Medizinstudium: Leiche Nummer 379 wird zu «Alfons»
Im Präparierkurs müssen Medizinstudenten ein Jahr lang Leichen sezieren. Eine Aufgabe, die viel Selbstüberwindung verlangt – nicht nur von zarten Gemütern. Doch einigen macht sie sogar Spass, und sie finden die Arbeit richtig spannend.
Veröffentlicht am 2. April 2002 - 00:00 Uhr
Weiss gekachelte Wände, Betonsäulen, grosse Fensterfronten und Neonlicht. Dazu: neunzehn Leichen auf Edelstahltischen. Die Toten sind mit hellen Tüchern zugedeckt, vereinzelt ragt ein Fuss oder eine Hand heraus. Die Atmosphäre ist klinisch. An den Wänden hängen farbige Originalzeichnungen von Muskelsträngen des Oberkörpers oder vom Nervengeflecht des Schädels.
«Ist das die 8?» Gemeint ist die Nummer des Tisches, auf dem die Leiche liegt. Gut hundert Studentinnen und Studenten in weissen Arztkitteln drängeln sich in die drei ineinander übergehenden Präpariersäle des Anatomischen Instituts der Universität Zürich. Das Stimmengemurmel wird leiser, viele Studenten sind blass, einige haben vor Aufregung gerötete Wangen. Eine junge, langhaarige Studentin sagt: «Mir ist jetzt schon schlecht!»
Der grosse, fast kahlköpfige Professor und Institutsleiter Peter Groscurth, der ab und zu an seinem grauen Bart zupft, kommt herein. Er zeigt in einem Videofilm, wie die Pinzetten und die Skalpelle richtig gehalten werden müssen, welches Instrument für welchen Schnitt am besten geeignet ist.
Alle haben die kleinen Holzkistchen mit dem Präparierbesteck dabei. Rund achtzig Franken kostet so ein Sezierkasten. Fein säuberlich liegen darin Skalpelle mit verschiedenen Klingengrössen, Pinzetten und Scheren. Noch niemand hat die Skalpelle benutzt. Einigen Studenten steht die Frage ins Gesicht geschrieben: Muss ich damit wirklich in totes Menschenfleisch schneiden?
In Sechsergruppen versammeln sich die Studenten um ihre Tische. «Als der Assistent die Leiche aufgedeckt hat, da ist mir ganz mulmig geworden», sagt die 21-jährige Susanne. Gemeinsam mit Christian, Viviana, Boris, Sabina und Corinna steht die Aargauerin vor Leiche Nummer 379. Die vier Frauen und zwei Männer haben sich vorher kaum gekannt. Zusammen sind sie Tisch 8 und Nummer 379 zugeteilt worden. Nummer 379 war ein Mann. Die roten Plastikzettel mit der Nummer sind an seinem Ohr, der Hand und am Fuss befestigt. Wer Nummer 379 war, Name oder Alter, woran er gestorben ist, das erfahren die Studenten nicht.
Er ist etwa 185 Zentimeter lang, ockerfarbig, muskulös und füllt fast den ganzen Tisch aus. Ob der Mann 50 oder 70 war, ist schwer zu sagen. Merkwürdig alterslos liegt der wächserne, rasierte Körper da. «Eine schöne Leiche», meint Professor Groscurth. Denn Nummer 379 ist schlank und gross. Und deshalb einfacher zu sezieren, nur wenig Fett wird die Sicht auf die Nerven und Muskeln verdecken.
Zuerst muss aber die Haut wegpräpariert werden. Doktor Béla Szarvas aus Ungarn, der für die Tische 7 und 8 zuständig ist, zeigt seinen Studenten, wie das geht. Auf den toten Körpern ist eine Art Schnittmuster mit schwarzen Linien und Pfeilen vorgezeichnet. Die Studenten ziehen sich die weissen Plastikhandschuhe an und beugen die Köpfe neugierig über die Leiche. Szarvas macht den ersten Schnitt. Zum Vorschein kommt gelbes Fettgewebe, das mit Formalin voll gesogen ist. Der Geruch ist beissend, scharf und süsslich.
«Der erste Schnitt in die Haut, das ist schlimm», sagt Boris. Etwas aufzumachen, was einmal ein Mensch war, ist ihm nicht leicht gefallen. «Man muss fest zudrücken mit dem Messer, die Haut ist wie Leder. Eine derbe Sache», fügt er an. Der blond gelockte Boris ist Sportler, Langläufer. Bis zu 25 Stunden trainiert er pro Woche – neben dem Studium. «Das härtet ab», meint er.
