekommen hat. Aus ihnen blitzt bubenhafter Schalk: Herrlich, wieder mal Deutschschweizer veräppelt! Rebetez nimmt «les totos» gern aufs Korn, ganz in der Manier des Jurassiers, also «rebellisch und eigensinnig», wie er das selber sieht. Und sei es nur, was ihren Biergeschmack anbelangt. Doch davon später mehr.
Nachdem das Spiel am Töggelikasten gespielt und – wichtig! – gewonnen ist, nimmt der Hausherr Fahrt auf. Hier ein Schwatz mit einem Angestellten, da ein lautstarkes Telefonat mit Lieferanten. Rastlos tigert Rebetez durch seine Brasserie des Franches-Montagnes, die bei eingefleischten Liebhabern von Hopfen und Malz unter dem Kürzel BFM Kultstatus geniesst. Marcel Alber, diplomierter Bier-Sommelier und Blogger, schreibt BFM gar «eine Pionierrolle im Brauen kreativer Biere» zu (siehe Interview am Ende dieses Artikels).
1997 gegründet und öfters haarscharf am Konkurs vorbei, konnte sich BFM inzwischen auch wirtschaftlich im Markt etablieren. 15 Angestellte brauen und vertreiben in diesem Jahr voraussichtlich 3500 Hektoliter Bier, ein Rekord. Der steigende Absatz ist ein Beleg für das wachsende Interesse für Biere abseits der grossen Ströme.
Beobachter: In der Schweiz florieren regionale Brauereien. Wie hebt sich BFM von dieser Konkurrenz ab?
Rebetez: Indem wir keine regionalen Biere herstellen, sondern internationale. «Regional» als Markenzeichen genügt heute nicht mehr – «Burgdorfer Bier» ist okay, aber in Zürich erreichst du damit niemanden. Seit zwei, drei Jahren geht der Trend hin zu den Spezialbieren, zu Bouquets mit Kanten und Konturen. Diese Biere kauft man überall, wenn sie gut gemacht sind.
Beobachter: Spezialbiere sind eben genau das: speziell. Sie schmecken nicht allen.
Rebetez: Müssen sie auch nicht. Wer es allen recht machen will, verliert sein Profil. Jede Brauerei muss ihren eigenen Fingerabdruck haben. Man soll merken: Da ist BFM drin. Auch ohne Etikette.
Dabei sind die Etiketten von BFM ein Hingucker, oft mit witzigen Sujets versehen, die auf die Entstehungsgeschichte der Sorte hinweisen (siehe «Zum Wohl», unten). Als unverwechselbares Logo immer drauf: ein Salamander.
«La Salamandre», ein Weissbier, steht am Anfang der Geschichte. Jérôme Rebetez kreierte das Rezept noch als Heimbrauer in der Badewanne seiner Eltern. Mit 23 nahm er an einem TV-Wettbewerb teil, bei dem junge Leute ihre unternehmerischen Visionen präsentierten. Der studierte Weinbaukundler schilderte seinen Traum von einer unabhängigen Brauerei – und gewann prompt 50'000 Franken. Das Preisgeld floss in die ersten Einrichtungen des nüchternen Gewerbehauses am Dorfrand von Saignelégier. Die Produktionsanlagen sind längst ausgetauscht und auf dem neusten Stand. Wandmalereien, wild tapezierte Plakate und kopfüber in die Decke genagelte Gartenzwerge zeugen jedoch weiterhin vom Junggesellenstil der Gründerzeit.
Für Wein findet der zum Bier konvertierte Rebetez nur noch ein Wort: «Langweilig.»
Beobachter: Welches ist dein Lieblingsbier?
Rebetez: Habt ihr Kinder? Und welches ist das Lieblingskind?
Beobachter: Nun ja, das wechselt von Zeit zu Zeit …
Rebetez: Voilà! So geht es mir mit dem Bier. Mein Lieblingsbier ist jenes, das zur jeweiligen Gelegenheit am besten passt. Und zum Essen. Es muss mich im entscheidenden Moment berühren, mich amüsieren, überraschen. Bier ist eine emotionale Angelegenheit.
