20-Jährige zieht Uni Bern vor Bundesgericht
Marion Vassaux will Tierärztin werden. Wegen einer Lesestörung hat sie bei Prüfungen Anspruch auf mehr Zeit. Aber nicht beim Numerus Clausus, findet die Uni Bern. Nun geht die junge Frau vor Gericht.
Veröffentlicht am 12. Juni 2023 - 16:05 Uhr
Es kostete Marion Vassaux ganz schön viel Mut, gegen die Universität Bern vor Bundesgericht zu ziehen. «Wenn man gegen eine grosse Institution kämpft, fühlt man sich sehr klein und alleine.» Trotzdem will die 20-jährige Lausannerin ihr Recht einfordern. «Ich wollte Tierärztin werden, die Tiermedizinische Fakultät hat dies verhindert, weil sie mir bei der Aufnahmeprüfung Numerus Clausus keinen Zeitaufschub gewährte.»
Weil Vassaux eine Lese-Rechtschreibstörung hat – in der Fachsprache Dyslexie und Dysorthographie genannt –, steht ihr bei Prüfungen zusätzliche Zeit zu. So will es das Behindertengleichstellungsrecht. Wenn Vassaux Texte liest, vermischen sich die Laute in ihrem Kopf. Ein Pferd ist in ihrem Kopf erst ein Fpred. Nur durch langsames Lesen kann sie die Wörter entziffern. Und wenn sie schreibt, bringt sie die Wörter so zu Papier, wie sie ausgesprochen werden. Statt Physiker würde sie ohne Autokorrektur «Füsiker» schreiben, ein Gourmet wird zum «Gurme». «Ich sehe die Fehler nicht, für mich sehen die Wörter richtig aus.»
Aber ist es eine Kernkompetenz für eine Tierärztin, schnell lesen und schreiben zu können? Ist es nicht, finden die Behindertenfachorganisation Inclusion Handicap und Marion Vassaux. «Wenn ein Pferd eine Kolik hat, muss man die Symptome erkennen und rasch handeln . Die Lese- und Schreibschwäche hindert mich ja nicht daran», sagt Vassaux.
Die Universität Bern sah das offenbar ähnlich und sicherte Vassaux die Zusatzzeit zu – aber erst für die Semesterprüfungen. Die Aufnahmeprüfung Numerus Clausus sei davon ausgenommen. Die Hochschule argumentierte, die Prüfung sei ein Wettbewerb, um die besten Talente zu selektieren. Die Resultate wären nicht mehr vergleichbar, und Vassaux hätte einen Vorteil gehabt gegenüber anderen Studierenden, wenn man ihr ein Drittel mehr Zeit gewährt hätte.
Das sei nicht so, sagt Vassaux. «Der Ausgleich dient nur dazu, das Handicap etwas abzufedern.» Ganz kompensieren könne der Nachteilsausgleich ihre Dyslexie nicht. «Ich muss trotzdem viel mehr arbeiten als andere Studierende.» Darüber beklagen mag sie sich nicht, denn es sei ihr Entscheid, zu studieren. «Und darauf habe ich wirklich grosse Lust.»
Obwohl sie wusste, dass ihre Chancen auf Erfolg gemindert sind, trat sie zur Prüfung an. «Ich wollte nicht einfach kapitulieren und hoffte darauf, dass ich es vielleicht schaffe.» Es reichte nicht, und Vassaux rekurrierte. Zuerst bei der Universitätsleitung, später beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Da dieses den Entscheid der Uni mit drei zu zwei Stimmen stützte, geht Vassaux nun mit Hilfe von Inclusion Handicap einen Schritt weiter und lässt die Bundesrichter entscheiden.
Es geht um die Frage, ob es zulässig ist, dass die Medizinische Fakultät ihr während des Studiums bei Prüfungen mehr Zeit gibt, nicht aber bei der Aufnahmeprüfung. Das sei juristisch eine spannende Frage, die bisher noch nicht abschliessend geklärt sei, sagt Caroline Hess-Klein, Abteilungsleiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap. Der Numerus Clausus wurde aus vorwiegend ökonomischen Gründen eingeführt, damit man bei Fächern mit begrenztem Platz die Studienplätze denjenigen zur Verfügung stellen kann, die voraussichtlich wenig Studienzeit benötigen.
