Die Bologna-Reform zielt darauf ab, in Europa bis 2010 die Studiengänge zu vereinheitlichen und damit Studierenden zu ermöglichen, in verschiedenen Ländern zu studieren. Die Reform wurde 1999 von 29 Ländern lanciert, darunter der Schweiz. Aktuell sind 46 Länder dabei.
Die Unterzeichnung der Bologna-Deklaration bedeutete für alle Schweizer Hochschulen eine umfassende Erneuerung von Strukturen und Inhalten
ihrer Studiengänge.
Der Protest in Zürich war kein Einzelfall. In der ganzen Schweiz besetzten Studenten Aulas oder Hörsäle, inspiriert von den Protesten in den Nachbarländern. Der Funke des Widerstands aber sprang nicht auf die Masse der Studierenden über. «Die Proteste interessierten mich nicht», sagt etwa Jan Theiler, 25, Betriebswirtschaftsstudent aus Freiburg. «Und in den Medien ging es bloss immer um die Frage, ob der Saal jetzt geräumt werde oder nicht. Aber was die Inhalte waren, das kriegte man nicht so richtig mit.»
Tatsächlich kommunizierten die Protestierenden konfus. Kritisiert wurde etwa die «Ökonomisierung» der Bildung, ohne dass deutlich wurde, was genau damit gemeint war. Der Slogan lautete: «Education is not for sale» – Bildung ist nicht zu verkaufen. Frank Bodin, Präsident der Schweizer Werbe- und Kommunikationsagenturen BSW, ortete in diesem Slogan einen «gesellschaftlichen Widerspruch». Die Studenten hätten alle einen teuren Studienplatz, den der Steuerzahler bezahlt habe. «Dieser fasst sich an den Kopf, wenn er eine solche Botschaft hört.» Bodin, der dem Protest eigentlich positiv gegenüberstand, befand: «Diese Generation muss lernen, wie man revoltiert.»
Viele der Studierenden aber nervten sich. Über die Störung und die Umtriebe, die entstanden, weil die Vorlesung in einen kleineren Raum verlegt wurde. In Zürich forderten die Fachvereine Ökonomie und Jus die Besetzer auf, den Hörsaal freizugeben. «Die Besetzung kann uns schaden, denn sie wirft ein schlechtes Licht auf die Studierenden», sagte Sylvie Fee Michel, die Präsidentin des Zürcher Studierendenrats, des offiziellen Ansprechpartners für studentische Anliegen.
Nach zwei Wochen war der Spuk vorbei, der Hörsaal KOH-B-10 geräumt. Zehn Tage dauerte die Besetzung der Aula in Basel. In Bern sogar nur acht. Dann kehrte in den Hochschulhallen wieder der Alltag ein.
Kein Wunder. Die Revolte traf den Nerv der Studierenden nicht. Die meisten von ihnen mögen ihre Ausbildung. Dies geht aus einer aktuellen Umfrage zur Bologna-Reform hervor, die im Auftrag der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten durchgeführt wurde. Drei von vier Befragten gaben an, zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrem Studium zu sein. Nur jeder zehnte Befragte zeigte sich mehrheitlich enttäuscht.
Valerie Zaslawski, 26, gehört nicht zu ihnen. Der jungen Frau macht das Studieren Spass. «Das Unileben ist im Vergleich zum Arbeitsalltag sehr flexibel. Man kann sich die Zeit selbst einteilen. Ich kann mich nicht beklagen.»
Zaslawski studiert in Genf Politikwissenschaften. Rund zwölf Stunden verbringt sie pro Woche an der Uni, weitere zwölf Stunden gehören dem Selbststudium: Arbeiten schreiben, Fachliteratur lesen. Rund 2500 Franken hat sie pro Monat zur Verfügung, ein bisschen mehr als die Hälfte davon verdient sie selber. Viermal im Monat arbeitet sie als freie Journalistin auf der Redaktion der NZZ in Zürich.
Zaslawski hat während ihres Studiums zwei verschiedene Systeme kennengelernt. Das «alte» mit Studienziel Lizentiat und das neue Bologna-System mit Studienziel Master. «Ich kann den Protest teilweise verstehen, sehe aber nicht nur das Schlechte an der Bologna-Reform. Das erste Jahr an der Uni im Liz-System war extrem unübersichtlich. Das Bologna-System ist geregelter und straffer. Das empfinde ich als grossen Vorteil.»
Mit der Einführung der Bologna-Reform wurde das Studium in zwei Stufen unterteilt: das Bachelor- und das Masterstudium. Ziel der Reform war die Schaffung eines europäischen Bildungsraums: Studienabschlüsse sollten europaweit vergleichbar sein, um die Mobilität der Studenten zu erhöhen. Dazu wurde ein Leistungspunktsystem eingeführt, das European Credit Transfer System (ECTS). Bologna brachte eine stärkere Verschulung vor allem der Geistes- und Sozialwissenschaften mit sich. Neu gehören auch in diesen Fachrichtungen Leistungskontrollen am Ende eines Kurses zum Standard.
