«Ohne Mitläufer und Zuschauerinnen gibt es kein Mobbing»
Nirgendwo in Europa wird so viel gemobbt wie in Schweizer Schulen. Expertin Christelle Schläpfer nimmt die Lehrerinnen und Lehrer in die Pflicht.
Veröffentlicht am 28. April 2022 - 16:23 Uhr
Beobachter: Frau Schläpfer, sind Kinder Monster?
Christelle Schläpfer: Um Himmels willen, nein! Mobbing ist ein gesellschaftliches Problem. Loggen Sie sich bei Facebook ein und lesen Sie gewisse Kommentare. Diese Spaltung, die sich in den letzten Jahren akzentuiert hat – da stehen einem die Haare zu Berge. Und es sind meist Erwachsene, die sich virtuell die Köpfe einschlagen. Kein Wunder, haben wir Mobbing in den Schulen.
Jedes zehnte Kind in der Schweiz wird im Lauf der Schulzeit ein Opfer von Mobbing. Das ist trauriger Europarekord. Wie erklären Sie sich das?
Der Mensch macht Dinge, die er sonst nicht tun würde, damit er seine Zugehörigkeit nicht verliert. Wenn ich fühle, dass meine Zugehörigkeit in Gefahr ist, werde ich aus Eigeninteresse auch Strategien wählen, die bisweilen asozial sein können, um diesen Missstand zu kompensieren. So funktioniert die menschliche Psyche.
Wie erkennt man Mobbing?
Indem alle genau hinschauen und ihre Beobachtungen miteinander austauschen. Dialog ist wichtig. Und Mitgefühl. Gibt es einen Schüler, den niemand dabeihaben mag? Wird eine Schülerin immer wieder ausgelacht? Als Gymnasiallehrerin hatte ich einmal zwei Fälle gleichzeitig. Bei den Buben war es offensichtlich: Sie schubsten einen Jungen auf dem Pausenplatz, machten ihn verbal fertig. Bei den Mädchen lief es subtiler ab, auf der Toilette, aber nie im Schulzimmer. Es benötigte eine couragierte Zuschauerin, die sich mir anvertraute. Keine Petzerin! Ich allein hätte das nicht mitbekommen.
Vieles spielt sich ausserhalb der Schule ab. Der Einfluss der Lehrpersonen ist beschränkt.
Das mag auf den ersten Blick so scheinen. Einmal hatte ein Knabe jeden Sonntagabend Bauchschmerzen und musste erbrechen. Die Eltern dachten, er komme mit dem Leistungsdruck nicht klar. Als er über Mittag immer später nach Hause kam, weil er Umwege nehmen musste, um nicht zusammengeschlagen zu werden, kam er endlich hervor damit: Das Mobbing dauerte schon Jahre an. Wer sonst als eine Lehrerin oder ein Lehrer soll das lösen? Es ist immer eine Klasse, die involviert ist, das nächste Umfeld. Die einzige Institution, die das seriös angehen kann, ist die Schule. Sie kann mit der ganzen Gruppe arbeiten.
«Unsere Gesellschaft sucht Sündenböcke – und geht dann auf sie los. Damit wird gar nichts erreicht.»
Christelle Schläpfer, Mobbing-Expertin
Gemäss einer Studie bleiben vier von fünf Fällen unbemerkt. Weshalb schweigen viele Kinder?
Aus Angst: «Wenn du etwas sagst, bist du tot.» Dabei muss diese Drohung gar nicht explizit sein. Viele Kinder holen sich keine Hilfe, weil sie befürchten, dass es noch viel schlimmer wird, wenn Eltern oder Lehrer intervenieren. Das Traurige ist: Sie haben oft recht.
Wie bringt man ein Kind dennoch dazu, sich jemandem anzuvertrauen?
