Wenn Schulprobleme schwarz-weiss gesehen werden
Das Beispiel Niederlande zeigt es: Die freie Schulwahl steigert die Leistung - behindert aber die Integration ausländischer Kinder.
Veröffentlicht am 10. Juni 2008 - 11:15 Uhr
Jantine Verhoevens Leben ist anstrengend. Die 32-Jährige ist Ärztin in Utrecht und Mutter: Sohn Martijn ist zweieinhalb Jahre alt, Tochter Fleur fünf Monate. Im Schnitt alle zwei Wochen klappert sie die Informationsveranstaltungen von Grundschulen ab. Martijn wird in zwei Jahren eingeschult. «Erst dachten wir an eine Montessori-Schule, dann an eine katholische Schule mit Schwergewicht Kunst», erzählt die Mutter. Auf jeden Fall wird Martijn den Schulweg im Auto zurücklegen, denn die Schulen in der Nähe findet das Ehepaar Verhoeven «nicht ideal». Die Mutter begründet ausweichend: «Wir wollen die beste aller Möglichkeiten für unsere Kinder.» Das heisst: Der Anteil «Allochthonen» - der Ausländer aus nichtwestlichen Ländern wie Marokko, Türkei oder Surinam - ist ihr zu hoch. Sie habe nichts gegen Ausländer, aber der Rückstand in der sprachlichen Entwicklung gewisser Schüler soll nicht das Lernen ihrer eigenen Kinder behindern. Knapp ein Viertel der Utrechter Kinder besucht inzwischen eine Schule ausserhalb der Stadt.
Die freie Schulwahl wurde in den Niederlanden 1917 in der Verfassung verankert, nach einem langen Streit zwischen Protestanten und Katholiken um das Recht auf eigene Schulen. Heute darf jeder eine Schule gründen, solange mindestens 20 Personen angemeldet sind und die vom Staat vorgeschriebenen Lernziele eingehalten werden. Für Lehrpläne und Unterricht ist jede Schule selber verantwortlich. So gibt es heute mehr als 400 Schulprogramme: von freien Schulen über muslimische, jüdische und hinduistische Schulen bis hin zu reformpädagogischen Modellen. Öffentliche und private Schulen sind finanziell gleichgestellt.
Dieses System funktionierte bislang gut. Die Niederlande belegten in der Pisa-Studie 2006 Platz neun und waren der Schweiz somit um sieben Ränge voraus. Zu heftigen Diskussionen führt jedoch die zunehmende Aufspaltung in «schwarze» und «weisse» Schulen mit einem Anteil von mindestens 50 Prozent «Allochthonen» respektive Einheimischen. Nun werden die schwarzen Schulen immer schwärzer, die weissen weisser, und das hat drei Gründe: Erstens nimmt der Anteil der «Allochthonen» generell zu. Sie machen heute elf Prozent der Gesamtbevölkerung aus; in Rotterdam und Amsterdam beträgt der Anteil der ausländischen Schüler fast zwei Drittel. Zweitens ziehen die Einheimischen aus Quartieren mit hohem Ausländeranteil weg. Drittens haftet schwarzen Schulen das Image an, sie seien schlechter. Das Bildungsministerium widerspricht: Es gebe bei schwarzen und weissen Schulen schlechtere und bessere. Die Ausbildungsqualität ist denn auch nicht der Grund für die Sorge, sondern die Gefährdung der Integrationsbemühungen. Die Städte haben reagiert. In Amsterdam werden seit letztem Sommer die Anmeldungen jener Eltern bevorzugt behandelt, die ihr Kind mit einem Kind anderer ethnischer Herkunft in einer Schule einschreiben. So sollen weisse Schulen farbiger werden.
Ob die schwarzen Schulen dadurch weisser werden, ist allerdings fraglich. Rotterdam hat Quoten eingeführt, die sich am Bildungsstand der Eltern und an deren ökonomischer Situation orientieren. Soeben hat das Kabinett zudem verordnet, dass jede Schule nur einen Anmeldungstag pro Jahr haben soll. Damit lässt sich verhindern, dass einheimische Eltern ihre Kinder schon nach der Geburt in der gewünschten Schule anmelden und dadurch Vorrang erhalten, während sich die «allochthonen» Eltern - mangels Wissens über das niederländische Schulsystem - zu spät um die Einschulung kümmern.
Zahlreich sind auch private Elterninitiativen: Einheimische Eltern melden ihre Kinder gruppenweise in schwarzen Schulen an. Für Mirjam Bout, die Mutter des sechsjährigen River, gaben praktische Gründe den Ausschlag: «Ich wollte, dass er im Quartier zur Schule geht, in einer autofreien Umgebung. Zudem wusste ich, dass eine gute Lehrerin die erste Klasse übernimmt.» In Rivers Klasse sind neun einheimische und zwölf ausländische Kinder. Die Klassenresultate seien sehr gut. Nur eines bedauert Bout: «Die Kinder spielen am liebsten mit Kindern aus dem eigenen Kulturkreis.» Wirkliche Integration dauert wohl einfach etwas länger.