Bei aller Passion und Lust am Anderssein: Ein paar eiserne Gesetze gelten in der Brasserie des Franches-Montagnes dann doch. So wird ausschliesslich obergärig gebraut. Aber auch das ist wieder ein Spartenprogramm. Es trifft bloss auf fünf Prozent der Schweizer Biere zu und geht so: Die Hefe steigt während der mehrtägigen Gärung zur Oberfläche des Sudes, wo sie vom Saft abgetrennt wird. Bei BFM werden die Biere weder gefiltert noch pasteurisiert. Das Verfahren wird bei vergleichsweise warmen Temperaturen zwischen 18 und 25 Grad durchgeführt, was dem Bier ein komplexes, fruchtiges Aroma gibt – unabhängig von der Farbe.
Beobachter: Ihr stellt jeweils im Spätherbst ein Saisonbier her, diesmal das «Highway to Helles». Mit Verlaub: Das scheint uns nicht ganz korrekt geschrieben zu sein.
Rebetez: Mais bien sûr, genau richtig! Wenn wir mit unseren Bieren in der Deutschschweiz unterwegs sind, fragen wir die Leute: «Welches davon wollt ihr?» Dann drucksen sie etwas herum, und am Schluss sagen sie «ein helles». Als ob man über die Farbe ein Bier beschreiben könnte! Wenn mich jemand fragt, welches Auto ich fahre, antworte ich ja auch nicht «ein graues»!
Im heimischen Jura ist das Bier Allerweltsgut, in der Deutschschweiz muss es noch entdeckt werden, vielleicht mit Hilfe des «Helles». Immerhin gibt es in der Stadt Zürich bereits 30 Bezugsorte, in Basel und Bern jeweils halb so viele.
Und sollte sich die Schweiz als zu klein erweisen, gibt es den ausländischen Markt. Heute exportiert BFM einen Fünftel der Produktion in 15 Staaten, darunter Belgien oder die USA. Dort kam es 2009 zu so etwas wie einer Heiligsprechung: Die «New York Times» kürte das Sauerbier Abbaye de Saint Bon-Chien aus dem europäischen Nirgendwo zum «weltbesten Bier» seiner Art. Wer es im Blindtest kostet, käme kaum darauf, dass es sich um ein Bier handelt. Und würde der Einschätzung von Biersommelier Marcel Alder vorbehaltlos zustimmen: «Jérôme sprengt mit seinen Bieren eigentlich immer die Grenzen der Stilvorgaben.» Wie gut der Meister selber damit leben kann, zeigt sich auf seiner Visitenkarte. «Art Director» steht dort.
Beobachter: Eure Brasserie wurde auch schon als «Bastelbrauerei» bezeichnet.
Rebetez: Ein schönes Wort.
Beobachter: Es nimmt Bezug darauf, dass ihr mit Zwetschgen, Salbei, Orangenschalen und Koriander braut … Ist alles erlaubt?
Rebetez: Es gibt eigentlich nichts, mit dem man nicht experimentieren könnte. Die Grenze ist dort, wo die Geschmacksrichtungen nicht mehr ausgewogen sind. Wenn ich eine neue Hopfensorte probiere, ist das ein stetiges Tüfteln, bis es perfekt stimmt. Mein Ziel ist es nicht, gänzlich neue Biersorten zu kreieren. Mich interessieren vielmehr spannende Interpretationen von Bestehendem.
Beobachter: Das Reinheitsgebot von 1516 besagt …
Rebetez: … mon Dieu …
Beobachter: … zum Brauen von Bier darf nur Wasser, Malz, Hopfen und Hefe verwendet werden.
Rebetez: Ich brauche beim Brauen keine Gebote. Mit Bier soll man spielen. Noch ein Baby-foot?
Die Welt des Biers
Bis heute sind La Salamandre, La Meule und La Torpille die meistverkauften Biersorten der Brasserie Franches-Montagnes – im Jura findet man sie in jedem Coop und in den meisten Restaurants. Wahrscheinlich liegt das daran, dass es sich bei diesen drei Bieren – die ersten, die BFM gebraut hat – um relativ «gängige» Sorten handelt.
