Als seien Störungen die Norm: Kaum ist der Knirps auf der Welt, bekommen es Eltern mit einer Heerschar von Fachleuten zu tun, die Schwächen und Entwicklungsstörungen aufspüren und therapieren wollen. Kinderärzte, Schulärzte, schulpsychologische Dienste, Kindergärtnerinnen und Lehrer - sie alle geben den Eltern heilsame Empfehlungen für ihre Sprösslinge. Malt Klein Jonas im Kindergarten nicht sein erstes Häuschen, soll er zur Ergotherapie. Ist Luisa mit sechs Jahren noch etwas schüchtern, wird der schulpsychologische Dienst eingeschaltet. Von auffälligen Kindern scheint es heutzutage nur so zu wimmeln. Und ehe man sichs versieht, kommt der Nachwuchs in die Korrigiermühle.

Zum Beispiel Tobias. Er war gerade mal drei Monate in einem Zürcher Kindergarten, als die Kindergärtnerin seinen Eltern riet, seine Psychomotorik abklären zu lassen. «Er hielt den Stift nicht richtig und fiel deshalb der Kindergärtnerin bereits am ersten Tag negativ auf», sagt seine Mutter Manuela Müller (Name geändert). Die Abklärung ergab, dass Tobias eine leichte Entwicklungsverzögerung hatte, eine Therapie jedoch nicht nötig war. Doch die Kindergartenleitung liess nicht locker. «Die Pädagoginnen übten Druck aus und machten uns unmissverständlich klar, dass neben einer psychomotorischen auch eine logopädische Therapie angezeigt sei», sagt die Mutter.

Die Eltern weigerten sich. «Die angeblich krankhaften Auffälligkeiten gehörten in unseren Augen zu seinem Charakter, denn Tobias war zurückhaltend, motorisch eher vorsichtig und ein Denker.» Der Junge wurde schliesslich normal eingeschult, spielt heute Klavier, geht in die Jugendriege und ist in der Schule einer der Besten. Die Eltern hatten sich erfolgreich gegen die Absicht der Kindergärtnerinnen gewehrt, Tobias in die Einführungsklasse zu stecken, was seine Schulzeit um ein Jahr verlängert hätte.

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Angst, eins auf den Deckel zu bekommen
Kinder, die aus der Reihe tanzen, werden abgesondert und therapiert - das kommt laut dem Psychologieprofessor Andrea Lanfranchi von der Zürcher Hochschule für Heilpädagogik immer häufiger vor. «Viele Gemeinden stellen sonderpädagogische Angebote wie Klein- oder Einführungsklassen zur Verfügung. Diese müssen der Auslastung zuliebe genutzt werden. Zudem fürchten auch gute und erfahrene Kindergärtnerinnen den Druck von oben.» Denn lassen sie Kinder zur Einschulung durch, denen später der Stempel «nicht schultauglich» aufgedrückt wird, bekommen sie vom Primarlehrer oder gar der Schulleitung eins auf den Deckel. «Im Zweifel», so Lanfranchi, «schlagen deshalb immer mehr Kindergärtnerinnen ein Kind lieber zur Abklärung vor. Das haben unsere Untersuchungen gezeigt.» Zum Reigen der Abklärer gehören neben dem schulpsychologischen Dienst auch rund 2'000 Schulärzte, die die Kinder in Reihenuntersuchungen innert Minuten durchchecken.

