Das Vertrauen in Chirurgen ist gross: Sie sind es, die bei Operationen das Skalpell führen. Eine gute Ausbildung kann da über Leben und Tod entscheiden. Jetzt ist Assistenz- und Oberärzten verschiedener Spitäler der Kragen geplatzt. Sie beklagen, die Ausbildung stecke in der Krise, die Patientensicherheit sei gefährdet. Und sie kritisieren damit offen, was in der Gilde der chirurgischen Assistenzärzte längst ein Thema ist. Aus Angst um ihren Job wollen die Ärzte im Alter zwischen 30 und 40 Jahren anonym bleiben. Denn ihre Kritik richtet sich primär an die verantwortlichen Chefärzte in den Spitälern.

Zwar sei die Aus- und Weiterbildung in vielen Kliniken gut. Als Vorzeigeobjekte nennen die jungen Ärzte etwa das Zürcher Triemlispital und das Spitalzentrum Biel. Doch mancherorts sei die Ausbildung «unstrukturiert und geradezu chaotisch», sagt Oberarzt und Chirurg Pascal Kraus (Name geändert), der an verschiedenen Spitälern gearbeitet hat: «Wegen der mangelhaften Ausbildung steigt das Risiko, dass Patienten zu Schaden kommen, weil sie schlecht operiert werden und Fehler passieren.»

Nicht nur Kraus, auch die übrigen vom Beobachter kontaktierten Ärzte machen sich Sorgen um die Qualität der Weiterbildung zum chirurgischen Facharzt. Mangels Übersicht und Kontrolle durch die Chefärzte würden im Tagesbetrieb sogar Dokumente gefälscht, um schneller ans Ausbildungsziel zu gelangen. Und das funktioniere so: Ein Assistenzarzt operiert zusammen mit dem Oberarzt einen Patienten. Wie an vielen Spitälern üblich diktiert der Assistent danach den Operationsbericht auf Band. Doch dabei trägt er nun nicht etwa den Oberarzt als ausführenden Chirurgen ein, sondern sich selbst - obwohl er bei der Operation nur zugeschaut hat. Kraus: «Manche Assistenzärzte schreiben sich so Operationen gut, die sie dringend für den Weiterbildungskatalog benötigen.» Dieser ist von grosser Bedeutung für die angehenden Chirurgen: Nur wer die darin vorgeschriebene Anzahl Operationen durchgeführt hat, wird nach sechs Jahren zur Facharztprüfung zugelassen.

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Vorgesetzte tolerieren faule Tricks
Die Schummelei läuft laut Assistenzarzt Reto Müller (Name geändert) manchmal auch mit Hilfe der operierenden Vorgesetzten. Dies laufe versteckt in gegenseitigem Einverständnis. «Sie sagen: ‹Schreib dir das mal gut›, obwohl man bei der Operation nur marginal mitgewirkt hat», so Müller. Oft auch weil grosser Druck herrsche. «Manche Chefärzte haben weder die Zeit noch die Geduld, an einem heiklen Punkt der Operation die Assistenzärzte machen zu lassen», sagt Müller. «Sie nehmen uns das Besteck aus der Hand und schneiden selbst weiter.» Das sei frustrierend.

Die Fälschungen fallen nicht auf. «Zwar stempelt und unterzeichnet der Chefarzt vorschriftsgemäss den Katalog. Doch meistens fehlt ihm die Zeit, ihn zu prüfen, und er überfliegt ihn nur oberflächlich», sagt Assistenzarzt Manuel Derungs (Name geändert). Urban Laffer, Präsident des Dachverbands der chirurgischen Fachgesellschaften (FMCH), wiegelt ab. Das Thema sei ihm bekannt, doch über Schummeleien sei ihm schon lange nichts mehr zu Ohren gekommen. Letztlich sei dies durch die computerisierte Erfassung der Kataloge nicht mehr möglich. Bereits heute würden die Operationsberichte und Kataloge von 40 Kliniken zentral erfasst. Laffer: «Der Dachverband ist daran, dies gesamtschweizerisch im Rahmen der Qualitätssicherung in den Griff zu kriegen.»