Drei Nachmittage pro Woche beschäftigen sich die Studenten mit den Leichen. Ein Jahr lang. In dieser Zeit werden die Körper systematisch von aussen nach innen zerlegt. Eine traditionsreiche Tätigkeit: Schon vor 500 Jahren haben Ärzte Leichen seziert. In der Renaissance entstand das erste anatomische Werk der Neuzeit. Der flämische Arzt Andreas Vesalius versuchte darin, den menschlichen Körper in seiner tatsächlichen äusseren und inneren Form abzubilden.
Die Erforschung der toten Körper ist wichtig für die moderne Medizin. Das sollen die angehenden Ärzte und Ärztinnen selber erfahren. «Den menschlichen Körper kann man nur so im Detail kennen lernen. Mit Computersimulationen ist das nur bedingt möglich», sagt Groscurth. Der gebürtige Berliner unterrichtet seit dreissig Jahren in Zürich. Im Laufe seiner Karriere hat er Hunderte von Leichen seziert.
Am Ende des Nachmittags deckt Präparator José Pérez die Leichen mit feuchten Tüchern zu, damit sie nicht austrocknen. Er arbeitet seit zehn Jahren im Anatomischen Institut. Früher war der 56-jährige Spanier Kellner. Da er nicht mehr so unregelmässig arbeiten wollte, nahm er damals die Stelle als Präparator an. «Ich habe hier das erste Mal in meinem Leben mit Leichen zu tun gehabt», erzählt er. Er leiste schwere körperliche Arbeit, aber er kenne die Tricks, damit sein Rücken nicht zu fest belastet werde.
Die Präparatoren bereiten die Leichen für die Anatomiekurse vor: Via Oberschenkelarterie durchspülen sie die Blutgefässe mit einer Lösung aus Salzen und Formalin. So werden alle Verfallprozesse des Körpers gestoppt. Zehn bis 20 Stunden dauert dieser Vorgang. Danach werden die Körper in Plastik eingeschweisst und in Tanks sechs bis neun Monate gelagert, bis die Fixation abgeschlossen ist. Dann kommen sie unters Messer der Studenten.
Susanne und Christian schütteln ihre Hände, sie haben Muskelkater. «Das war ganz schön anstrengend», erklärt Christian, der in seiner Freizeit Modellflugzeuge baut, und schiebt sich seine Brille zurecht.
Unter Medizinern ist der Präparierkurs umstritten. Einige sprechen von einem blossen Ritual, das die Studenten überstehen müssten, einer Art Initiationsritus. In Reformstudiengängen in Deutschland, den Niederlanden und den USA wird denn auch auf Sezieren als Pflichtfach verzichtet. Jean Biaggi von der Schweizerischen Gesellschaft für Chirurgie sagt: «Natürlich ist es wichtig, die genaue Lage der Organe zu kennen. Aber muss man deshalb selber sezieren? Ein gutes Präparat als Anschauungsmodell reicht doch aus.»
Eine Woche später: Die Stimmung im Präpariersaal ist gelöster als beim ersten Mal. Die Studenten von Tisch 8 arbeiten konzentriert an ihrer Leiche. Mittlerweile hat Nummer 379 einen Namen bekommen: Sie heisst jetzt «Alfons». Das war Boris’ Idee. «Man kann sonst nicht gut drüber reden», sagt er. Und niemand habe jemanden gekannt, der so heisse. Deshalb sei das nun der «Alfons».
Die Medizinstudenten präparieren gleichzeitig verschiedene Körperregionen: Boris und Christian bearbeiten die Leistengegend, Susanne und Sabina die Brust und Corinna und Viviana den Hals. Die Haut von «Alfons» haben sie schon weitgehend entfernt, aber das Fett macht den Studenten zu schaffen. Obwohl die Leiche schlank ist, weist sie in der Hüftgegend Fettberge auf. Die Studenten zupfen mit der Pinzette das Fett heraus und werfen es in die Plastikschale, die laut Beschriftung für die «menschlichen Abfälle» gedacht ist. Schnell ist die Schale voll.
Für die Abfälle gelten strenge Regeln: Papier und Handschuhe gehören in die grossen Jutesäcke, die auf der einen Seite der Betonsäulen stehen, Präparatreste kommen in den kleinen grauen Kübel auf der anderen Seite. Die «menschlichen Abfälle» werden kremiert.
Am Kopf- und am Fussende der Tische stehen auf einer Art Notenständer die Kursunterlagen und Anatomieatlanten der Studierenden. Immer wieder beraten sie sich über auftauchende Fragen und suchen Antworten in den Büchern. «Welcher Muskel ist das?», will Susanne wissen und zeigt auf einen freigelegten braunen Bauchmuskelstrang. «Alfons» hat wie jeder Mensch rund 300 Muskeln.