La Salamandre: Das Weissbier aus Weizen- und Gerstenmalz hat ein blumig-würziges Bouquet und eine leichte Hefenote.
La Meule: Ein helles Bier mit intensivem Bouquet (Zitrusfrüchte, getrocknetes Heu, Ingwer) und kräftigen Hopfennoten sowie einer Spur Salbei.
La Torpille: Mit 7,5 Prozent Alkohol fährt das dunkle Torpille ein, wie es heisst: wie ein Torpedo. Das würzige Bier erinnert an den Duft alter Rotweine.
Das Schwarzbier mit präzis 10,276 Prozent Alkohol wurde für den Brasserie-Stammgast Alex, einen pensionierten Mechaniker, gebraut. Alex le Rouge, wie man ihn wegen seiner kommunistischen Ideen in der Region nannte, kam jeden Tag in die Brauerei und trank an der Bar sein Weinchen. Mit der Zeit arbeitete er im Betrieb mit, wartete die Maschinen und half beim Flaschenabfüllen. Er wurde zu einem Maskottchen für die Brasserie. Deshalb kreierte BFM-Chef Jérôme Rebetez im Jahr 2006 ein Bier für ihn, ein einzigartiges jurassisches Imperial Stout, das aus Protest gegen die damalige Senkung der Promillegrenze extra stark ausfiel.
Ebenholzfarben mit dichtem, hellbraunem Schaum und einem Bouquet aus Lakritze, Bourbon-Vanille, Sarawak-Pfeffer und Schwarztee. Im Gaumen kräftig und cremig mit ausgewogener Säure. Im Abgang eine anhaltende zarte Herbe: eine revolutionäre Cuvée. Bis er vor drei Jahren starb, soll Alex täglich drei bis vier Flaschen davon getrunken haben.
Das aktuelle Saisonbier zum 17-jährigen Bestehen der Brauerei ist als «Alptraum aller Lagerbiertrinker» (Etikettentext) konzipiert. Gebraut wird es mit europäischem Hopfen, der in der Brasserie kalt geräuchert wird, was für eine diskrete Rauchnote sorgt. Dazu werden helle Malzsorten verwendet. Daraus entsteht ein Bier mit blumigem Geschmack, das rein gar nichts mit einem Lager zu tun hat – ausser in der Farbe. «Die Deutschschweizer wollen immer ‹ein Helles› – jetzt haben sie eins», grinst BFM-Chef Jérôme Rebetez.
Als die Brauereikatze Bon Chien («guter Hund») vor neun Jahren starb, wurde ihr zu Ehren das Sauerbier L’Abbaye de Saint Bon-Chien entworfen. Mit dem Namen wurde sie auch gerade noch heilig gesprochen. Ein gutes Omen: Die «New York Times» kürte das Bier 2009 zum «weltbesten Eichenfass-Bier». Die Cuvée mit dem bernsteinfarbenen Glanz reift monatelang in Eichenfässern, die vorher hauptsächlich Rotwein enthielten. Das verleiht dem Bier vielfältige Aromen: Im Gaumen erinnert es an fruchtigen Rotwein mit ausgeprägter Säure. Geschmacklich ähnelt es Cidre und wird am besten aus einem Weinglas mit einer Temperatur von 16 Grad getrunken. Es kann jahrelang gelagert werden. Das «Abbaye» passt prima zu Ziegenkäse, Wild oder Schmorbraten. Die Nachfolge-Katze heisst übrigens «27,6» (nach ihrem Geburtsdatum im Juni) – über eine biermässige Ehrung wird bereits nachgedacht.
