«Auf dem Schulweg können Kinder Entdeckungen machen»
Kinder sind auf dem Weg zur Schule eine Weile lang sich selbst überlassen. Expertin Zoé Moody erklärt, warum das wichtig ist.
Veröffentlicht am 14. August 2023 - 06:00 Uhr
Zoé Moody, Sie erforschen die Bedeutung des Schulwegs. Was haben Sie herausgefunden?
Dass die Kinder den Schulweg und den Kontakt zur Natur sehr schätzen. Und dass sich die Art verändert, wie sie miteinander umgehen, wenn sie allein unterwegs sind. Zu Hause folgen sie den Regeln der Eltern, in der Schule denen der Lehrerinnen, und auch auf dem Pausenplatz gibt es eine Aufsicht. Wenn sie unter sich sind, treffen sie ihre eigenen Entscheidungen und machen eigene Regeln.
Warum ist das wichtig für sie?
Kinder müssen ausprobieren können, wie ihr Verhalten in verschiedenen Gruppen ankommt. Und sie erleben, in welchen Gruppen sie sich am wohlsten fühlen. Das ist Teil ihrer Identitätsentwicklung.
In der Schule sind sie ja auch Teil einer Gruppe.
Dort gibt das System die Gruppen und Normen vor. Der Schulweg ermöglicht den Kindern, sich ausserhalb des Systems auszutauschen und zu entdecken, welche anderen Normen es gibt. Vielleicht machen sie mal einen Fehler und lernen, wie tolerant die Gruppe ist. Oder sie treffen den Lebensmittelhändler und schwatzen mit ihm. So findet eine Sozialisation in der Dorf- oder Quartiergemeinschaft statt.
Eine Frage, die viele Eltern interessieren dürfte: Ist mein Kind auch anständig, wenn es unbeaufsichtigt ist?
Sie nehmen sich natürlich Freiheiten heraus, machen kleine Grenzüberschreitungen. Gleichzeitig haben wir gesehen, dass sich Kinder auch ohne elterliche Aufsicht an die Regeln halten. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das nicht durchs hohe Gras gehen wollte, weil sonst die Kühe nichts zu fressen hätten. Mich hat überrascht, dass es nicht mehr kleine Dummheiten gab. Entweder haben sich die Kinder durch unsere Anwesenheit anders verhalten. Oder sie sind auch hier zu fest überwacht, um Regelverstösse zu begehen.
Wie das? Eben sagten Sie, dass die Kinder auf dem Schulweg frei sind.
Die Eltern wissen genau, wie lange das Kind für den Schulweg normalerweise braucht. Nach fünf Minuten Verspätung halten sie schon nach ihm Ausschau. Es hat also gar keine Zeit, vom Programm abzuweichen.
Wie hat sich der Freiraum verändert, seit Sie und ich zur Schule gingen?
Das haben wir nicht untersucht. Eine frühere Studie aus England zeigt aber, wie sich der Spielradius über drei Generationen verändert hat: Der Grossvater konnte sich zehn Kilometer von zu Hause wegbewegen, der Vater noch zwei Kilometer, das siebenjährige Kind 500 Meter.
Welche Auswirkungen hat diese zunehmende Überwachung?
Je weniger freie Räume die Kinder haben, desto weniger Experimente wagen sie. Sie gehen heute kaum mehr Risiken ein.
Ich verstehe aber auch die Eltern, die sich um die Sicherheit ihrer Kinder sorgen, etwa wegen des Verkehrs.
Ja, ich auch. Ein guter Kompromiss zwischen dem Sicherheitsgefühl der Eltern und den negativen Aspekten der Überwachung ist, wenn die Kinder nach einer kurzen Meldung zu Hause nochmals rausdürfen. Dann wissen die Eltern, wo sie sind. Oder die Gemeinde kann einen Lotsendienst für den sicheren Übergang über Hauptstrassen organisieren.
Wie sicher fühlen sich die Kinder auf dem Schulweg?
Grundsätzlich sicher. Angst machen ihnen Autos, die zu schnell fahren, oder fehlende Trottoirs. An einem unserer Rechercheorte stand ein Haus, das mit lauter Puppen dekoriert war. Die Kinder glaubten, dass es darin spukt. Es war für sie eine Mutprobe, ab und zu den Puppenweg zu nehmen. Das heisst, der Schulweg kann sie auch herausfordern, sich ihren Ängsten zu stellen.
Achtung Schulweg!
Der Beobachter und Correctiv Crowdnewsroom haben dokumentiert, wo für Kinder die Gefahrenstellen auf dem Schulweg sind – mit Hilfe von Meldungen aus der Bevölkerung. Was braucht es für einen sicheren Schulweg und wie können Unfälle verhindert werden? Alles Wissenswerte zum Thema.