Einen Traumjob finden nur die Besten
Tausende von leistungsschwachen Schulabgängern suchen vergeblich einen Ausbildungsplatz. Eine wachsende Zahl von ihnen landet früher oder später auf der Strasse oder beim Sozialamt. Eine Zeitbombe.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Andrea will Verkäuferin werden, Aisha Coiffeuse, Quendrim Autolackierer. Die drei ehemaligen Realschüler im Kanton Aargau haben etwas gemeinsam: Sie schlossen diesen Sommer ihre neun obligatorischen Schuljahre ab, suchen aber noch immer ihre Wunschlehrstelle – und werden sie wohl nie finden.
Fast 120'000 Jugendliche standen dieses Jahr vor der Berufswahl. Davon interessierten sich 80'000 für eine Berufslehre. Ein Drittel von ihnen hatte im April noch keine Lösung für die berufliche Zukunft gefunden. Wie viele Schulabgänger Mitte September noch immer ohne Ausbildungsplatz dastanden, zeigt keine Statistik.
«Erfahrungsgemäss wird ein erheblicher Teil der Schulentlassenen ohne Anstellung eine weitergehende Schule absolvieren», glaubt Thomas Bachofner vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT). Immerhin: «Die Warteschlaufe scheint sich nicht weiter aufgebläht zu haben.»
Die Zahl der Jugendlichen in der Warteschlaufe – das heisst auf der Suche nach einem Job – hatte vor allem im letzten Jahr markant zugenommen, wie eine Studie der Universität Bern zeigt. Die Verfasser schätzen, dass 1998 rund 10'000 Jugendliche in einer Übergangslösung steckten.
Dazu zählen etwa ein freiwilliges zehntes Schuljahr oder ein Zwischenjahr im Haushalt oder in einer Privatschule. Marianne Gertsch von der Koordinationsstelle für Weiterbildung an der Uni Bern und Mitautorin der Studie sagt: «Die Anforderungen der Arbeitgeber an Schulabgänger sind enorm gestiegen. Viele passen nicht mehr auf die Stellenprofile.»
Schulabgängern ohne Arbeit stehen in den meisten Kantonen verschiedene Programme zur Überbrückung zur Auswahl. Sie sollen verhindern, dass Jugendliche nach der obligatorischen Schulzeit auf der Strasse landen. Dazu zählen Vorlehren – eine Kombination von Berufsschule und Arbeitspraktikum – oder Integrationskurse. Hier wird vor allem intensiv Deutsch unterrichtet und praktisch gearbeitet.
Viele stellensuchende Jugendliche landen als Arbeitslose über eine Regionale Arbeitsvermittlung (RAV) in einem Eingliederungsprogramm und absolvieren ein so genanntes Motivationssemester. Ziel ist auch hier, die Betroffenen mit gezieltem Unterricht, Praxiseinsätzen und intensiver Betreuung für eine Arbeit in ihrem bevorzugten Beruf vorzubereiten.
Allein in den Kantonen Zürich, Bern, St. Gallen und Solothurn dürften sich zurzeit insgesamt gegen 2000 Jugendliche in solchen Spezialprogrammen befinden. Je nach Kanton sind das bis zu 7,5 Prozent aller Schulentlassenen.
24 stellenlose Schulabgänger sind bei «Circle 4» gelandet, einem Qualifizierungsprogramm des Kantons Solothurn. Unter den zwei Dutzend Jugendlichen befinden sich zwanzig Ausländerinnen und Ausländer, vorwiegend aus Ex-Jugoslawien, aus der Türkei, von den Philippinen und aus Somalia. Einzige Gemeinsamkeit: Praktisch alle haben die Oberschule oder eine Werkklasse hinter sich.
In den nächsten sechs bis maximal zwölf Monaten stellen die Jugendlichen bei «Circle 4» Papiermache-Figuren und Holzprodukte her. Produkte, die das lokale Gewerbe nicht konkurrenzieren dürfen. Daneben gehen sie eineinhalb Tage pro Woche zur Schule, besichtigen Firmen, lernen Bewerbungen schreiben.
Oft wenig Deutschkenntnisse
«Das ist super und besser als stempeln», sagt Claudio. Ledeyna arbeitet lustlos: «Diese Arbeit macht nicht so Spass.» Sie möchte lieber in einer Boutique Kleider verkaufen. Am Nebentisch kaschieren Ahmed und Stefan einen lebensgrossen Affen. In vier Tagen muss er fertig sein. Der Auftraggeber bezahlt dafür 150 Franken.