Bei den Natur- und Wirtschaftswissenschaften war dies schon im alten System üblich. «Dass man bis zu drei Bachelorprüfungen im Jahr absolvieren muss, sehe ich als wesentlichen Vorteil. Mir ist es lieber, den Prüfungsstoff in Etappen geprüft zu haben als alles auf einmal», sagt Patrick Koch, der in Freiburg Jus studiert. In den Semesterferien im Januar und Februar arbeitet er als Snowboardlehrer im Wallis.
Kritik an Bologna wurde nicht nur von Studierenden laut. Auch Professoren liessen teilweise kein gutes Haar an der Reform. Der Zürcher Soziologieprofessor Kurt Imhof prägte das Stichwort vom «Bulimie-Lernen: reinfuttern, rauskotzen, vergessen». Die Reform habe kein einziges Ziel erreicht. «Die Mobilität wurde nicht erhöht, und statt vergleichbarer Abschlüsse hat man eine Unsumme von Studiengängen produziert und wechselseitige Anerkennungsprobleme multipliziert», so Imhof.
Dass bei der Umsetzung von Bologna Verbesserungsbedarf besteht, glauben auch jene Bildungsexperten, die der Reform grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Die Studiengänge seien teilweise überladen worden, sagt Otfried Jarren, Professor für Publizistikwissenschaft und als Prorektor für den Bereich Lehre an der Universität Zürich mitverantwortlich. «Viele Fächer haben versucht, aus dem Bachelor ihr kleines Liz zu machen. Da wurde dann zu viel ‹reingestopft›. Hier wird nun nachgebessert.»
Antonio Loprieno, Basler Uni-Rektor und Präsident der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten, spricht von «Kinderkrankheiten». So würden etwa einer effektiven Mobilität noch zu viele Grenzen gesetzt, etwa die nur partielle Anerkennung von Studienleistungen durch die Uni, zu der man gern wechseln würde. Auch die Kriterien für die Verleihung von Kreditpunkten in Verbindung mit studentischen Leistungen seien noch zu uneinheitlich. «Vor Verallgemeinerungen sollte man sich aber hüten: Die Lage präsentiert sich an allen Unis unterschiedlich.»
David Glauser studiert an der Uni Bern Bildungssoziologie und hat keine Schwierigkeiten mit Bologna. Bei ihm ist es allerdings nicht das neue Studiensystem, das ihn zur Eile antreibt, sondern der Umstand, dass er vor zweieinhalb Jahren Vater wurde. «Seit ich ein Kind habe, studiere ich viel effizienter», sagt Glauser. Er arbeitet als Hilfsassistent an der Uni und verdient damit 1550 Franken monatlich, BWL-Student Jan Theiler besorgt bei seinem Vater die Buchhaltung und erhält dafür 900 Franken im Monat, Politikwissenschaftlerin Zaslawski kriegt für ihren Job 1400 Franken. Allen drei bedeutet der eigene Verdienst einen willkommenen Beitrag an die Lebenshaltungskosten.
Wie viel ein Studentenleben kostet, hängt stark von der Wohnsituation ab. Studierende, die allein in einer Wohnung leben, geben laut einer Studie des Bundes 2150 Franken pro Monat aus, wer bei den Eltern lebt, dem genügen 1300. Rund drei von vier Studierenden üben laut der Studie eine Erwerbstätigkeit aus.
Die Zufriedenheit mit dem eigenen Studium ist stark von der materiellen Situation abhängig. In der Bologna-Umfrage gab etwas mehr als jeder zehnte der Befragten einen mittelmässigen bis tiefen Lebensstandard an. Hier sinkt die Zufriedenheit mit dem Studium auf 50 Prozent.
Dass das Studentenleben trotz knappem Budget attraktiv sein kann, zeigt das Beispiel von Charles Jean-Richard. Der 28-Jährige studiert Politikwissenschaft und schreibt zurzeit an seiner Abschlussarbeit. Sein Studium hat ihn weit in die Welt geführt. Vor zwei Jahren konnte er in Pakistan ein viermonatiges Praktikum auf der Schweizer Botschaft verbringen. Seine Ferien finanziert er sich mit Gelegenheitsjobs als Kellner oder auf einer Bank selber. Sein Fazit macht Lust aufs Studieren: «Ich konnte immer das machen, was mich interessierte.» Nur: So viel Glück hat nicht jeder.
Oben: Antworten gesamt; unten: Antworten aufgeteilt nach Studienrichtung (Erhebungsjahr: 2008)
4 Kommentare