Für einige Assistenzärzte ist die Fälscherei letztlich ein Auswuchs, der auf die unbefriedigende Weiterbildungssituation zurückzuführen ist. «Als Assistenzarzt operiert man drauflos, doch keiner schaut, was wir wirklich können und was nicht», sagt Oberarzt Pascal Kraus. Zwar gibt es ein von der Ärztevereinigung FMH und den chirurgischen Fachgesellschaften herausgegebenes Ausbildungskonzept, das manche Spitäler intern noch verfeinern. Doch laut Kraus wird es im Alltag nicht konsequent angewendet. Assistenzärzte sollten gemäss FMH-Vorgaben nach spätestens einem Jahr eine Bewertung bekommen. Kraus: «Ich erhielt das Zwischenzeugnis nach zwei Jahren.» Auch seine Berufskollegen bemängeln: «Uns fehlt eine regelmässige Standortbestimmung, die uns den Weg zum Facharzt weist. Doch die Kontrolle von Lernzielen fehlt weitgehend, die Ausbildung ist nicht überschaubar.»

«Chirurgen mit zwei linken Händen»
Selbst mit bestandener Facharztprüfung seien manche Operationen «eine Zitterpartie», weil man «nicht sauber an Standardoperationen» herangeführt werde, so Assistenzarzt Reto Müller. Oberarzt Kraus: «Mangelnde Kontrolle führt auch dazu, dass Leute zu Chirurgen ausgebildet werden, die zwei linke Hände haben, sich aber irgendwie durch die Ausbildung boxen.»

Sind die Zustände in der Chirurgenweiterbildung zunehmend chaotisch? «Nein», sagt Max Giger, FMH-Zentralvorstandsmitglied und verantwortlich für die Kontrolle der Ausbildungsspitäler. Er weist die Kritik der Assistenzärzte zurück. Es handle sich hierbei wohl um Ärzte, «die den Operationskatalog nicht schaffen». Er habe auch schon gehört, dass ein Assistenzarzt «nicht seinem Können entsprechend» eingesetzt worden sei - dies sei jedoch die Ausnahme. Um die Qualität der Weiterbildung zu erhalten, führe die FMH regelmässig Visitationen durch, so kürzlich in den Kantonsspitälern von Aarau, Freiburg und Chur. «Diese Besuche und Gespräche mit Assistenzärzten haben gezeigt, dass die Ausbildung gut funktioniert.»

Doch diese steckt in der Krise. «Die Weiterbildung könnte tatsächlich besser sein. Meine Assistenzärzte kommen tendenziell zu wenig zum Operieren, auch wenn der Wille da ist, mehr zu tun», sagt etwa Raffaele Rosso, Chefarzt der Chirurgie des Kantonsspitals Lugano. Auch Marcel Schibli, Chefarzt des Kantonsspitals Herisau, stellt fest: «Die Ausbildung in der Chirurgie ist zunehmend erschwert.» Hauptgrund, so die beiden Chefärzte, sei die 50-Stunden-Woche, die seit Anfang 2005 für Assistenzärzte gesetzlich vorgeschrieben ist. Sie habe zu einer massiven Reduktion der Präsenz im Spital geführt.

Wer kritisiert, macht sich unbeliebt
Vor 20 Jahren habe man als Assistenzarzt noch mehr als 100 Stunden pro Woche gearbeitet. Heute seien Assistenten eine Woche pro Monat weg, sagt Rosso - «entweder in den Ferien oder an einer externen Weiterbildung». Dazu komme eine Vielzahl von administrativen Aufgaben. «Vielen fehlt deshalb schlicht die Kontinuität, um Eingriffe solid zu lernen.» Die Arbeit am Patienten leide darunter, bestätigt sein Kollege Schibli. «Insbesondere kommen Eingriffe zu kurz, die Assistenten unter Anleitung eines Kaderarztes durchführen können.» Dies auch wegen des zunehmenden Kostendrucks.

Die 50-Stunden-Woche sei mit der Weiterbildung tatsächlich kaum vereinbar, sagt auch Othmar Schöb, Weiterbildungsverantwortlicher bei der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie. Die Schweiz steht laut Schöb zwar «weltweit im Schnitt immer noch weit vorn». Doch er räumt ein: «Wir sind in Schwierigkeiten. Wenn es so weitergeht, haben wir in zehn Jahren keine breit geschulten Chirurgen mehr, weil sie sich aus Zeitgründen immer mehr auf einzelne Fachgebiete spezialisieren.»