Dass man bei ihr als Dyslektikerin davon ausgehe, dass sie länger studieren werde als andere, zeige, dass die Universitäten noch zu wenig wüssten über die Beeinträchtigung, sagt Vassaux. «Es ist klar, dass wir mehr arbeiten müssen als andere, aber das findet nach der Vorlesung statt.» Andere Studierende würden durch ihre Anwesenheit keinen Nachteil erleiden. Einzig bei der Institution falle etwas mehr Aufwand an: Elf Mal im Jahr müssen sie den Prüfungsraum eine Stunde länger zur Verfügung stellen. «Für mich ist das aber keine verlorene Zeit, das sollte für eine grosse Universität verkraftbar sein.»
Vassaux’ Prozess- und Anwaltskosten werden von einem speziellen Fonds von Inclusion Handicap für richtungsweisende Prozesse getragen. Obwohl ihr bei einem negativen Bundesgerichtsurteil also keine finanziellen Nachteile drohen, erwarten sie und Caroline Hess-Klein den Bescheid mit Spannung. «Das Bundesgericht könnte dafür sorgen, dass die Diskriminierung von Menschen mit Dyslexie beseitigt wird», sagt Hess-Klein.
Denn das Urteil des Verwaltungsgerichts habe Signalwirkung: Alle Schweizer Universitäten würden sich auf den Berner Entscheid stützen, vermutet Hess-Klein. Damit sei der Zugang für Menschen mit einer Legasthenie für alle Studienfächer mit Numerus Clausus erschwert. Schätzungen zufolge sind rund fünf Prozent der Bevölkerung von Dyslexie betroffen. Man habe den Schritt ans Bundesgericht also wagen müssen, auch wenn ein negativer Bescheid die Sache für Jahre zementieren würde.
Auf Marion Vassaux’ beruflichen Weg hat das Urteil des Bundesgerichts momentan keinen Einfluss mehr: Sie wollte nicht auf den Gerichtsentscheid warten, zu viel wertvolle Zeit wäre für die junge Frau verstrichen. Sie hat sich unterdessen für ein Biomedizinstudium in Genf eingeschrieben. Umso mehr bewundert Hess-Klein Vassaux’ Motivation, sich in ein solches Verfahren zu begeben. Es brauche Mut, für sein Recht einzustehen.
Und wie sieht das Vassaux selbst? «Ich möchte, dass die Öffentlichkeit über diese Sache aufgeklärt wird.» Darum überwindet sie ihre Bedenken, dass sich Leute ein vorschnelles, negatives Urteil über sie bilden könnten, ohne den Menschen hinter der Sache zu sehen. «Der Frust, sich nicht gehört zu fühlen und zu wissen, dass man trotz enormem Engagement nicht die gleichen Chancen wie andere hat, ist grösser als die Sorge vor negativen Reaktionen.»
6 Kommentare
An die Autorin der Artikels. - Die junge Dame hat Dyslexie/Legasthenie oder eine Lese-Rechtschreibstörung. Und nicht wie im Artikel genannt eine Leseschwäche oder Lese- und Schreibbeeinträchtigung. In dem verlinkten Artikel der Autorin wurden die Begriffe richtig benutzt. - Von Dyslexie/Legasthenie oder Lese-Rechtschreibstörung (LRS) spricht man, wenn die Schwierigkeiten andauernd auftreten und nicht auf das Entwicklungsalter, nicht auf eine unterdurchschnittliche Intelligenz, nicht auf fehlende oder mangelhafte Beschulung (z.B. durch häufigen Klassen- oder Ortswechsel), nicht durch eine psychische Erkrankung oder Hirnschädigung verursacht sind -Von Lese-Rechtschreibschwäche spricht man, wenn die Schwierigkeiten nicht andauernd auftreten, auf eine unterdurchschnittliche Intelligenz, auf fehlende oder mangelhafte Beschulung (z.B. durch häufigen Klassen- oder Ortswechsel), durch eine psychische Erkrankung oder Hirnschädigung verursacht sind. - Auch die Schätzungen, dass rund fünf Prozent der Bevölkerung von Dyslexie betroffen sind, ist veraltet. Da in der Schweiz selten auf Dyslexie getested wird und die Lehrer sich des Themas weniger bewusst sind, sind die Prozente geringer hier. Heutzutage nimmt man an dass etwa 15-20% betroffen sind. Also 2 oder mehr Kinder in jeder Klasse.
Quellen: WHO, vds.ch, Yale University
Guten Tag Frau Rauch
Vielen Dank für Ihre Nachricht. Sie haben Recht, das war fachlich nicht ganz korrekt, auch wenn man umgangssprachlich diese Ausdrücke oft verwendet. Wir haben die Stellen nun entsprechend korrigiert.
