Der Schulweg ist kein Kinderspiel
Mehr als 400 Kinder verunfallten 2021 auf dem Weg zur Schule. Eines von ihnen war die Fünftklässlerin Annika. Weil sie schwer verletzt wurde, forderten ihre Eltern von den Behörden Tempo 30 vor der Schule. Ohne Erfolg.
Der 25. März 2021, ein frühlingshafter Donnerstag, hätte das Leben von Annika Fischer und ihrer Familie für immer verändern können. Es ist der Tag, an dem die heute Zwölfjährige den Fussgängerstreifen überquert und von einem Auto erfasst wird.
Die Fünftklässlerin und ihre Freundin Svenja arbeiten an jenem Nachmittag an einem Projekt im Schulhaus Huben, am obersten Ende von Frauenfeld. Um 15.35 Uhr nimmt Annika ihr Trottinett aus dem Veloständer. Mehr weiss sie nicht mehr. Fünf Minuten später läutet bei Mutter Jeannette das Telefon Sturm. «Die Mutter eines Schulkameraden sagte mir, Annika liege auf der Strasse.»
Wenige Meter hinter dem Fussgängerstreifen liegt das Mädchen bewusstlos, eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase. Aufgewühlte Schulkameraden stehen verloren herum, irgendwo die Autofahrerin, die das Mädchen angefahren hat. Die Ambulanz bringt Annika ins Kantonsspital, wo man sie ins künstliche Koma versetzt. Dann fliegt ein Helikopter Kind und Mutter ins Kinderspital St. Gallen.
Die Unfallzahlen stagnieren
Letztes Jahr verunfallten 169 Kinder auf dem Fussgängerstreifen, 129 von ihnen wie Annika auf dem Schulweg . Von den 1235 Kindern, die 2021 insgesamt auf Schweizer Strassen verletzt wurden, war mehr als ein Drittel auf dem Weg zur Schule oder von dort nach Hause. Rund jedes sechste Kind erlitt schwere Verletzungen.
Viele Opfer auf Schulwegen
Schulwege sind zwar sicherer geworden, und die Zahl der schwer verletzten und getöteten Kinder ist in den letzten 30 Jahren gesunken. Doch seit einiger Zeit stagniert sie. Woran liegt das? Am wachsenden Verkehr? An den immer grösseren und schwereren Autos? Oder lassen sich Kinder immer leichter ablenken?
Eine einfache Antwort gibt es nicht. «Kein Schulweg in der Schweiz ist superschwierig oder gefährlich», sagt Sabine Degener. Die Ingenieurin ist Beraterin für Verkehrstechnik bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU). Oft kämen mehrere Faktoren zusammen: ein Kind, das etwas Unvorhergesehenes macht, ein Autofahrer, der kurz unaufmerksam oder etwas zu schnell unterwegs ist. Fakt ist aber: Die Hälfte der Kinder, die zu Fuss verunfallen, verursacht den Unfall selbst. Mit dem Velo sind es sogar über 70 Prozent.
«Viele Eltern verstehen nicht, warum sie die Kinder zur Schule begleiten sollen», sagt Degener. Es reiche nicht, den Kleinen nur beizubringen, am Fussgängerstreifen nach links und nach rechts zu schauen: «Sie bewegen zwar den Kopf – aber wie bei einer Gymnastikübung.» Erst mit etwa zwölf können sie die Aufmerksamkeit auf mögliche Gefahren fokussieren, eigene Fehler erkennen und korrigieren. «Erwachsene müssen lernen, dass Kinder lernen und vor allem viel üben müssen.»
«Wir sind der Unfallverursacherin nicht böse»
Wie der Unfall von Annika Fischer genau abgelaufen ist, ist umstritten. Im Urteil steht es so: Die 74-jährige Autofahrerin hielt ein Stück vor dem Fussgängerstreifen an. Freundin Svenja überquerte die Strasse mit dem Velo. Die Fahrerin übersah jedoch Annika und beschleunigte wieder. Das Auto erfasste sie in der Fahrbahnmitte, ihr Kopf schlug auf der Motorhaube auf, dann fiel das Mädchen auf die Strasse. Die Autofahrerin hat den Strafbefehl von Mitte Juli angefochten und möchte sich wegen des laufenden Verfahrens nicht äussern. Es gilt die Unschuldsvermutung.
