Austausch ist nicht nur Plausch
USA, Mexiko oder Russland? Wer am Gymnasium ein Austauschjahr einlegen will, kann sich auf spannende Erfahrungen gefasst machen – aber auch auf Schwierigkeiten.
Veröffentlicht am 10. Mai 2004 - 11:56 Uhr
Es klingt überaus verlockend: ein Jahr irgendwo in einem fernen Land die Schulbank drücken. Weit weg von den Eltern und dem heimatlichen Gymnasium. Dennoch entschieden sich 2003 deutlich weniger Schüler und Schülerinnen für ein Austauschjahr. Laut Intermundo, dem Schweizer Dachverband mehrerer Non-Profit-Austauschorganisationen, reisten im vergangenen Jahr fast 15 Prozent weniger Jugendliche für ein Schuljahr ins Ausland als 2002.
Ein Grund sind die Auswirkungen der Maturitätsreform, die im letzten Jahr überall umgesetzt war. «Früher gingen die Schüler meist im 11. Schuljahr ins Ausland», erklärt Constantin Gyr, Rektor der Kantonsschule Obwalden und Präsident der Konferenz der Schweizerischen Gymnasialrektoren. «Heute ist das fast unmöglich: Zu diesem Zeitpunkt laufen bereits die Vorbereitungen auf die Matura.»
Wer ins Ausland will, muss dies also spätestens im 10. Schuljahr im Alter von 16 oder 17 tun, was vielen zu früh ist. Gyr findet auch, das sei etwas jung, trotzdem unterstützt er reisewillige Jugendliche weiterhin: «Eine Weile weg von daheim zu sein wirkt sich positiv aus.» Allerdings sei ein Wiedereinstieg in die Stammklasse praktisch ausgeschlossen. Eine Einschätzung, die andere Rektoren teilen.
Die Schüler müssen flexibel sein
Je jünger die Schüler, desto wichtiger ist eine gründliche Vorbereitung. Bei AFS, einem der grössten Schweizer Anbieter im Bereich interkultureller Austausch, werden die Kandidatinnen und Kandidaten zuerst auf ihre Flexibilität hin geprüft. Denn beweglich muss man sein: Zwar können die Schüler angeben, in welche Länder und Regionen sie reisen möchten, aber Garantien gibt es keine. «Das Wichtigste ist, dass Schüler und Gastfamilie zusammenpassen», sagt Susann Blesi von AFS.
Ist der Jugendliche sportbegeistert, sucht die Organisation nach einer sportlichen Familie. Singt er in einem Chor oder spielt er mehrere Instrumente, ist ein musisches Umfeld gefragt. Ob Stadt oder Land, Kalifornien oder Kansas, Einzel- oder Doppelzimmer ist gemäss der Vermittlerin zweitrangig.
Gastfamilie fluchtartig verlassen
Oft ist es schwierig, eine passende Familie zu finden. Laut Béatrice Stucki vom Dachverband Intermundo werden alle neuen Gastfamilien besucht und interviewt. Trotzdem kommt es immer wieder zu Beschwerden und Familienwechseln. Blanda Eggenschwiler beispielsweise wollte 2002 in die USA, «wenn möglich ans Meer und unbedingt in eine Stadt». Sie landete in West Virginia, in «einem Kaff, wo man ohne Auto nichts unternehmen konnte». Ihr Zimmer sei im Keller gewesen, ohne Fenster, erinnert sich die heute 18-Jährige. Nach drei Monaten verliess sie den Ort fluchtartig.
Laut Intermundo brechen aber sehr wenige Jugendliche den Austausch vorzeitig ab. Mit obligatorischen Kursen in der Schweiz und im Zielland versuchen die Organisationen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die neue Kultur vorzubereiten. «Ziel ist es, den Schülern Grundregeln, die von denen in der Heimat abweichen, zu erklären», sagt Béatrice Stucki. Ausserdem lernen die Jugendlichen in Rollenspielen, wie sie sich in typischen Konfliktsituationen verhalten sollen.
Denn zu Differenzen kommt es oft, wenn auch nicht von Anfang an. «Die ersten paar Wochen hatte ich ein wahnsinniges Hoch», erinnert sich die Zürcherin Sibylle Baumgartner, die 1998/99 bei einer schwarzen Familie in Südafrika lebte. «Erst ist man bereit, sich anzupassen, doch mit der Zeit beginnt man die Gewohnheiten der Gastfamilie zu hinterfragen.» Ein normaler Verlauf, wie Susann Blesi von AFS bestätigt: «Auf die anfängliche Euphorie folgt der Kulturschock. Ist dieser erst einmal überwunden, setzt die Anpassungsphase ein.» Im Optimalfall übernehme der Jugendliche irgendwann Aspekte der neuen Kultur in sein persönliches Repertoire.
Neue Regeln führen zu Konflikten
Auch Sibylle Baumgartner, die heute in Genf Internationale Beziehungen studiert, hat diese Phasen erlebt. Sie ist voll des Lobes für Austauschjahre, gibt aber zu bedenken, dass «ein Austauschjahr kein Partyjahr ist». «Bei alltäglichen Dingen wie etwa dem Baden kam es zu Konflikten», erzählt die heute 22-Jährige. Auf Geheiss der Gastfamilie sei sie mit Wasser sparsam umgegangen. Als sie ihre Haare einmal mit frischem Wasser abspülte, stiess dies auf Unverständnis. «Dabei hatte ich schon viel weniger Wasser verbraucht als zu Hause.» Auch sah sich die Schweizerin plötzlich mit Verhaltensregeln konfrontiert, die sie von ihrer eigenen Familie zu Hause nicht kannte. Nächtlicher Ausgang zum Beispiel sei in Johannesburg für Jugendliche einiges komplizierter als in Zürich, weil man sich aus Sicherheitsgründen von den Eltern chauffieren lassen müsse.
Der Umgang mit konservativen Familienstrukturen fällt vielen Schweizern schwer, das weiss auch Susann Blesi. «In der Schweiz herrscht ein sehr liberaler Erziehungsstil. Über Probleme wird diskutiert, die Jugendlichen werden in Entscheidungen miteinbezogen.» In anderen Ländern müssten sie sich dem Familienoberhaupt unterordnen, woraus oft Probleme entstünden. Für Blesi wie für Baumgartner ist klar: «Man muss sich anpassen und die fremde Kultur akzeptieren.»
Dieser Meinung ist auch Marguerite Baumgartner, Sibylles Mutter. Alle ihre drei Töchter machten ein Austauschjahr mit überwiegend positiven Erfahrungen. «Gerade im Loslösungsprozess ist ein Austauschjahr sehr förderlich», ist sie überzeugt. Die jungen Frauen seien nach dieser Erfahrung als selbstständige, erwachsene Leute zurückgekommen.