Freundliche Grüsse,
Chantal Hebeisen, Redaktorin Beobachter
Hört doch endlich mit Eurem Antidiskriminierungsschwachsinn auf! Wer Legasthenie hat muss sich halt abfinden, dass er für den Numerus Clausus nicht geeignet ist! Auch ich habe Leghastenie, die wächst sich in 60 Altersjahren aus! Ich habe vieles nicht machen können, was ich wollte, so ist das nun mal so! Ende der Fahnenstange! Wer einen Arm weniger hat hat nun mal ein Handycap, aber jeder Eingeschränkte führt sich auf wie die Prinzessin auf der Erbse. Das ist wohl die Diktatur der Minderheit beruhend auf idiotischen Gesetzen! Ich bin dankbar dass ich so alt bin und bald vom Wahnsinn dieser postmodernen Spinnern befreit werde und der Anspruchshaltung einer selbstverliebten Narzisskultur!
Vor 150 Jahren erhielten die Armen keine Bildung, weil sie diese nicht verdienten. Oder weil die Leute dachten, ein Bauer oder Arbeiter bräuchte keine Ausbildung. Vor 100 oder weniger Jahren konnten Menschen im Rollstuhl nicht zur Schule gehen, weil die Schulen nicht für Rollstuhlfahrer zugänglich waren. Sollte jemand der im Rollstuhl sitzt, sich damit abfinden dass er nicht in die Schule oder Uni kann? Zeiten ändern sich.
Ich glaube nicht, dass Sie Legastheniker sind, sonst wüssten Sie, dass die Legasthenie Sie ein Leben lang begleiten wird. Es wächst sich in 60 Altersjahren nicht aus!
Wie, jemand mit Dyslexie dürfte den NC bei positivem Bundesgerichtsentscheid machen + evtl. bestehen? Was soll ich denn sagen, beim Uni BE-Angebot 30+ (Erwachsene ohne Matur)? Für diesen NC hätte auch ich 30% mehr Zeit gebraucht, andere unter 30jährige kontrollierten ihren Test schon, während ich diesen erst zu 75% fertig hatte, wegen meiner altersmässig schwächeren Augen! Hätte auch ich protestieren sollen, dass ich's nicht bestand? Wenn schon Angebot 30+, dann sollte so was berücksichtigt werden bzw. kein NC - ausser bei Medizinstudium, aber das ist für 30+ ohnehin ausgeschlossen. Bei Mensa-Prüfung (Hochbegabte), wo wird gerade auf solche Details (Alter etc.) Rücksicht genommen bei der Auswertung. Aber bei einem Dr. (med. , dent. vet.) erwarte auch ich jemanden, der lesen, reden, schreiben kann - ohne Dyslexie!!! Wenn ich als deren Kundin mit Hund ein Rezept nicht verstehe, wie soll mir dann diese Tierärztin mit den Angaben des Medis helfen? Unmöglich. Dann von vornherein eben keine Sonderbehandlung beim NC. Ein Arzt muss mir in gewisser Weise überlegen sein. Dafür ist der NC da.
Das Augenargument brachte mich zum Lachen. Kinder, die nicht gut sehen, sollten keine Brille tragen dürfen, das könnte ihnen doch einen Vorteil verschaffen, nicht wahr? Man kann die zusätzliche Zeit für jemanden mit Legasthenie damit vergleichen, jemanden eine Brille tragen zu lassen. Sie sollten sich über das Thema Legasthenie informieren, bevor Sie unsinnige Kommentare veröffentlichen. Menschen mit Legasthenie können lesen, sprechen und schreiben! Vielleicht sind ihre Lese- und Schreibfähigkeiten nicht perfekt, manche besser als andere, aber heutzutage haben wir Computer, die uns helfen um diese Defizite überwinden zu können. Vielleicht suchen Sie bei Google nach berühmten Menschen mit Legasthenie, Sie werden überrascht sein, was diese Menschen erreichen können. Stellen Sie sich vor, wie viel mehr Menschen mit Legasthenie mit der richtigen Unterstützung Erstaunliches erreichen könnten. Auch die vom Weltwirtschaftsforum ermittelten Kompetenzen am Arbeitsplatz für die Zukunft überschneiden sich mit den Fähigkeiten von Legasthenikern. Wenn Sie bei Google nach den Fähigkeiten von Legasthenikern suchen, werden Sie wieder verblüfft sein.