Eine gewisse Entlastung gibt es ab dem 1. Juli: Dann tritt ein neuer Operationskatalog in Kraft, der wegen der bilateralen Verträge ans EU-Niveau angepasst ist. Er verlangt von Assistenzärzten statt 1100 noch 540 Operationen für den Facharzttitel. Nur noch die wichtigsten Operationen sind darin berücksichtigt, Kleinkram fällt weg. Die Assistenten müssen auch lernen, sich zu wehren, heisst es beim FMCH wie bei der FMH. «Sie müssen ihre Chefärzte auf Probleme ansprechen und fehlende Operationen einfordern», sagt FMH-Vertreter Giger. Doch davor schrecken viele Assistenten zurück, weil sie Gehässigkeiten seitens der Chefs befürchten. «Es braucht eine externe Anlaufstelle, wo Assistenzärzte sich hinwenden können, wenn sie keine genügende Ausbildung erhalten», fordert Oberarzt Kraus.

Dass die Ausbildung in manchen Spitälern und Teilbereichen der Chirurgie lahmt, bestätigen Umfragen, die die FMH jährlich durchführt. Auch letztes Jahr haben 618 Assistenzärzte an 97 Spitälern ihrer Ausbildung Schulnoten von 1 bis 6 gegeben. Diese Benotung kann letztlich auch etwas über die Qualität der Chirurgie eines Spitals aussagen. Der Beobachter publiziert die FMH-Auswertung im Internet (>> Download der Excel-Tabelle). Mit einer Einschränkung: Um eine seriöse Aussage zu gewährleisten, sind nur Spitäler aufgeführt, die von mindestens sechs Assistenzärzten bewertet worden sind.

Erschreckend schlechte Noten
Die Resultate der Umfrage sind alles andere als berauschend. Für den Gesamteindruck bekamen die Spitäler im Schnitt die Note 4,6 - 15 der 49 Spitäler, die der Beobachter berücksichtigt, fielen unter den Durchschnitt ab. Die Bewertung widerspiegelt, ob Assistenzärzte die Klinik punkto Weiterbildung empfehlen können und mit der Arbeitssituation zufrieden sind.

Im Schnitt lediglich eine 4,3 erhielten die Spitäler in Sachen Ausbildung der Fachkompetenz (Untersuchungen, Gespräche mit Patienten). Am Schluss der Rangliste: das Kreisspital für das Freiamt in Muri AG mit der Note 2,9 sowie das Kantonale Spital Walenstadt SG mit einer 3,4 (siehe Nebenartikel «Vermittlung von Fach- und Hintergrundwissen: Schlechte Noten»).

Bewertet wurde auch das Fach Evidence-Based Medicine (EBM). Dabei lernen Assistenten unter Konsultation von Studien, an Patienten nur jene Eingriffe vorzunehmen, deren Nutzen wissenschaftlich nachgewiesen ist. Doch ausgerechnet in dieser für Patienten wichtigen Disziplin kamen die Spitäler mit einer Durchschnittsnote von 2,9 krass ungenügend weg. In der Beobachter-Rangliste gabs für die zehn schlechtesten Spitäler sogar Noten zwischen 1,4 und 2,3.

EBM würde schon gelehrt, versichern die Chefärzte. Doch manche Assistenten bemerkten womöglich gar nicht, wann diese angewendet werde. Die Assistenten hätten EBM bei der Bewertung mit klinischer Forschung verwechselt. Er sehe das Problem noch woanders, sagt der Orthopäde Luzi Dubs, EBM-Spezialist am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie: «Ärzte in leitenden Funktionen nehmen EBM häufig als Angriff auf ihre Eminenz wahr. Sie schrecken vor einer kritischen, vertieften Auseinandersetzung mit der Literatur zurück.» Assistenzarzt Manuel Derungs fordert Konsequenzen: «Ein Spital, das in der Bewertung wiederholt schlecht abschneidet, muss zurückgestuft werden - und darf nicht mehr so viele Assistenten ausbilden.»

Immerhin: Vom Beobachter mit diesen Resultaten konfrontiert, versprechen viele Spitäler generelle Besserung: «Die Mängel sind uns bewusst. Wir haben bereits tief greifende Massnahmen eingeleitet», erklärt das Kreisspital für das Freiamt in Muri. Im Spital Riggisberg BE hat man die Möglichkeit erkannt, «Schwachstellen zu isolieren und für die nächste Zielperiode zu bearbeiten». Und das Kantonsspital Graubünden in Chur hat «Massnahmen zur Verbesserung bereits umgesetzt».