Die beiden 17-Jährigen sehen ihre Zukunft nicht im Herstellen von Gänsen, Osterhasen, Fischen oder Kühen aus Papiermache. Ahmed sucht eine Lehrstelle in der Metallbranche. Stefan will Koch oder Automechaniker werden: «Im Dezember kann ich einen Eignungstest machen.»
Die Gründe der erfolglosen Lehrstellensuche von Schulabgängern liegen nicht primär im knappen Angebot. Zwar gibt es in bestimmten Berufen – etwa in den Bereichen Informatik – viel zu wenig Lehrstellen. Auf der anderen Seite waren nach den Sommerferien je nach Kanton noch Hunderte von Lehrstellen offen.
Allein im Kanton Graubünden gab es Anfang August 300 freie Lehrplätze. Gesucht wurden vor allem Zimmerleute, Schreiner, Köche und Fachleute im Gastgewerbe. Im Kanton Aargau waren Anfang September gar rund 500 Lehrstellen unbesetzt. Es fehlten insbesondere Verkäuferinnen, Maurer, Spengler, Elektromonteure und Metzger.
Probleme mit dem Einmaleins
Diese Berufe zählen sicher nicht zu den Traumberufen. Sie verlangen aber alle ein bestimmtes Schulniveau. Und hier liegt das Grundproblem: Die meisten Schulabgänger, die in Übergangsprogrammen landen, bringen einen zu dürftigen Leistungsausweis mit. Unter den leistungsschwachen Schulabgängern finden sich vor allem fremdsprachige Jugendliche mit keinen oder ungenügenden Deutschkenntnissen. Viele von ihnen sind Spätimmigrierte, die erst seit kurzem in der Schweiz sind.
Massive Leistungsschwächen zeigen aber auch Schulabgänger – Ausländerinnen und Schweizer –, die neun Schuljahre in der Schweiz absolvierten. 35 geteilt durch 5? 18,085 Kilometer minus 36 Meter? 3/4 plus 1/2? Für viele Absolventen des «Circle 4»-Programms sind solche Rechnungen schwierig oder unlösbar.
Besonders Aufgaben, die vernetztes Denken verlangen, sind für einige kaum zu bewältigen. «Von 7,5 Kilogramm ungeröstetem Kaffee geht durch das Rösten ein Fünftel verloren. Wie viel wiegt der geröstete Kaffee?» Die Antworten bewegen sich zwischen null und 140 Kilogramm.
«In welchem Jahr wurden Sie geboren?», fragt Lehrer Hans Burri beim Erstellen eines Lebenslaufmusters eine Kursteilnehmerin. «Weiss nicht.» Dann solle sie aufgrund ihres heutigen Alters zurückrechnen. «Kann ich nicht.» Auch im schriftlichen Ausdruck hapert es: «In Moment weise ich nicht genau was meine Berufwunsch ist. Weil ich möchte ales Probieren was für mich gefält», schreibt eine Schulabgängerin.
Deutsch und Mathematik sind Schwerpunkte in Hans Burris Unterricht. Er macht sich allerdings keine Illusionen: «Ich kann hier niemandem in wenigen Monaten perfektes Deutsch beibringen, wenn andere dies in neun Jahren nicht schafften.»
Wer kein Zahlenverständnis habe und die Sprache nicht beherrsche, finde keine Stelle, sagt Roger Fibich, Geschäftsleiter von «Circle 4». «Da nützen auch hundert Bewerbungen nichts.»
Dass sich kaum ein Lehrmeister findet, der sich freiwillig mit leistungsschwachen Lehrlingen herumschlagen möchte, ist nachvollziehbar. «Mit meinem Kleinbetrieb kann ich keinen überdurchschnittlichen Betreuungsaufwand leisten», sagt etwa ein Schreinermeister.
Ausländische Jugendliche haben neben ihrem ungenügenden Schulwissen noch ein weiteres Handicap: ihre Nationalität. «Wer aus dem ehemaligen Jugoslawien oder aus der Türkei kommt, hat allein schon wegen seiner Herkunft verminderte Chancen», konstatieren Lehrkräfte, Berufsberater und RAV-Beraterinnen.
«Mancher Lehrmeister geht davon aus – zu Recht oder Unrecht –, dass bei gewissen Nationen Konflikte häufiger vorkommen oder die Arbeit nicht so ernst genommen wird», heisst es unter anderem in einer neuen Studie zu den Gründen von stellenlosen Jugendlichen, die im Auftrag der Bildungsdirektion des Kanons Zürich verfasst wurde. Weitere Gründe bei Schweizern und Ausländern seien Unzuverlässigkeit, ungenügende Disziplin, schwache Motivation und eine unrealistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten.
