Finken sind wichtig. Sie liegen zuoberst in der Kiste, die Marina Jakob aus dem Wagen lädt. Die junge Lehrerin bringt nicht viel mit an diesem Morgen. «Das meiste habe ich letzte Woche vorbereitet», sagt sie. In der Kiste sind ein paar Ordner, das Lehrerbuch, Schreibzeug - und eben Hausschuhe, die heimlichen Insignien der Schulmeisterei. Sie werden nicht nur auf Geheiss angezogen, verräumt und geordnet, sondern auch vergessen, versteckt und herumgeworfen. Erzieher vermitteln an ihnen Ordnungssinn und Disziplin, Schüler üben damit Rebellion und Wurfgeschick.

Um acht Uhr ist es noch still im und ums Schulhaus Säget in Jegenstorf BE. Der Pausenplatz liegt ruhig im trüben Morgenlicht. Bald wird sich hier eine frohe Schülerschar tummeln; unter ihnen auch 16 der schweizweit rund 70'000 Schüler, die dieser Tage ihren ersten Schultag erleben.

Im Klassenzimmer riecht es nach Schule - der Duft von Linoleumböden, Putzmittel, Farbe, Papier und Kreidestaub. Acht Pulte stehen zwischen noch kahlen Wänden und einer Fensterfront. Über der Wandtafel hängen die grossen Lettern des Abc, und in einer Kiste harren Sitzkissen ihrer ersten Schlacht. Auf jedem Pult, jedem Mäppchen, Gummi, Bleistift, an jedem Kleiderhaken, Ordner und Trinkbecher prangen die Namen der künftigen Besitzer. Alles ist bereit. «Das kommt schon gut», sagt Marina Jakob und schlüpft in ihre Finken. Fehlen nur noch die Schüler.

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Nervosität am Frühstückstisch

Anja freut sich auf ihren grossen Tag. Als Erstes hat sie heute Morgen nach dem Wetter geschaut. «Sie wollte unbedingt ihren Lieblingsrock anziehen», erzählt ihr Vater Stephan Kälin. Er hat sich ein paar Stunden freigenommen, um beim ersten Schultag der Tochter dabei sein zu können.

Der Frühstückstisch der Kälins ist noch gedeckt, Kaffeeduft hängt in der Luft. Auf Anjas Teller liegen einige Resten Gonfibrot und zwei Glückskäfer aus Schokolade. Ihr Appetit hält sich in Grenzen, die Aufregung ist zu gross. «Anja konnte gestern lange nicht einschlafen», sagt Susanne Kälin und streicht ihrer jüngsten Tochter über den Kopf.

Nein, Angst habe sie keine. Und was sie erwartet, weiss sie der Spur nach auch schon: «Rechnen, Schreiben, Spielen.» Sogar die Lehrerin habe sie schon getroffen, als sie mit dem Kindergarten auf Schulbesuch waren. Ihre künftigen Klassenkameraden aber kennt Anja nicht. Nur ein einziges Mädchen aus dem Kindergarten, Sophie, wurde in dieselbe Klasse eingeteilt. «Dass sie niemanden kennt, bereitet ihr etwas Bauchweh», sagt Susanne Kälin.

Auf Umwegen ins Schulzimmer

Anjas Lehrerin geht es wohl ähnlich. Dass sich die Wege der beiden in einem Schulzimmer treffen würden, war nach Marina Jakobs ursprünglicher Ausbildung nicht abzusehen. Die Belperin machte eine kaufmännische Lehre in einer Druckerei, dazu die Berufsmatur. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie in den Ferien beschloss, Lehrerin zu werden. Während eines längeren Urlaubs bei einer deutschen Familie in Mexiko übernahm sie den Heimunterricht der Kinder - «und das faszinierte mich irgendwie», sagt die 23-Jährige. Drei Jahre später steht sie als diplomierte Pädagogin im eigenen Schulzimmer.

Anja hat ihren nagelneuen Schulthek mit Tigerfellmuster geholt und zeigt ihn stolz. «Wir haben gestern alles nochmals besprochen und dann gepackt», erzählt Susanne Kälin. Sie erlebt den grossen Tag ihrer Tochter mit gemischten Gefühlen. Es sei schön, sie schrittweise in die Selbständigkeit entlassen zu können. «Anderseits geht natürlich auch etwas verloren, sie wird ihre Freizeit künftig öfter mit Kameradinnen und Kameraden verbringen und ist weniger auf mich angewiesen», sagt Kälin und blickt auf die Uhr. Es ist Zeit aufzubrechen.

Das Schulhaus ist nur 150 Meter von Anjas Zuhause entfernt. Etwas zögerlich marschiert sie neben ihren Eltern her - ohne Händchenhalten, denn eigentlich wollte sie allein zur Schule gehen. Trotz allen Vorbereitungen kehrt Vater Stephan auf halbem Weg noch einmal um: «Wir haben das Pultpapier vergessen.» Der Sinn von Pultpapier erschliesst sich nicht sofort. Es soll die Bodenfläche im Pult schonen. Diese bekommt aber kaum je jemand zu sehen, weil sie eben immer mit schützendem Pultpapier bedeckt wird. Aber so ist es Tradition an Berner Schulen, und als solche wird das Pultpapier nicht hinterfragt.

