Das Tessiner Modell
Integration wird im südlichsten Kanton der Schweiz grossgeschrieben – davon profitieren fast alle.
Veröffentlicht am 27. August 2012 - 15:27 Uhr
Das Tessin ist anders. Und das nicht nur, weil sich die Sonne südlich des Gotthards häufiger am Himmel zeigt, sondern auch, wenn es um Schule und Kinderbetreuung geht. Seit den siebziger Jahren hat das Tessin ein Schulsystem, das sich von Deutschschweizer Modellen unterscheidet. Alle Kinder können dort schon ab drei Jahren in den Kindergarten, ab sechs gehen sie in die erste Klasse, von 11 bis 14 Jahren alle zusammen auf die Scuola Media. Erst danach trennen sich die Wege: Gymnasium oder Berufsausbildung.
Integration wird im südlichsten Schweizer Kanton allgemein grossgeschrieben. Gerade weil die Kinder schon früh gemeinsam unterrichtet werden, lernen Fremdsprachige die italienische Sprache früher. «Fast alle Kinder gehen dank dem frühen Kindergarteneintritt mit relativ guten Italienischkenntnissen in die Schule», sagt Andrea Lanfranchi, Professor für Heilpädagogik. 70 Prozent der Dreijährigen gehen ins Asilo, den ganztägigen Kindergarten, bei den Vier- und Fünfjährigen sind es 100 Prozent.
Die Tessiner bauten ihr Schulsystem vor bald 40 Jahren um. Wichtig war dabei das Gedankengut der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori. Jedes Kind soll in seiner Selbständigkeit gefördert werden und gleichzeitig lernen, auf andere Rücksicht zu nehmen. Das lernen schon die Kleinsten im Alltag, beispielsweise beim gemeinsamen Mittagessen im Kindergarten.
Während in der Deutschschweiz die Diskussionen um Tagesschulen und das Reformprojekt Harmos emotional geführt werden und Kritiker monieren, mit dem frühen Schulanfang erodiere das Familienleben, ist es im Tessin selbstverständlich, die Kinder früh ausser Haus zu unterrichten. «Schon als ich vor 55 Jahren in den Kindergarten gekommen bin, hat sich niemand darüber aufgeregt, dass die Kinder ab drei von zu Hause weg sind», sagt der Tessiner Pädagoge Gianni Ghisla.
Gute Noten erhält die Tessiner Schule bei der Integration und der Förderung schwacher Schüler. Was in der Deutschschweiz in den letzten Jahren aus Kostengründen eingeführt wurde, praktizieren die Tessiner schon lange. Fast alle Kinder gehen in die Regelschule. Berufstätige Eltern haben es leichter, da die Kinder in der Schule zu Mittag essen.
Trotzdem gibt es auch Kritik am Konzept. Bei der letzten Pisa-Studie schnitt das Tessin schlecht ab. «Wir machen viel für die Integration, aber zu wenig für begabte Kinder», sagt Lanfranchi. Das Tessin landete in der kantonalen Auswertung auf dem letzten Platz. Allerdings ist der Unterschied zwischen den besten und den schlechtesten Schülern in der Auswertung im Tessin kleiner als in anderen Kantonen.
Potential für Verbesserungen sieht Ghisla bei der Scuola Media. Sie ist eingeteilt in Niveau I und II. «Wer kann, drückt sein Kind ins Niveau I, weil alle vom Gymi träumen», sagt der Pädagoge. Entsprechend hätte sich der Leistungsstand in Niveau I verwässert, und Niveau-II-Gruppen seien mit nur noch den schlechtesten Schülern kaum noch zu führen. Der Elan sei verflacht, sagt Ghisla. Die pädagogischen Kräfte hätten sich lange auf die Schaffung der Universität in Lugano konzentriert und die Scuola Media vernachlässigt. Nun bestünde dort dringend Reformbedarf. Dann würden auch die Pisa-Werte wieder steigen.