Strafe verändert nichts
Gibt es heute mehr «Prügelpädagogen? Und wie kann man Kinder vor der Gewalt durch Lehrpersonal schützen?
Veröffentlicht am 3. Mai 2001 - 00:00 Uhr
«Man hört immer wieder von Lehrern, die ihre Schülerinnen und Schüler schlagen. Gibt es plötzlich wieder mehr «Prügelpädagogen»? Wie können wir unsere Kinder vor der Gewalt durch Lehrpersonen schützen?» Lucia F.
Dass es heute mehr «Prügelpädagogen» gibt als früher, glaube ich nicht – im Gegenteil. Ihr Eindruck rührt wohl eher daher, dass eine zufällige Häufung von solchen Fällen durch die Medien aufgebauscht wird. Leider ist die Bevölkerung sehr schnell bereit, mit Steinen auf die Lehrer zu werfen. Dies könnte mit ein Grund für den aktuellen Lehrermangel sein. Der deutsche Philosoph Theodor Adorno sprach von einer «subtilen Missachtung des Lehrerberufs». Die einen missgönnen den Lehrerinnen und Lehrern die langen Ferien. Andere sind gekränkt, weil die Lehrkräfte mit ihren Selektionsentscheiden den sozialen Erfolg der Kinder mitbestimmen.
Was Körperstrafen betrifft, sind die gesetzlichen Grundlagen klar. Das Strafgesetzbuch verbietet körperliche Gewalt, und auch die meisten Schulgesetze werden einen solchen Passus enthalten. Im Kanton Zürich zum Beispiel wurde die Körperstrafe schon vor 15 Jahren ausdrücklich untersagt. Zwar kann jedem Lehrer einmal die Hand ausrutschen, wenn er extrem provoziert wird, und das gilt auch für die Eltern. Und es gibt wohl niemanden, der nicht irgendwann einmal vor Wut explodiert wäre.
Natürlich ist es besser, wenn man beim Verlust der eigenen Kontrolle einen Teller an die Wand wirft oder ein Schimpfwort ausstösst. Aus der Sicht der Pädagogik ist die Sache ebenfalls klar. Strafen, vor allem Körperstrafen, sind kein Erziehungsmittel. Auch angemessene und zum Teil in den Schulgesetzen erwähnte Strafen – ohne Verletzung der körperlichen Integrität – dienen nur dem Aufrechterhalten von Ordnung. Sie bewirken – das ist wissenschaftlich nachgewiesen – keine nachhaltige Verhaltensänderung.
Belohnen bewirkt mehr als strafen
Das gilt nicht nur für Schule und Elternhaus, sondern für die ganze Gesellschaft. Man weiss, dass notorische Verkehrssünder – trotz Bussen und Fahrausweisentzug – immer wieder rückfällig werden. Strafen unterdrücken lediglich das unerwünschte Verhalten – sie verändern nicht die Grundhaltung. Dies geschieht viel eher, wenn ein erwünschtes Verhalten belohnt wird. Eine positive Veränderung findet vor allem dann statt, wenn der oder die Betroffene einen Erkenntnisprozess erlebt.
Lehrpersonen werden in der ganzen Schweiz nach diesen Prinzipien ausgebildet. Sie erwerben sich ein differenziertes Instrumentarium, um mit Erziehungsschwierigkeiten umzugehen. Das Thema Klassenführung nimmt an den Lehrerseminaren und an den pädagogischen Hochschulen einen zentralen Platz ein. Ein guter Lehrer wird bei einem aggressiven Konflikt mit einem Schüler in der Regel zuerst analysieren, wer von beiden denn nun das Problem hat. Was steckt hinter den Aggressionen des Schülers? Hat er Leistungsprobleme? Erlebt er soziale Schwierigkeiten mit den Mitschülern, zu Hause oder im Kontakt mit dem Lehrer?
Im Normalfall wird ein konstruktives Gespräch zwischen Lehrer und Schüler zu gewaltfreier Konfliktlösung führen. Unter Umständen ist der Beizug des Schulpsychologen nötig. Bei der Analyse des Konflikts kann der Lehrer aber auch zum Schluss kommen, dass er selber entweder überfordert ist oder einen Anteil daran hat, dass ihn ein bestimmter Schüler so «auf die Palme» bringen kann. Gute Pädagogen werden in solchen Fällen eine Einzelsupervision, eine Psychotherapie oder die Hilfe einer Praxisberatungsgruppe in Anspruch nehmen.
Lehrkräfte auf Konflikte vorbereiten
Die meisten Lehrerinnen und Lehrer betrachten Aggressionen im Erziehungsverhältnis als pädagogische Panne. Einzelne schwarze Schafe, die Körperstrafen allen Ernstes für ein Erziehungsmittel halten, gehören nicht in diesen Beruf. Möglicherweise stehen die Lehrkräfte heute unter einem stärkeren Druck als noch vor dreissig Jahren. Der Leistungsdruck hat sich, parallel zur verschärften Konkurrenz in der Gesellschaft, auch in der Schule vergrössert.
Weil die Schweiz ein Immigrationsland ist, kann die Multikulturalität ebenfalls zu einem Belastungsfaktor werden. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind ausserdem verunsichert, weil Lehrpläne und Schulstrukturen revidiert werden. Vielleicht reagieren einige darauf mit grösserer Reizbarkeit, andere gar mit Depressionen oder Burnout-Symptomen.
Wichtig ist deshalb, dass angehende Lehrkräfte bereits in der Ausbildung auf diese Belastungen vorbereitet werden und dass sie, wie zum Beispiel im Kanton Zürich, im Studium die Erfahrung machen, wie hilfreich Supervisionsgruppen sein können. Ein weiterer wichtiger Punkt, der Spannungen abbauen hilft, ist die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus. In guten Schulen entsteht durch Elternabende und regelmässige Gespräche ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Eltern, das dann zum Tragen kommt, wenn Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten auftauchen.