«Ich will kein Mitleid»
Die 16-jährige Samira ist blind. Dennoch arbeitet sie in einer gewöhnlichen Regelklasse auf die Matur hin. Ein Beispiel für eine gelungene Integration.
Veröffentlicht am 23. November 2009 - 14:13 Uhr
Die Glocke läutet: Die Schüler der Kanti Kreuzlingen springen von den Stühlen auf und verlassen eilig das Klassenzimmer. Mitten im Chaos will auch eine junge Frau mit blonden Haaren raus – sie drängelt aber nicht, wartet lieber ab und lässt den andern den Vortritt. Erst als der Raum praktisch leer ist, tastet sie sich mit einem langen Stock und der freien Hand zum Ausgang. Dem Teenager merkt man nicht an, dass sie anders ist als ihre Mitschüler – doch die 16-jährige Samira Wanzenried ist blind.
Im Alter von vier Monaten stellte sich heraus, dass ihr Sehnerv so dünn ist, dass er nicht genug Informationen vom Auge zum Sehzentrum im Gehirn leiten kann. Ein Schock für die ganze Familie: Ihre Tochter würde niemals sehen können. Trotzdem besucht Samira heute keine Sonderklasse, sondern eine reguläre Kantonsschule – keine Selbstverständlichkeit. Möglich machte es nicht zuletzt die positive Einstellung des Rektors der Kreuzlinger Kanti. «Er war von Anfang an sehr offen», so Samiras Eltern.
Ein derart reibungsloser Zugang zu einer öffentlichen Schule war für die Sehbehinderte nicht immer die Regel. Samira besuchte eine Spielgruppe und den regulären Kindergarten. Doch als der Übertritt in die Primarschule fällig wurde, äusserte die Schulbehörde Bedenken – die Siebenjährige wurde abgelehnt. Die Eltern gaben aber nicht auf, legten Rekurs ein. Doch die zukünftige Lehrerin fühlte sich trotz zugesicherter Unterstützung überfordert damit, das blinde Mädchen zu integrieren – die Einschulung drohte definitiv zu scheitern. Doch auch dann trifft Samira auf Menschen mit einer offenen Haltung – das bringt die Wende zum Guten. In einem anderen Schulhaus ihres Wohnorts Weinfelden ist eine Lehrkraft bereit, sich der Herausforderung zu stellen: Samira wird in die Regelklasse integriert.
Kinder und Jugendliche mit besonderem Bildungsbedarf werden oft vom Besuch einer Regelschule ausgegrenzt. Das sonderpädagogische Konkordat, eine interkantonale Vereinbarung, könnte hier klare Richtlinien vorgeben. Beitretende Kantone verpflichten sich zur Einhaltung gewisser Rahmenbedingungen: Integrative Massnahmen müssen trennenden vorgezogen werden. Zudem wird ein vergleichbares Grundangebot an sonderpädagogischer Unterstützung festgelegt. Der Kanton Thurgau ist diesem Konkordat bisher nicht beigetreten: «Das Thurgauer Schulgesetz liefert noch keine Vorgabe, dass Menschen mit besonderen Bedürfnissen nach Möglichkeit in eine reguläre Schule integriert werden; sie sind abhängig von der Integrationsbereitschaft der betroffenen Schule», so Heiner Teuteberg vom thurgauischen Amt für Volksschule.
In der Primarschule erweist sich Samira als intelligente und wissbegierige Schülerin. Sie benutzt eine Schreibmaschine, die Buchstaben in Blindenschrift schreibt, und wird dabei stundenweise von einem Heilpädagogen begleitet. In der dritten Klasse bekommt sie ein Notebook, das noch heute eines ihrer wichtigsten Hilfsmittel ist. An dieses Gerät ist eine sogenannte Braillezeile angeschlossen, ein Gerät, das Word-Dokumente in ertastbare Blindenschrift verwandelt. «Die Unterlagen für die kommende Stunde geben mir die Lehrer auf einem USB-Stick ab. So kann ich dem Unterricht problemlos folgen», erklärt die 16-Jährige.
In der Sekundarschule wird Samira nur noch in den Fächern Physik, Mathematik und Biologie von einem Heilpädagogen unterstützt. Er löst mit ihr rein blindentechnische Fragen. «Wir setzten Grafiken lesbar um oder formulierten eine schriftliche Erklärung der Darstellung», erklärt Willi Fäh vom Ostschweizerischen Blindenfürsorgeverein (OBV).