Indem ich meine Beobachtung schildere: «Mir fällt auf, dass du in letzter Zeit nicht mehr so oft mit deinen Freundinnen abmachst.» So öffne ich ein Törchen: «Falls du darüber reden möchtest, bin ich da.» Wenn ich hingegen inquisitorisch vorgehe, fördere ich damit das Lügen. Wenn ich frage: «Warum machst du nicht mehr ab, wirst du gemobbt?», dann geht bei der Tochter, die nichts erzählen wollte aus Scham oder Angst, der Laden ganz runter. Ein Kind sollte wissen, dass ich nicht sofort in die Schule renne. Manchmal benötigt es diese Garantie: Wir schauen das zuerst an und entscheiden nicht über den Kopf des Kindes hinweg.
Warum mobben Kinder andere Kinder?
Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, sagte: «Bevor ein Kind Probleme macht, hat es welche.» Wer schlechter in Mathe ist, von der Lehrerin andauernd gemassregelt wird oder bei der Mannschaftsbildung im Turnen stets als Letzter gewählt wird, fühlt sich irgendwann minderwertig, das Selbstwertgefühl leidet. Kurz: Wenn ein Kind ständig runtergemacht wird, kompensiert es das auf dem Pausenplatz, indem es Macht über andere ausübt. Täter müssen – wie alle Kinder – gestärkt werden.
Dann kommt bald der Vorwurf der Kuschelpädagogik.
Das hat damit nichts zu tun. Natürlich muss ein Täter, eine Täterin Verantwortung für sein oder ihr Handeln übernehmen und dazu beitragen, die Wunden zu heilen. Unsere Gesellschaft sucht aber Sündenböcke – und geht dann auf sie los. Damit wird gar nichts erreicht. Mobbing ist immer ein Gruppenphänomen. Ohne Mitläufer und schweigende Zuschauerinnen gibt es kein Mobbing. Wenn ein Kind in eine Situation gerät, die nicht okay ist, soll es sagen können: «Hört auf!»
Wie bringt man einem Kind in der ersten Klasse Zivilcourage bei?
Ich arbeite auf dieser Stufe oft mit Metaphern. Es gibt dieses schöne Bilderbuch «Mutig, mutig» von Lorenz Pauli
. Eine Maus, ein Frosch, eine Schnecke und ein Spatz langweilen sich. Sie machen Mutproben, eine verrückter und gefährlicher als die andere. Als der Spatz an der Reihe ist, sagt er: «Ich mache nicht mit.» Das ist mutig! Im Kern geht es um die Förderung von Zivilcourage. Um den Mut, Nein zu sagen und nicht mitzumachen.
Wo liegen die Probleme, wenn man einschreitet?
Heute picken nach wie vor Lehrer nach dem Unterricht Opfer und Täter heraus. Dann sollen beide, wie in einer Konflikt-Mediation, ihre Version erzählen. Eine schreckliche Situation. Das Opfer schämt sich vor dem Peiniger, traut sich nicht, offen zu sprechen. Der Täter rechtfertigt sich, redet sein Tun klein, es war doch nur lustig gemeint! Ein furchtbares Setting, das leider an der Tagesordnung ist. Bei Sexualverbrechen käme es niemandem in den Sinn, Opfer und Täter zu konfrontieren. Bei Mobbing in der Schule wird es immer noch regelmässig gemacht.
Was wäre der richtige Weg?
Nur das Mobbing stoppen reicht eben nicht. Ein Vortrag des Schulpsychologen, in dem er sagt: «Mobbt nicht!», das ist für die Füchse. Der Brand lodert weiter, und bald schon muss wieder gelöscht werden. Man muss vielmehr übers ganze Schuljahr eine Kultur der Freundlichkeit fördern. In der Klasse soll eine angstfreie Atmosphäre geschaffen werden. Hilfreich dabei könnte zum Beispiel ein Plakat sein, das alle gemeinsam gestalten. Darauf stehen die Klassenregeln: Wie wollen wir miteinander umgehen? Wertschätzend!
