Schule: «Ich kann mich nicht aufs Lernen konzentrieren»
Veröffentlicht am 4. Oktober 2000 - 00:00 Uhr
«Ich bin eine 17-jährige Gymnasiastin und habe ein Problem: Es fällt mir zunehmend schwerer, mich für schulische Sachen zu interessieren oder mich für eine Klausur vorzubereiten. Statt zu lernen, denke ich über menschliche Beziehungen nach. Früher war ich eine gute Schülerin, doch jetzt halte ich mich nur noch knapp über Wasser. Können Sie mir helfen?»
Ruth V.
Koni Rohner, Psychologe FSP:
Zumindest kann ich Sie trösten: Ich verstehe sehr gut, dass ein intelligenter, kreativer, liebevoller und sozial denkender Mensch in der Mittelschule Probleme bekommen kann. Über weite Strecken herrscht dort immer noch die so genannte «Containerpädagogik», die der südamerikanische Pädagoge Paulo Freire schon vor Jahrzehnten kritisiert hat. Die Schüler werden wie Container mit einer Riesenmenge Wissen abgefüllt respektive füllen sich diese beim «Büffeln» selber ein um dann an den Prüfungen alles wieder auszuschütten. Zum Forschen, Fragen, selbstständigen Denken, Erkennen und wirklich Verstehen bleibt kaum Zeit.
Trotzdem bin ich der Auffassung, dass es sich lohnt, die Mittelschule durchzustehen. Denn wenn Sie später weiter über menschliche Beziehungen nachdenken und vielleicht auch etwas dazu beitragen wollen, dass es den Menschen besser geht und die Welt liebevoller wird, dann haben Sie dafür mit einer Matur mehr Möglichkeiten. Ich weiss Ihnen also keinen anderen Rat, als die Mittelschule erfolgreich durchzustehen um der späteren Freiheit willen. Als praktischen Tipp empfehle ich Ihnen, sich mit einer Kollegin oder einem Kollegen zusammenzutun und gemeinsam zu arbeiten.
Der heutigen Schule fehlt es an Herz
Ruth V. ist mit ihrer Krise nicht allein auch wenn es in der aktuellen Diskussion zurzeit vor allem um die Volksschule geht: Landauf, landab wird reformiert (Beobachter Nr. 18/99), weil der Unterricht, so die Reformer, nicht mehr der modernen Welt genüge. Da aus der Wirtschaft deutliche Forderungen nach mehr Leistung gestellt werden, gestatte ich mir hier einige Wünsche aus der Sicht des Lebensberaters.
Der gute alte Pestalozzi sprach von einer gleichmässigen Bildung von Kopf, Herz und Hand. Heute brauchen wir, finde ich, vor allem eine Schule mit mehr Herz. Zur Aneignung von Wissen sollte sich gleichwertig der Erwerb so genannter Personal- und Sozialkompetenzen gesellen. Denn wer sich selber kennt und gern hat, wer in der Lage ist, andere wirklich kennen zu lernen und gern zu haben, der fühlt sich wohl und leistet einen wichtigen Beitrag zu einer gut funktionierenden und humanen Gesellschaft. Folgende «Fächer» sollten deshalb in der Schule genauso ihren Platz haben wie etwa Mathematik und Fremdsprachen:
Zu oft können wir die Wirklichkeit nicht ungeschminkt wahrnehmen, weil wir von Konditionierungen, Normen, Moral, Projektionen oder Eigennutz geblendet sind. In der Schule sollte deshalb zuerst die Fähigkeit trainiert werden, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist.
Die Kinder sollten lernen, fruchtbar zu kommunizieren: damit sie einerseits zuhören und verstehen können, ohne zu werten und anderseits in der Lage sind, eigene Gefühle und Wünsche ehrlich und ohne Vorwürfe mitzuteilen. Nur so lassen sich Konflikte lösen und Kompromisse finden.
Zu viele Menschen kennen sich selbst nicht richtig. Sie haben ein Bild von sich, das nicht ihrem inneren Erleben entspricht. Deshalb ist ihr Selbstbewusstsein wackelig. Kinder sollten also in der Schule sich selbst und andere kennen und schätzen lernen statt einander in erster Linie als Konkurrenten zu begegnen.
Viele Leute haben zu wenig Mut, um neue Wege zu beschreiten. Kinder sollten deshalb in der Schule Vertrauen dafür entwickeln, dass sie im Lernen, im Sozialen und überhaupt im Leben selbstständig ihren eigenen Weg finden können.
Kinder sollten in der Schule erfahren, dass Liebe im weitesten Sinn die solideste Grundlage für die Lebenszufriedenheit darstellt: Liebe zu den Sachen, der Natur und Verständnis und Zuwendung zwischen den Menschen.