«Die Fahrerin hat sich bereits am Unfallabend bei uns gemeldet und sich nach Annika erkundigt», sagt Jeannette Fischer. «Wir haben ihr gesagt, dass wir ihr nicht böse sind.»
Annika war fünf Tage im Spital, drei davon auf der Intensivstation. Sie hat beim Unfall eine schwere Gehirnerschütterung und einen Felsenbeinbruch erlitten. Das Mädchen deutet auf eine Stelle links von ihrem Nacken, auf den härtesten Knochen an der Basis des Schädels, der das Innenohr festhält. «Der Arzt sagte mir, ich habe megaviel Glück gehabt – aber jetzt halt ein Katzenleben weniger.»
Damit war der Fall für Fischers nicht erledigt. «Man kann nicht einfach darauf hoffen, dass alle so viel Glück haben wie wir», sagt Jeannette Fischer. Sie hängen Plakate auf, die auf den Schulweg aufmerksam machen – bislang gab es das rund um das Schulhaus nicht.
Mit einer anderen Familie gründen sie ein Komitee, dem in kürzester Zeit 175 Anwohnerinnen und Anwohner beitreten. Sie fordern von der zuständigen Regierungsrätin Sicherheitsmassnahmen wie Tempo 30. Die Antwort des kantonalen Tiefbauamts: Gemäss Inspektion sei der Abschnitt genügend sicher, es gebe auch kein aussergewöhnliches Unfallgeschehen. «Es fehlt die fachtechnische und rechtliche Grundlage für Tempo 30.»
Dabei ist der Nutzen von Tempo 30 unbestritten. «Niedrigere Geschwindigkeiten können den Kindern helfen, den Verkehr besser zu verstehen, und das Auto kommt im Notfall schneller zum Stehen», sagt BfU-Expertin Degener. Doch Tempo 30 einzuführen, sei schwierig. «Der Link ist leider noch viel zu wenig bei der Bevölkerung angekommen, dass man durch Tempo 30 nur minim Zeit verliert, die Massnahme aber ein wahnsinniges Plus an Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer bringt.»
Köniz machts vor
Knapp 170 Kilometer westlich von Frauenfeld hat man das verstanden. Die Berner Vorortsgemeinde Köniz gilt unter Fachleuten als Vorbild für eine gelungene Verkehrsberuhigung. Täglich fahren dort 17'000 Autos durch. Trotzdem wurde 2004 die Hauptstrasse im Zentrum zur Tempo-30-Zone umfunktioniert. Fussgängerinnen und Fussgänger können seither die Strasse an beliebigen Stellen überqueren. Wie die Planerinnen vorausgesehen haben, läuft der Verkehr flüssiger, seit Autos nicht mehr an jedem Fussgängerstreifen anhalten müssen – und die Fussgänger sind sicherer unterwegs.
Durch Niederscherli aber, knapp sechs Kilometer südlich von Köniz, fahren die Autos immer noch mit 50 Kilometern pro Stunde. Daran wird sich so schnell auch nichts ändern, denn die Strasse gehört dem Kanton, und im 2200-Seelen-Dorf der Gemeinde Köniz sind nicht genug Leute zu Fuss unterwegs, die eine Tempo-30-Zone auf der stark befahrenen Strasse rechtfertigen würden.
Im Wohnquartier neben dem Unterstufenschulhaus zum Beispiel steht aber auch praktisch vor jedem Haus mindestens ein Auto – und damit das Problem vor der Tür. Bei der Vernehmlassung zur letzten Ortsplanungsrevision brachte es der Gemeinderat auf den Punkt: «Der überwiegende Anteil des Individualverkehrs im Zentrum ist hausgemachter Verkehr – und nicht Durchgangsverkehr.» Sprich: Alle müssen ihren Beitrag zur Verkehrsberuhigung beisteuern.
