«Ich passe mich zu sehr an»
Frage: «Ich bin 25. Wenn ich einen Freund habe, der mir wirklich etwas bedeutet, passe ich mich zu sehr an. Manchmal weiss ich dann plötzlich nicht mehr, was ich eigentlich wollte.»
Veröffentlicht am 3. Dezember 2010 - 16:02 Uhr
Antwort von Koni Rohner, Psychotherapeut FSP:
Sie neigen offenbar dazu, sich in der Liebe selber aufzugeben. Sie rutschen in ein symbiotisches Verhältnis hinein. Es ist zwar schön, in einer Liebesbeziehung von Zeit zu Zeit ein Herz und eine Seele zu sein, aber dabei darf die eigene Identität nicht verloren gehen.
Damit Ihnen diese Selbstaufgabe nicht mehr passiert, müssen Sie sich selbst genauso wichtig nehmen wie Ihren Partner. Achten Sie auf Ihre Bedürfnisse, schreiben Sie ein Tagebuch, pflegen Sie einen eigenen Freundeskreis, entwickeln Sie einen eigenen Lebensstil. Und behalten Sie alles bei, auch wenn Sie einen Partner haben.
Ihre Überanpassung kann verschiedene Ursachen haben. Möglicherweise haben Sie ganz einfach Angst vor Konflikten. Sie haben nie die Erfahrung gemacht, dass man nach einem Streit wieder Frieden schliessen kann, und wollen es darum gar nie zu Dissonanzen kommen lassen. Vielleicht haben Sie aber auch eine falsche Vorstellung von der Liebe. Vielleicht sind Sie dem Mythos vom Einswerden aufgesessen.
Verliebtsein ist etwas Herrliches. Man spürt ein grossartiges Gefühl allumfassender Einheit, und man könnte nicht nur den geliebten Menschen, sondern gleich die ganze Welt umarmen. Man möchte im andern aufgehen, mit ihm verschmelzen, sich verlieren. Das kann auf die Länge nicht gut gehen. Zwar braucht jede starke Liebesbeziehung diese Momente, aber wenn der Zustand andauert, verlieren beide Partner an Profil, an Ecken und Kanten und an Persönlichkeit. Das wiederum lässt die Liebe sterben, denn ich kann nur einen Menschen lieben, der auch ohne mich jemand ist.
Die symbiotische Verbindung gleicht eigentlich vielmehr dem, was die frühe Beziehung zwischen Mutter und Kind sein sollte. Eine gute Mutter fühlt sich tatsächlich am Anfang in ungeschiedener Einheit ins Kind ein, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wahrscheinlich gibt das dem Baby ein Gefühl von allumfassender Ganzheit, Verbindung und Glück. Aber wir wurden bekanntlich aus dem Paradies vertrieben, und seither ist da keine Bleibe mehr. Denn schon nach einigen Monaten muss die Mutter bereit sein, die Ablösung des Kindes und seine werdende Selbständigkeit zuzulassen. Vielleicht liegt hier auch die Ursache für die Nähe-Distanz-Probleme vieler Erwachsener: Entweder konnte die Mutter nicht loslassen, oder die symbiotische Phase war so unbefriedigend, dass dieser Zustand noch im Erwachsenenleben gesucht wird.
Tatsächlich funktionieren viele Partnerschaften nach diesem unbewussten frühkindlichen Muster. Dagegen sind Partnerschaften selten, in denen sich zwei erwachsene Menschen sehr nahe und doch abgegrenzt und selbständig fühlen.
Lieben heisst zuerst einmal Ja sagen. Ja zum fremden Partner, der eine eigene Geschichte, eigene Stärken und Schwächen hat. Ja zum Gefühl der Ergriffenheit, Ja zum Ergänzungsbedürfnis, das jedes Geschlecht hat. Aber die Liebesbeziehung ist nur von Dauer, wenn wir auch Nein zueinander sagen können. Es ist kein Zeichen von mangelnder Liebe, wenn man sich nicht gegenseitig alle Wünsche erfüllen kann. Es ist jedoch wichtig, diese mitzuteilen. Das bedeutet auch, zu sagen, wo man Freiräume braucht und wo man dem andern nicht zu Willen sein kann.
Lieben heisst auch Grenzen respektieren, Enttäuschungen ertragen und enttäuschen können. Zu oft wird zu lange nichts als Ja gesagt, so dass am Ende nur noch das bittere, enttäuschte Nein in Form des Beziehungsabbruchs möglich ist. Wir brauchen nicht nur den Partner oder die Partnerin, wir brauchen auch uns selbst, um glücklich zu sein.
Peter Schellenbaum: «Das Nein in der Liebe. Abgrenzung und Hingabe in der erotischen Beziehung»; DTV-Verlag, 2001, 160 Seiten, Fr. 13.90