Bei Verdacht auf schwer wiegende Probleme wie psychische Störungen oder eine Sprachbehinderung sei ein frühzeitiges Eingreifen tatsächlich wichtig, so Lanfranchi. Ideal sei, wenn sich die Eltern mit dem Lehrer und den verantwortlichen Schulbehörden an einen Tisch setzen und Lösungen suchen (siehe Nebenartikel «Abklärung»). Tendenziell werden bei Kindern jedoch immer häufiger Störungen geortet, bei denen es sich um harmlose Abweichungen handelt. Gedächtnisfähigkeit, Sprache, Motorik, Aufmerksamkeit und Verhaltenskontrolle - im Alter von vier bis sechs Jahren sind die Entwicklungsunterschiede naturgemäss gigantisch. Das geht manchmal auch bei Fachleuten vergessen. «Eine Studie zeigt, dass der offensichtliche Übereifer mancher Fachleute vor allem dazu dient, das eigene Therapiegeschäft in Schwung zu halten», kritisiert Professor Lanfranchi.

Der Grundstein dazu wurde vor 15 Jahren gelegt, als man schulische Probleme plötzlich «expertisierte» und es als Fortschritt galt, bei Kindern Normabweichungen zu diagnostizieren. Lanfranchi: «Neue Störungsbilder wie die Legasthenie wurden geschaffen.» In dieser Zeit entstanden auch die schulpsychologischen Dienste. In der Folge sei es zu einer «grundsätzlich defizitorientierten Betrachtungsweise von Kindern» gekommen und zu einer «Logik des Verdachts», mit der sich Schulbehörden, Lehrer, Therapeuten und Eltern den Kindern nähern.

Die Toleranz tendiert gegen null
Vom Kindergarten bis in die Oberstufe: Von Kindern wird volle Leistung erwartet, in jedem Bereich. Viele Lehrer haben nicht mehr genug Zeit, sich einem schwächeren Kind zu widmen. Vielerorts können Kinder nicht einmal mehr krankheitshalber fehlen, weil die gerade mal siebenjährigen Knirpse bereits in der ersten Schulklasse gefährlich viel verpassen könnten. Die Toleranz der Erwachsenen tendiert diesbezüglich gegen null.

Mittlerweile wird mehr als jedes zweite Kind einmal als therapiebedürftig eingestuft. Eine Untersuchung, die das Kompetenzzentrum für Bildungsevaluation und Leistungsmessung der Universität Zürich vor drei Jahren veröffentlicht hat, zeigt: 42,6 Prozent der Drittklässler, die an der Untersuchung teilnahmen, durchliefen die Schule regulär. Der grosse Rest, nämlich 57,4 Prozent, beanspruchte in dieser Zeit mindestens eine Spezialbehandlung. 30 Prozent dieser «ausgemusterten» Kinder kamen in eine Sonderklasse, knapp ein Viertel besuchte irgendeine Therapie, dem Rest wurden Stütz- und Fördermassnahmen verordnet.

Das Therapieangebot ist riesig und für die Eltern meist kostspielig, weil die Krankenkasse nur in Ausnahmefällen bezahlt: Psychomotorik, Logopädie, Kinesiologie, Osteopathie, Physiotherapie, Legasthenie- und Dyskalkulietherapie, Graphomotorik sowie Sonder- und Nachhilfeklassen sollen ausscherende Kinder aufs rechte Gleis zurückbringen. Doch gerade eine ersplitterung in isolierte Therapien ist laut Psychologe Lanfranchi möglichst zu vermeiden. Wenn überhaupt nötig, müsse man Kinder ganzheitlich und ausgehend von ihren Stärken beurteilen und fördern. «Ideal sind stützende Massnahmen durch eine Heilpädagogin, die in der Schule arbeitet und die Kinder kennt. Sie definiert in regelmässiger Zusammenarbeit mit dem Lehrer und den Eltern Ziele und holt sich Hilfe von externen Fachleuten, wenn sie selbst nicht weiterkommt.» Die Kantone Nidwalden, Basel-Stadt sowie teilweise Thurgau und Schaffhausen setzen inzwischen Heilpädagoginnen ein.