«Wir können keinen Tunnel von der Haustür bis zum Schulhaus bauen», sagt der zuständige Gemeinderat Christian Burren. Aber – und das ist ihm wichtig – man versuche, die Strassen so zu gestalten, dass es auch in zentrumsfernen Ortschaften möglichst wenig gefährliche Stellen gibt.
Kinder als Experten
Um die Gefahrenstellen aufzuspüren, hat die Gemeinde 2021 mit der Organisation Fussverkehr Schweiz in Niederscherli «Expertinnen» losgeschickt: Kinder der dritten und vierten Klasse und Seniorinnen. Der Auftrag der Kinder: Sie sollen mit einem Tablet auf dem Schulweg alle unübersichtlichen Strassenecken, schlecht markierten Fussgängerstreifen oder Stolperfallen auf dem Trottoir fotografieren.
Was die Schüler auf ihren Streifzügen dokumentiert haben, floss in einen Bericht ein. Einige Schwachstellen konnte man gleich ausmerzen: An einer Strassenecke wurde ein Strauch zurückgeschnitten, der den Kindern die Sicht verdeckte. Und die nicht mehr gut sichtbaren Fussgängerstreifen über die Durchgangsstrasse wurden neu markiert.
Anderswo ist nichts passiert, auch weil das Geld fehlt. Für das Projekt Fuss Velo Köniz – es umfasst weit mehr als nur die Schulwege – stehen der Gemeinde pro Jahr gerade einmal 300'000 Franken zur Verfügung.
Doch es braucht nicht nur Geld, um Schulwege sicherer zu machen. Sondern auch das Engagement von Eltern und ihren Kindern.
111 4- bis 15-jährige Kinder kamen in den letzten 30 Jahren bei Unfällen auf dem Schulweg ums Leben.
Wo schwere Unfälle passieren
42% aller schwer verletzten und getöteten Kinder. die selber aktiv am Verkehr teilnahmen, sind auf dem Schulweg verunfallt.
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In diesem Forum diskutieren Eltern, Anwohnerinnen und weitere Betroffene über gefährliche Schulwege und was man dagegen unternehmen kann. Die Beobachter-Redaktorinnen Corinne Strebel und Daniela Bleiker beantworten hier allgemeine Fragen zum Thema. Für spezifische Probleme und Fragen kontaktieren Sie bitte die Hotline des Beobachter-Beratungszentrums unter der Nummer 058 510 73 76.
6 Kommentare
Wenn die Strasse vor dem Schulhaus in Frauenfeld dem Kanton gehört, dann wird es schwierig mit Tempo 30. Die Antwort der zuständigen Regierungsrätin lässt grüssen. Gehört die Strasse aber der Stadt, dann sollten die Eltern zuhanden der Gemeindeversammlung einen Antrag stellen und wenn es ein Parlament hat, dann kann ein Gemeindeparlamentarier eine Eingabe machen, die die Stadtregierung zum Handeln zwingen würde wenn das Parlament mitmacht. Ein Grüner, zum Beispiel, sollte sich dafür finden lassen.
Sehr geehrter Herr Stamm, besten Dank für Ihren Kommentar. Sie haben mit Ihren Aussagen Recht. Es handelt sich um eine Kantonsstrasse, die zuständige Regierungsrätin hat das Anliegen ans kantonale Tiefbauamt weitergeleitet und von dort kam dann der ablehnende Entscheid. Möglicherweise wird das Komitee diesen Entscheid aber anfechten. Freundliche Grüsse, Chantal Hebeisen, Redaktorin Beobachter
Ich verstehe nicht ganz, warum Sie in diesem Artikel ausschliesslich auf die mangelhafte Infrastruktur fokussieren. Ganz am Anfang zitieren Sie doch Sabine Degner, die aussagt, dass die Hälfte der Kinder die zu Fuss unterwegs sind den Unfall selbst verursachen und dass es mit dem Velo sogar über 70 Prozent sind. Das würde für mich dafür sprechen, dass wir am meisten Unfälle verhindern können, wenn die Kinder und die Eltern noch besser ausgebildet würden.