Das stellt auch Herbert Enggist, Geschäftsführer von «Circle 4», fest. «Die meisten stellenlosen Schulabgänger haben völlig falsche Vorstellungen und illusorische Berufswünsche. Wer schwach in der Mathematik ist, besteht keine Schreinerlehre. Wer kaum Deutsch kann, findet keine Coiffeurstelle.» Enggists heikle Aufgabe ist es, die Jugendlichen möglichst schnell sanft auf den Boden der Realität zu holen.
Es droht der definitive Absturz
Wenige Glückliche werden nach dem «Circle 4»-Programm einen Lehrvertrag in der Tasche haben. Die meisten müssen sich mit einer Anlehre oder einem Hilfsarbeiterjob begnügen. Wenn überhaupt. Die Weiterbildungsexpertin Marianne Gertsch fand in einer letztjährigen Erhebung unter sechzehn Kantonen heraus, dass nur etwa drei Viertel aller Teilnehmer von Uberbrückungsprogrammen einen Platz in der Wirtschaft fanden. «Wo die übrigen landen, wissen wir nicht», sagt Gertsch.
«Muslimische Frauen dürften zu Hause in der Familie verschwinden», glaubt Marc Sonder, Leiter der Berufsberatung des Kantons Graubünden. Wer als Schulabgänger den Sprung ins Erwerbsleben auch nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nicht geschafft hat, fristet nicht selten ein Leben als Rentenbezüger der Invalidenversicherung – oder landet früher oder später bei der Sozialhilfe. Schon heute, so schätzen die Schweizer Gemeinden in einer Umfrage, ist fast jeder zwölfte Sozialhilfebezüger unter zwanzig.
Hoffen auf die Zukunft
Beängstigend ist auch, dass rund 15 Prozent aller Jugendlichen in der Schweiz über keinen Schulabschluss auf der zweiten Sekundarstufe verfügen. Das heisst, sie kommen damit für viele Berufslehren nicht in Betracht, weil die Anforderungen gestiegen sind und es an so genannt niederschwelligen Ausbildungsplätzen fehlt.
Dies haben Wirtschaft, Politiker und Behörden inzwischen erkannt. Im Rahmen der Lehrstellenoffensive des Bundes wurden vor zwei Jahren 60 Millionen Franken zur Sicherung und Erweiterung des Lehrstellenangebots lockergemacht. Im zweiten Lehrstellenbeschluss, der im nächsten Jahr greifen sollte, sind 40 Millionen für Ausbildungsplätze für Schwächere vorgesehen. Konkrete Projekte, die der Bund und die Kantone anbieten sollen, gibt es allerdings noch keine.
Roger Fibich, Geschäftsleiter von «Circle 4», kritisiert den extremen Föderalismus: «Alle Beteiligten versuchen, das Rad neu zu erfinden – und das kostet wahnsinnig viel Geld. Die Jungen wollen vor allem arbeiten. Und zwar nicht in Programmen, sondern in der Wirtschaft.» Fibich fordert deshalb, Arbeitgeber, die Arbeitsplätze schaffen, finanziell zu belohnen.
Auch das neue Berufsbildungsgesetz (BBG) zielt unter anderem darauf ab. Vorgesehen ist ein eidgenössisches Berufsattest, das an die Stelle der heutigen Anlehre ohne erfolgreichen theoretischen Abschluss tritt. Die neue berufspraktische Ausbildung soll Personen mit Lernschwierigkeiten befähigen, einfachere Berufstätigkeiten auszuführen. Der Lehrgang wird mindestens zwei Jahre dauern und auch Personen offen stehen, die seit Jahren als Ungelernte arbeiten. Wer das Attest besitzt, kann danach eine abgekürzte Lehre absolvieren. Doch bis dies so weit ist, wird es einige Zeit dauern: Das BBG ist erst in der Vernehmlassung und dürfte frühestens auf Anfang 2003 in Kraft treten.
- Marianne Gertsch, Caterina Modetta, Karl Weber
Der Lehrstellenbeschluss - Evaluation
1. Zwischenbericht
Fr. 26.–
zu bestellen bei:
Uni Bern, Koordinationsstelle für Weiterbildung
Falkenplatz 16, CH-3012 Bern
Tel. (031) 631 39 28
Fax (031) 631 33 60 - Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation
- www.berufsbildung.ch/
ein Portal für Bildungsschaffende in der Schweiz - Schweizerische Studien- und Berufsberatung
- Institut für Berufs- und Lebensgestaltung
- Schweizerischer Verband für Berufsberatung