Christelle Schläpfer ist individualpsychologische Beraterin und Elternbildnerin. Als Mobbing-Expertin berät sie Eltern, löst Fälle an Schulen und bildet Fachpersonen aus. Zuvor unterrichtete sie 14 Jahre lang Französisch und Spanisch am Gymnasium.
Mobbing hat in der Schweiz zugenommen. 2018 gaben 13 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, dass sich andere über sie lustig machen. Kein anderes Land in Europa hat ähnlich hohe Werte.
Pro Juventute hat deshalb die «Initiative gegen Mobbing» ins Leben gerufen. Auf der Website 147.ch steht eine Meldeplattform zur Verfügung, auf der Schülerinnen und Schüler eine vertrauliche Meldung machen können. Sie gelangt an Schulsozialarbeiterinnen, die die nächsten Schritte einleiten.
5 Kommentare
Andere Kinder, Menschen "plagende, mobbende" Kinder, Jugendliche, Erwachsene, fehlt einerseits der Respekt gegenüber andern "Menschen" = Erziehungs-Manko's, Vorbilder- Eltern! Andererseits führt oftmals ein "schwaches, gestörtes" EGO, Disharmonie zu Hause zu negativem Verhalten andern Menschen, Lebewesen generell gegenüber! Man lässt den eigenen Frust an andern Menschen aus....ERZIEHUNG von Eltern, ansonsten von Staates wegen...!
Bei "Mobbing" in der Schule unter den Kindern/Jugendlichen = sofortige entsprechende Elterngespräche (adäquate Erziehung = Höflichkeit, respektvoller Umgang andern Menschen gegenüber)!
Vielen Dank für den ausgezeichneten, tiefgründigen Artikel! Wegweisend ist insbesondere, wie präzis Symptome und Ablauf geschildert werden und die klare Unterscheidung von einem Konflikt. Die Schule, an der mein Sohn so lange ungehindert gemobbt wurde, bis die einzige praktikable Massnahme das Herausnehmen des Opfers aus der Situation war, benennt Mobbing auf ihrer Website noch immer als Konflikt. Die Massnahmen sind folglich verheerend, genau wie von Frau Schläpfer beschrieben; sie werden unverständlicherweise bis heute praktiziert! Ich hoffe, dass dieser Artikel Zeichen eines Umdenkens auch beim Beobachter und dem Beratungstelefon ist. Auch das Beobachter-Beratungstelefon hat damals zu einer Mediation geraten, obwohl die Abklärung durch den Schulpsychologischen Dienst ein klares Ergebnis hatte.
Bonusdogma? "Täter müssen gestärkt werden": Übertragen Sie das mal auf alle Gewalt-Straftäter in der Schweiz (wie Carlos alias Brian) oder auf die Zustände in Mehrparteienhäusern in der Schweiz (Opfer von Dauerlärm, die NZZ nannte es "Akustische Gewalt", ein Beobachter-Anwalt sprach von Körperverletzung) oder auf Poser oder die zunehmenden Angriffe in Öffentlichen Verkehrsmitteln. Antiautoritäre Erziehung, Laisserfaire ist das Gegenteil von Lernen. Lernen (mit einschneidenden Konsequenzen) ist in der Tierwelt (Beispiel: Affenbabies) jedoch naturgesetzliche Lebensvoraussetzung. In der Schule würde ich pro Klasse mehrere SchülerInnen als Mobbingsensoren ernennen (bzw. Whistleblowing offiziell ehren; vgl. sichermelden.ch). Den Täter, der nach der ersten Verwarnung (im Beisein seiner Eltern), weitermobbt, fristlos von der Schule sperren. Klare Regeln statt die heutige schwammige Unentschlossenheit. Zivilcourage. Ich finde: Aus staatlichem Gewaltmonopol plus staatlicher Schulpflicht resultiert zwingende die Staatspflicht, diejenigen zu schützen (lückenlos), die gesetzeskonform sich verhalten, erst recht wenn es sich um Minderjährige handelt.