Sehr geehrter Herr Horisberger, besten Dank für Ihren Kommentar. Ja, es stimmt, dass viele Unfälle selbstverschuldet sind. Doch bei jungen Kindern fehlen die Fähigkeiten, die Gefahren im Verkehr richtig einzuschätzen. Das liegt meist nicht daran, dass den Kindern nicht beigebracht wird, wie sie sich im Strassenverkehr verhalten sollen, sondern daran, dass das Kinderhirn das noch nicht kann. Sprich: Gewisse Hirnareale sind noch nicht fertig entwickelt, der Sehsinn kann noch nicht gleich viel wahrnehmen wie der eines Erwachsenen, der Hörsinn ebenfalls. Mit den Verkehrstrainings in der Schule versucht man, Kindern Verhaltensregeln beizubringen, die sie sicher durch den Verkehr bringen – auch wenn sie den Sinn der Regeln noch nicht verstehen können. Das spricht Expertin Sabine Degener in unserem Text auch an. Doch Kinder sind und bleiben ein Stück weit unberechenbar. Sie lassen sich leicht ablenken und können bis zu einem gewissen Alter ihre Aufmerksamkeit noch nicht steuern. Deshalb braucht es auch auf der anderen Seite Massnahmen, die den Kindern entgegenkommen. Aus diesem Grund haben wir den Fokus des Artikels so gelegt. Ich hoffe, dass ich Ihnen mit dieser Antwort unsere Überlegungen etwas darlegen konnte. Freundliche Grüsse, Chantal Hebeisen, Redaktorin Beobachter
Selber Grossvater mit Enkeln und früher dementsprechend Kindern kann ich sagen, dass die Verkehrsausbildung der Kinder gut ist, die Polizei gibt sich Mühe. Aber Kinder sind eben Kinder, sie sehen Gefahren nicht voraus. Und deshalb müssen wir Erwachsenen für sie die Sicherheit erhöhen. Dies geschieht am besten mit Tempo 30 in Quartieren und vor Schulen. Der Bremsweg verkürzt sich so deutlich und der Zeitverlust ist minim. Auf 1 Kilometer macht das 48 Sekunden aus. Hier ginge es vielleicht um 200 Meter, also um die 9 Sekunden.
Danke für die Erklärungen, Frau Hebeisen. Ich habe selber auch vier Kinder grossgezogen und ich bin überzeugt, dass Kinder auch lernen können Verantwortung zu übernehemen (ja, das ist nicht einfach!). Allerdings werden sie das nicht lernen können wenn wir sie vor allen Gefahren schützen.
Ich beobachte z.B. regelmässig Schulkinder die mit dem Velo einen steilen Fussweg bei meinem Haus herunterbrausen und dann ohne zu bremsen auf die Strasse unten einschwenken; öfters auch direkt vor Autos. Da der Fussweg so steil ist, ist er mit einem Allgemeinen Fahrverbot belegt. Sollte nun gemäss Ihrer Logik der Verkehr auf der Strasse von 50 z.B. auf 30 km/h reduziert werden, damit die sich Kinder weiterhin falsch verhalten können und geschützt werden? Oder sollte der Fussweg so verbarrikadiert werden, dass unberechtigte Velos zum Abbremsen gezwungen werden? Oder wäre es nicht wirklich am sinnvollsten, wenn sich die Eltern an den Bemühungen der Schule und der Polizei beteiligen und den Kindern eintrichtert, dass man einen Weg mit allgemeinem Fahrverbot nicht befährt? Notfalls sogar mit Strafmassnahmen?
Die letzte Variante hat auch den ganz grossen Vorteil, dass die Kinder das Gelernte dann auch in allen andern richtig signalisierten Situationen anwenden können und sich so sicher im Strassenverkehr bewegen.