Zum 15-Jahr-Jubiläum der Brasserie des Franches-Montagnes wurde das Sauerbier La Saison gebraut. Es beruht auf einem alten Bierstil aus Belgien und Frankreich. Früher, ohne Kühlschrank, konnte man Bier nur im Winter brauen. Damit es das ganze Jahr trinkbar blieb, produzierte man es mit sogenannter Saisonhefe, die den leicht sauren Geschmack hervorruft. So entstand ein erfrischendes Bier für die Arbeiter, die es nach dem Heuen in grossen Mengen tranken. Es reift vier Monate lang in Eichenfässern, in denen vorher das Abbaye de Saint Bon-Chien war. So schmeckt es nach wilder Hefe in Verbindung mit feiner Säure. Das Bier hätte nur zum Jubiläum auf dem Markt sein sollen. Da es aber so fantastisch schmeckt – und dank hartnäckigem Weibeln der jungen BFM-Marketingfrau Carole Waser –, wird es bis heute gebraut.
Bier versus Wein
Bier ist grundsätzlich basisdemokratischer als Wein, denn jeder kann mit günstigem Equipment und etwas Kreativität in seiner Küche ein gutes Bier herstellen.
Vor 20 Jahren gab es in einem Restaurant bestenfalls zwei Weine: einen weissen und einen roten. Heute hat auch das kleinste Restaurant mehrere Weine im Angebot. Bier macht diese Entwicklung erst jetzt durch. Die Vielfältigkeit von Bier wird oft noch verkannt, es wird mit Grillabenden und Fussballspielen assoziiert. Vielen Konsumenten fehlt das Verständnis, warum ein Bier ähnlich teuer sein kann wie eine Flasche Wein. Zudem gibt es in der Gastronomie nur sehr wenige Biersommeliers.
Schweizer Bierszene
Die Zahl neu registrierter Brauereien hierzulande steigt stetig an und dadurch auch das entsprechende Angebot. An der Beliebtheit von geschmacksstarken Bieren wie den fruchtig-bitteren India Pale Ales lässt sich das gesteigerte Interesse an besonderen Bieren ablesen.
Innovative Brauereien
Aktuell freue ich mich über den Markteintritt der Schweizer Blackwell Brewery, die bis anhin hervorragende Biere in Kleinstmengen hergestellt hat. Das Angebot im Ausland ist riesig; noch nie enttäuscht haben mich die Anchorage Brewery aus Alaska, Cigar City aus Florida und Dieu du Ciel aus Montreal.
Trends im Biermarkt
In der Schweiz geht der Trend klar in Richtung hopfige Biere. Im Ausland eher hin zu sauren Bieren. Grundsätzlich gibt es zwei Ausprägungen: Genussbier, das durchaus auch mal etwas teurer sein darf und dies durch die aufwendige Herstellung auch rechtfertigt. Daneben das typische Feierabendbier, ein Bier, das leicht ist und sich einfach trinken lässt.
Industriebier
Es ist wie Tiefkühlpizza, manchmal erstaunlich gut, oft aber eher langweilig und fad.
Empfehlungen für die Adventszeit
In dunkle Vorweihnachtsabende passen dunkle Biere ausgezeichnet, auch stärkere. Zum Beispiel das Kodiak der kleinen Schweizer Brauerei Storm & Anchor, mit 8,2 Prozent Alkoholgehalt. Es vereint Röstaromen von Kaffee, würzigen Hopfen und eine angenehme Malzsüsse.
BFM stellt ein Glühbier her, das gewärmt getrunken wird. Ähnlich wie Glühwein passt es auf jeden Weihnachtsmarkt beziehungsweise an jedes gesellige Beisammensein im Freien. Vorbild für alle Glühbiere ist das belgische Liefmans Glühkriek. Die Westbrook Brauerei aus South Carolina, USA, stellt mit dem Mexican Cake ein spannendes, komplexes Bier her mit Noten von Chili, Vanille, Zimt und Kakaobohnen. Getragen werden diese Gewürze von einem fein ausbalancierten dunklen Bier im Stil eines Imperial Stouts. Hochprozentige Biere wie englischer Barleywine oder deutscher Doppelbock können gut jahrelang gelagert werden und entwickeln sich während dieser Zeit immer weiter. Sie lassen sich hervorragend als Dessert nach einem deftigen Essen geniessen.