Samira ist auch in der Sek eine gute Schülerin – wäre sie nicht blind, käme für sie nur eine weiterführende Schule in Frage. Doch kann sie mit ihrem Handicap eine gewöhnliche Mittelschule besuchen? Heilpädagoge Fäh stellt Kontakt mit der Kantonsschule Kreuzlingen her. «Prinzipiell stand für mich von Anfang an fest, dass Samira unsere Schule besuchen kann», so Rektor Arno Germann. Es musste aber abgeklärt werden, ob die Infrastruktur ausreichte und die notwendigen Lehrmittel in Blindenschrift vorhanden waren. Germann stellt klar: «Wenn Samira die intellektuellen Fähigkeiten für eine Mittelschule besitzt, hat sie auch das Recht, diese zu besuchen.» Bedenken hatte er mehr praktischer Art: Kann Samira ausreichend unterstützt werden? Wäre es ihr an einer Blindenschule nicht wohler? Wie kann sie als Blinde Geometrie, Biologie oder Chemie lernen? «Letzte Bedenken können erst an der Matura bestätigt oder ausgeräumt werden.»
Für Samiras Klassen- und Deutschlehrer Daniel Weber war es anfänglich ein Schreck, eine blinde Schülerin in seine Klasse zu bekommen. «Ich wusste von mir, dass ich die üblichen Befangenheiten im Umgang mit Behinderten habe.» Die Unsicherheit etwa, welches Mass an Rücksichtnahme das richtige ist – für Samira wie für den Rest der Klasse. Erschwernisse im Unterricht, die auf Samira zurückzuführen sind, gibt es laut Weber aber kaum. Im Gegenteil: Er sieht Samira mit ihrer fröhlichen und offenen Art als Bereicherung für sich und die übrigen Schülerinnen und Schüler.
So findet es auch die 15-jährige Deborah Helfenberger toll, dass Samira mit ihr in die Schule geht: «Es ist interessant, mit einer Blinden in der Klasse neue Erfahrungen zu machen.» Deborah ist begeistert darüber, dass Samira die verschiedenen Klassenräume allein findet. Ein Mobilitätstrainer hat mit Samira die Wege zu den zahlreichen Fachzimmern immer wieder zurückgelegt; Merkpunkte wie Treppen oder Türen helfen ihr bei der Orientierung. «Früher habe ich auf dem Weg zur Schule Strassenlaternen gezählt, da ich wusste, dass ich bei der sechsten nach links abbiegen muss», erzählt Samira.
In ihrer Klasse fühlt sich Samira wohl und gut integriert: «Ich habe tolle Mitschüler, die mich unterstützen, wenn ich Hilfe brauche.» Auch die Lehrer seien super, flexibel und originell, wenn es darum gehe, ihr schwierige Themen zu vermitteln und zu erklären. Auch Heilpädagoge Fäh schätzt die Integration von Samira als mustergültig ein: «Das Zusammenspiel von Schulleiter, Lehrkräften und Klasse ist phantastisch. Jeder trägt seinen Teil zur Integration bei – besonders die junge Frau selbst.
Ihre Freizeit verbringt Samira gern mit Freundinnen. «Wir plaudern über Gott und die Welt, gehen shoppen oder auch mal ins Kino.» Auch die Musik bedeutet ihr viel. Seit sechs Jahren spielt sie Klavier und singt: «Musiklehrerin wäre bestimmt ein interessanter Beruf.» Sie könnte sich aber auch vorstellen, einst als Übersetzerin tätig zu sein.
Wenn Samira jemanden kennenlernt, entscheidet vor allem die Stimme über spontane Sympathie oder Antipathie. Wenn Menschen offen und unkompliziert auf sie zugehen, schätzt sie das sehr: «Ich will kein Mitleid.»
Obwohl sie ihre Blindheit weitgehend akzeptiert, wünscht sie sich manchmal, etwas sehen zu können. «Wenn ich mit Kolleginnen unterwegs bin, sagen die oft: ‹Hey, schau dir mal den Typen an, der sieht super aus!› In solchen Momenten nervt es mich, dass ich nicht sehen und mitreden kann.» Ein konkretes Ziel für die Zukunft hat sie nicht. Später eine Familie zu gründen, kann sich die 16-Jährige vorstellen. «Der einzige Wunsch für mein weiteres Leben ist, dass ich immer so glücklich sein darf, wie ich das heute bin!»
Zum Autor: Samiras Geschichte hat der 17-jährige Martin Wyss (Bild) geschrieben. Er besucht als Klassenkamerad des blinden Mädchens die Kantonsschule in Kreuzlingen. Wyss‘ Freizeit gehört seinen Freunden, der Zauberei und dem Schreiben von Gedichten und gelegentlichen Zeitungsartikeln. Später möchte er Wirtschaftspsychologie studieren und Journalist werden.
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