Andernorts jedoch kennt der Abklärungswahn keine Grenzen. Das drückt auf das Selbstbewusstsein der betroffenen Kinder, wie eine Untersuchung des Zürcher Kompetenzzentrums für Bildungsevaluation zeigt. In der Studie schnitten Kinder mit regulärem Schulverlauf punkto Selbstvertrauen signifikant besser ab als therapierte. Logisch: Eine Sonderbehandlung zeigt dem Kind unmissverständlich, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Das Selbstwertgefühl eines Menschen hängt nicht vom Mass seiner Fähigkeiten ab, schreibt der Entwicklungspädiater Remo Largo in seinem Buch «Kinderjahre». Ein Kind sei dann mit sich selbst zufrieden und fühle sich gut, «wenn die Leistungen seinen psychischen und körperlichen Möglichkeiten entsprechen».

Laut Largo nehmen Kinder Erwartungen, denen sie nicht entsprechen können, sehr genau wahr und erleben sie als Ablehnung. Gerade Kinderärzte beziehen sich bei den regelmässigen Entwicklungskontrollen aber auf Normwerte. Wechselt ein sechsmonatiges Kind einen roten Ring von einer Hand zur anderen? Baut es mit 18 Monaten einen Turm mit zwei bis drei Klötzen? Verbindliche Regeln für die Testerei gibt es nicht. Kinderärzte greifen auf über 30 Testmethoden zurück, jede eignet sich für ein bestimmtes Alter, und jede einzelne besteht aus zahlreichen Einzeltests, die Ärzte auch mal freimütig ändern.

Lieber dem Instinkt folgen
Heikel ist es nicht nur, die Tests zu interpretieren, sondern auch, das Resultat den Eltern mitzuteilen. «Oliver sollte mit 15 Monaten vier Worte sprechen, als ich mit ihm bei der Kinderärztin war», sagt Monika Bielmann aus dem Kanton Aargau. «Er sprach jedoch nur drei Worte. Die Ärztin war unzufrieden, sie wollte unbedingt das vierte Wort hören.» Zudem habe die Medizinerin gemeint, Oliver sei abnormal ruhig und extrem mutterbezogen. «Ich solle ihn mehr abgeben und am besten einen Tag arbeiten gehen.» Sie forderte Monika Bielmann schliesslich auf, ihr ein Video zu bringen, damit sie sehen könne, wie Oliver sich zu Hause verhält. «Danach sass ich verunsichert zu Hause und weinte. Ich hatte das Gefühl, mein Kind sei nicht normal.» Entgegen der ärztlichen Beurteilung wuchs Oliver jedoch in den folgenden Jahren zu einem heute siebenjährigen, aufgestellten und selbstbewussten Jungen heran. «Eltern müssen auf ihr Inneres hören», sagt Monika Bielmann. «Mein Mutterinstinkt sagte mir bereits damals, dass Oliver nicht der Stubenhocker ist, den die Kinderärztin in ihm sah.»

Der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl vom Zürcher Institut für Konfliktmanagement verfolgt argwöhnisch, wie sich immer mehr nicht entsprechend geschulte Berater und Ärzte auf psychologisches Terrain vorwagen. «Sie nehmen sich Kompetenzen heraus, die sie nicht haben. Es besteht die Gefahr, dass Familien völlig verunsichert und Kindern falsche oder unnötige Therapien verordnet werden.»

Stephan Rupp, Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie, weist das zurück. Eine entwicklungspädiatrische Untersuchung gehöre zur Ausbildung jedes Kinderarztes, sagt er. «Treten spezielle Fragen auf, muss der Arzt abschätzen, wie weit er sich kompetent fühlt und wann er einen Spezialisten beiziehen will.» Laut Allan Guggenbühl läuft jedoch längst nicht alles in geordneten Bahnen. «Die Situation ist teilweise chaotisch. Von der Kindergärtnerin bis zum Schularzt: Alle beurteilen, testen und verteilen Diagnosen.» Dabei bestehe die Tendenz, dass banale Testresultate als sakrosankt hingestellt werden. «Sie sind ein Machtmittel geworden, das auch missbraucht wird.»