Ab und zu fällt eine Pinzette auf den Boden, es klirrt, und Corinna erschrickt. Corinna mit den Rehaugen ist 20 und kommt aus Massagno bei Lugano. Schweizerdeutsch versteht sie schlecht, und der Kurs macht ihr sichtlich Mühe: «Es ist vor allem der Geruch», sagt sie, «den ertrage ich fast nicht. Ich atme nur durch den Mund, sonst halte ich es nicht aus.» So versteckt sie sich denn auch meist etwas hinter den anderen und lässt lieber ihrer neugierigen und zupackenden Kollegin Susanne den Vortritt.
Susanne ist seit Jahren im Badener Samariterverein. Sie kennt den menschlichen Körper von den Erste-Hilfe-Kursen her bereits bestens. Der Kurs macht ihr Spass: «Unter der Fettschicht wird der Körper richtig spannend.» Es sei interessant, nach den Muskeln und Nerven zu suchen und sie benennen zu können.
Der Professor läuft herum, hilft hier, erklärt dort etwas: «Am besten denkt man nicht zu viel und präpariert einfach. Mit der Zeit verfliegt der Ekel, und das Interesse und die Faszination, etwas über den menschlichen Körper zu erfahren, rücken in den Vordergrund.» Er zeigt Boris, dass er die Hautlappen straff nach hinten halten muss, um gut schneiden zu können.
Immer wieder fragt der grauhaarige Béla Szarvas, Betreuer von Tisch 8, die Studenten ab. Er will wissen, wie dieser oder jener Muskel heisst. «Welcher Muskel bewegt sich auch im Ruhezustand vierzehn Mal pro Minute?» Die sechs schauen sich fragend an. «Das Diaphragma natürlich», antwortet er prompt selber. Das Zwerchfell, die muskulöse Scheidewand zwischen Brust- und Bauchhöhle, bewegt sich immer beim Atmen, auch im Schlaf. Er möchte die Studenten anspornen. Ab und zu auch mit Witzchen: «Welcher Mensch hat keinen Nabel?» Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: «Jesus natürlich», lacht Szarvas. «Das war jetzt echt die Quizfrage», reagiert Christian trocken.
«Ich muss noch so viel lernen», stöhnt Viviana, neben dem Studium Eiskunstläuferin, «ich habe zum Beispiel noch gar keinen Überblick über das Gefässsystem.» Immer wieder habe sie sich gefragt, wer der «Alfons» wohl gewesen sei, wie der gelebt habe. Oft rede sie mit ihren Freundinnen darüber, die für ihre Arbeit aber wenig Verständnis hätten und oft geschockt reagierten. Aber: «Ich muss mich abgrenzen. Sobald ich am Arbeiten bin, ist der Tote nur noch ein wissenschaftliches Objekt, sonst geht das nicht.»
Kurz darauf findet die jährliche Gedenkfeier für Angehörige der Körperspender statt. So werden diejenigen bezeichnet, die ihren Körper für die Zeit nach dem Ableben mit einem Formular – ähnlich dem Organspenderausweis – der Wissenschaft vermachen. «Alfons» zum Beispiel. Auch die Studenten sind zur Feier eingeladen.
Auffällig viele ältere Personen warten vor dem grossen Hörsaal im Anatomischen Institut, der zum Gedenksaal umfunktioniert worden ist. Zwei grosse gusseiserne Ständer mit Bienenwachskerzen und ein Blumenstock sollen dem nüchternen Hörsaal einen festlichen Rahmen geben. Professor Groscurth verneigt sich in seiner kurzen Rede verbal vor diesen «ausserordentlichen Menschen für ihr wichtiges Geschenk und ihre Unterstützung der Medizinausbildung». Ein reformierter und ein katholischer Pfarrer sprechen den Angehörigen Mitgefühl und Dank aus. «Das Leben ist ein Geben und Nehmen. Die Menschen, deren wir hier gedenken, haben dies in besonderem Mass berücksichtigt», sagt einer der Pfarrer. Viele der rund fünfzig Angehörigen haben die Augen geschlossen und sitzen mit gefalteten Händen in den Pultreihen.
Zwei Wochen später: «Alfons» ist mittlerweile auf den Bauch gekehrt worden. Nun muss die Nacken- und Rückenregion präpariert werden. Auch die Haut des Schädels wird entfernt. Die hellblonde Sabina, 21, aus Luzern ist nachdenklich: An der Abdankungsfeier hat sie all die Angehörigen gesehen. «Da dachte ich plötzlich, wer wohl die Verwandten von unserer Leiche sind. Was war ‹Alfons› für ein Mensch? Wie hat er gelebt, und wie sah er aus?» Sie schiebt die Gedanken weg. Der Anatomiekurs ist schliesslich Pflichtfach. Und sie muss noch weiterpräparieren.