In der Schule weisen kleine, auf der Treppe und im Gang verstreute Schnittblumen den Weg zum Zimmer. Vor der Tür zieht Anja ihre Finken an und geht hinein. Auf den Pulten stehen Namensschilder. Schnell entdeckt Anja ihren Stuhl, setzt sich hin, wartet und beobachtet, wie ein Kind nach dem anderen eintrifft. Die Lehrerin begrüsst jeden Neuankömmling. Mit mehr oder weniger Hilfe finden alle ihre Sitzplätze. Während tüchtige Mütter die Pulte einräumen, halten stolze Väter den Augenblick in Bild und Ton fest. Nach ein paar Minuten sind die Pulte bezogen, und erwartungsvolle Stille kehrt ein. Am ersten Schultag ist allen eine angenehme Scheu gemein, die einzelnen allerdings bald wieder abhandenkommen dürfte.

Dann der grosse Moment: Marina Jakob tritt vor die Klasse und begrüsst noch einmal alle Anwesenden. «So ist es von jetzt an immer», sagt sie zu den Kindern, die an den Pulten sitzen. Von einigen erntet sie dafür sorgenvolle Blicke. Vielleicht ist ihnen bewusst, dass sie nun Schüler sind und dass sie das lange bleiben werden. Vor ihnen liegt eine schier endlose Reihe von Aufgaben.

Ein Elefant, der nicht grau ist?

Für Anja und ihre Klassenkameraden beginnt diese mit dem Auftrag, einen vorgezeichneten Elefanten auszumalen - «irgendeine Farbe, aber nicht Grau», sagt die Lehrerin. Während sich Joshua sofort für Grün entscheidet, hadern Unentschlossene noch mit dem Widersinn des ungrauen Elefanten. «Gibts doch gar nicht», murmelt jemand. Eine andere Schülerin zeichnet sauber getrennte Flächen in den Umriss und malt sie mit verschiedenen Farben aus. Anja verpasst dem Elefanten ein Regenbogenkleid.

Marina Jakob verteilt den Eltern unterdessen diverse Formulare und lässt sie Wünsche auf Papierstreifen schreiben, die sie den Kindern mit auf die schulische Laufbahn geben wollen. «Was willst du deiner Tochter schreiben?», fragt eine Mutter ihren Mann. Er zuckt hilflos mit den Schultern. Bei den meisten Wünschen kommen gewisse Vorahnungen zum Ausdruck: Die Eltern wünschen ihren Kindern Spass, Freude und Freunde, aber auch Geduld, Motivation und göttlichen Beistand. Danach überreicht jedes Kind seinen Eltern eine Sonnenblume und verabschiedet sich von ihnen. Es fliessen keine Tränen.

«Du, Frou Jakob»

Marina Jakob besammelt die Klasse vorne im Kreis. Ohne die Eltern wirken Schüler und Lehrerin sofort entspannter. Die Kinder haben ein Feriensouvenir mitgebracht und erzählen von ihren Erlebnissen. Auf dem Bauch liegend, berichtet Anja den anderen, wie sie in Italien Muscheln sammelte und im Meerwasser planschte.

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Kaum sind die Eltern weg, ist die Lage etwas entspannter.

20 Minuten nach der grossen Pause will Sabina wissen, wann die Schule aus ist. «Das geht noch eine Weile», sagt Frau Jakob. Vorher erzählt sie den Kindern noch eine Geschichte von einer Waldkobold-Familie. Und weil in fast allen Koboldnamen ein L vorkommt, müssen die Schüler bis morgen ein Mandala ausmalen, in dem der Buchstabe mehrfach versteckt ist.

Um zwölf Uhr entlässt das Läuten die Schüler in den Mittag. Obwohl der Morgen allen gefallen hat, ist die Erlösung gross. Beim Scheppern der Schulglocke aufzuspringen und die Arme hochzureissen scheint bei Buben ein angeborener Reflex zu sein.

Am Nachmittag hat nur noch die halbe Klasse Unterricht - Werken. Die acht Schüler bekleistern Kartonschachteln mit Papierschnipseln. Die Kisten sollen zukünftige Werkarbeiten hüten. Anja und Sophie zerreissen konzentriert Zeitungsseiten. Langsam weicht die anfängliche Scheu der Neugierde.

«Du, Frou Jakob» ist unter Erstklässlern die klassische Anrede für ihre Lehrerin. «Erinnerst du dich an deinen ersten Schultag?» Jakob lacht; das sei schon lange her. «Wie lange?», will ein Schüler wissen. «Hatten Autos damals schon Licht?» Die Schüler schätzen ihre Lehrerin auf 15, 40 oder - spasseshalber - auf 100 Jahre, wobei für sie die letzten beiden Zahlen keinen grossen Unterschied zu machen scheinen. In der Frage «War ihre erste Lehrerin nett?» schwingt unverkennbar eine gewisse Erwartung mit.

Die Kinder werden immer lebendiger und finden beispielsweise heraus, dass man Zeitungsseiten auch zu zweit zerreissen kann. «Ich mag Fisch, das kann man essen», sagt Oliver und riecht am Kleister. Sabina massiert den Fischleim mit beiden Händen in den Karton. So landet der Kleister meist nicht nur auf der Kartonschachtel, sondern auch auf der Malschürze und in den Haaren.

«Viel lustiger als der Kindergarten»

Der Nachmittag geht viel zu schnell vorbei. «Die Schule ist super, viel lustiger als der Kindergarten», sagt Anja, während sie ihre Schuhe anzieht. Sie freut sich auf die Hausaufgaben.

Auch die Lehrerin hat Hausaufgaben. Marina Jakob bleibt nach Schulschluss noch eine gute Stunde im Schulzimmer und bereitet den nächsten Tag vor. Den Rest erledigt sie zu Hause. Sie ist zufrieden, aber ein bisschen erschlagen. 16 bisher fremde Kinder sind von heute an ihre Klasse. Ihre Verantwortung. «Man glaubt es kaum», sagt sie und zieht ihre Finken aus. «Aber das kommt schon gut.»