Sieh an, das Froschgesicht!
Viele haben das grosse Grauen vor Klassentreffen. Zu Unrecht, wie ein Selbstversuch zeigt.
Veröffentlicht am 9. Dezember 2014 - 10:26 Uhr
Alle fünf Jahre organisiert meine Klasse aus der Primarschule ein Treffen. Bis jetzt bin ich nie hingegangen, obwohl ich vor Neugier fast umkam. Mir fehlte einfach der Mut. Diesen Sommer wagte ich es zum ersten Mal. Keine Ahnung, warum.
Je näher das Treffen rückte, umso banger wurde mir ums Herz. Ich rief Silvia an. Sie ist die Einzige aus der Klasse, zu der ich Kontakt habe. Als Kinder fühlten wir uns wie siamesische Zwillinge. Wir sehen uns nur noch alle Schaltjahre, trotzdem sind wir dicke Freundinnen geblieben. Silvia fragte sofort: «Gehst du?» Ich: «Ich hab Schiss.» Sie: «Ich auch.» Ich: «Versprich mir, dass du den ganzen Abend neben mir sitzt!»
Den meisten Leuten bereitet ein Klassentreffen Unbehagen. Im Zug ins Dorf meiner Kindheit hatte ich viel Zeit, darüber nachzudenken: Egal, was man im Leben erreicht hat, für die ehemaligen Mitschüler ist man immer noch der Streber oder der Klassenkasper oder die Dicke. Wie früher.
Erfolg im Beruf, Kinder, Geschichten vom Scheitern und Wiederaufstehen – zählt alles nicht. Aber ohne dieses Kleid aus Lebenserfahrung fühlt sich der erwachsene Mensch nackt und wehrlos. Daher rührt die Angst vor Klassentreffen. Meine Angst jedenfalls. «Statt Klassentreffen müsste man Nackttreffen sagen», geht es mir durch den Kopf, während ich mich dem Dorf meiner Kindheit nähere. Im Bauch drückt ein bleischwerer Klumpen. Was werden die ehemaligen Mitschüler bloss hinter meinem Kleid aus Lebenserfahrung entdecken? Augenblicklich fällt es mir wieder ein: DAS FROSCHGESICHT! Als Kind war mein Unterkiefer grösser als mein Oberkiefer. Ich fand, ich sähe aus wie ein Bullterrier. Ich fühlte mich stark und unbesiegbar. Aber alle anderen sahen in mir eher die Ähnlichkeit mit einem Frosch. Wie ein Komet kracht die Erinnerung, die ich jahrzehntelang erfolgreich verdrängt hatte, in mein Bewusstsein. Mir wird schwarz vor Augen.
Benommen sitze ich am Abend neben Silvia im Restaurant. Wir sind die Ersten. Ich habe feuchte Hände. Silvia fummelt ununterbrochen an ihrer Kette herum. Stumm blicken wir dem Unausweichlichen entgegen. Peter tritt ein. «Peter, der Walfisch», flüstere ich Silvia zu. Sie kichert, flüstert zurück: «Und da kommt Emma, das Krümelmonster.» Ich grinse. Peter ruft durch den Saal: «Sieh an, das Froschgesicht und die Salami! Kleben wie immer aneinander.» Da fallen mir plötzlich die Pausenbrote ein, die Silvia immer mit in die Schule brachte: Zwischen zwei hauchdünnen Scheiben Brot lag eine vier Zentimeter dicke Schicht … Genau. Silvia bekommt einen Hustenanfall. Mir wird wieder schwarz vor Augen, aber nur kurz.
Dann realisiere ich, dass sich die erwachsene Version meiner selbst nicht einfach auflöst, nur weil jemand mich Froschgesicht ruft. Beides hat nebeneinander Platz. Die Journalistin von heute neben dem Froschgesicht von damals. Ich schaue mich um und entdecke in jedem beides. Peter: Ein auf unerklärliche Weise zu Schönheit gelangter Skilehrer verband sich mit einem trägen, runden Wal. Oder Emma: Die Deux-Pièces tragende Consulting-Expertin mit steiler Stirnfalte führte ein augenrollendes Krümelmonster an der Hand.
Es ist zum Schreien lustig und absolut faszinierend. Während Emma und ich uns über die globale Krise unterhalten, plaudern ihr Krümelmonster- und mein Froschgesicht über früher. Nicht, dass ich sagen könnte, worüber genau geplaudert wird. Aber etwas geht zwischen mir und ihr hin und her. Etwas, das viel mehr ist als die Krise. So geht es mir in jener Nacht mit allen Ex-Klassenkameraden. Sie sind mir fremd und vertraut zugleich. Ein schönes Gefühl. Wahrscheinlich sind Klassentreffen genau dafür erfunden worden.
Gegen zwei Uhr früh gingen Silvia und ich. Sie fuhr langsam durch die Nacht, wir zwei waren weit und breit die Einzigen auf der Strasse. Nein, nicht ganz: Zwischen uns sassen noch ein Froschgesicht und eine Salami.