Schulprobleme: Schweigen ist Silber, Reden ist Gold
Was tun, wenn das Kind in den Hausaufgaben fast ertrinkt oder in der Freizeit nachsitzen muss? Das Schulrecht ist nicht einheitlich geregelt, doch Eltern können sich wehren: Wer das Gespräch sucht, verhindert Missverständnisse.
Veröffentlicht am 26. September 2000 - 00:00 Uhr
Es kommt auf das kantonale Recht an.» Das ist die häufigste Antwort des Beobachter-Beratungszentrums auf Anfragen zum Schulrecht: Laut Bundesverfassung sind die Kantone zuständig. Die nehmen aber ihre Kompetenz unterschiedlich wahr und haben das Schulwesen oft nicht bis ins letzte Detail geregelt.
Der Fünftklässler Markus Habegger* möchte wissen, ob es für Hausaufgaben eine Höchstgrenze gibt oder ob sein Lehrer so viele «Uufzgi» verteilen kann, bis seine Klasse «platzt».
Bei Hausaufgaben existiert kein Bundesgesetz, das eine zeitliche Begrenzung vorsieht. Fehlen auch im kantonalen Schulrecht Richtlinien zur maximalen Belastung der Schülerinnen und Schüler, kommt das Arbeitsgesetz analog zur Anwendung. Es schreibt für Jugendliche ab 15 Jahren eine Höchstarbeitszeit von täglich neun Stunden vor, die innerhalb eines Zeitraums von zwölf Stunden liegen soll.
Für 14-Jährige legt die Verordnung zum Arbeitsgesetz eine Höchstarbeitszeit von 40 Stunden pro Woche vor. Für noch jüngere Schülerinnen und Schüler muss dieser Wert entsprechend tiefer liegen. Hat Markus also bereits fünf Unterrichtsstunden hinter sich, sollten die Hausaufgaben nicht mehr als eine Stunde seiner Freizeit in Anspruch nehmen.
Die Grenzen sind fliessend
Erschwert werden schulrechtliche Auseinandersetzungen, weil die Schulpflicht in vielen Belangen die von der Bundesverfassung garantierten Grundrechte tangiert – so etwa die Bewegungsfreiheit der Kinder. Grundrechte dürfen aber grundsätzlich nur unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden. So müssen die Einschränkungen in einem Gesetz oder – bei leichten Eingriffen – in einer Verordnung verankert sein. Zudem müssen sie sich auf ein öffentliches Interesse stützen können und verhältnismässig sein. Folge: Die Konstellation bringt schwierige Abgrenzungsfragen mit sich.
Das musste auch Monika Fuchs* erfahren: «Unsere 14-jährige Tochter Sandra* weigert sich, nach der Turnstunde zu duschen.» Grund dafür seien die veralteten sanitären Anlagen und der Umstand, dass Duschzonen von Mädchen und Knaben nicht klar getrennt seien. «Das Schlimme daran ist, dass die Lehrerin an der Duschpflicht festhalten will und gar mit Strafmassnahmen droht», sorgt sich Sandras Mutter.
Viele Schulgesetze verpflichten die Lehrerschaft, auf körperliche Reinlichkeit und den Gesundheitszustand der ihnen anvertrauten Kinder zu achten. Dagegen schützt das Grundrecht der persönlichen Freiheit die Privat- und Intimsphäre der Kinder. Welche Interessen gehen vor? Schulrechtsexperte Herbert Plotke: «Es ist nicht Sache der Lehrkräfte, dafür zu sorgen, dass alle Kinder nach der Turnstunde duschen, solange die Mitschülerinnen und Mitschüler nicht gestört werden.» Selbst wenn der Unterricht durch Schweissgeruch beeinträchtigt werde, könne ein Lehrer nicht einfach Zwang ausüben, und schon gar nicht dürfe er die Kinder deswegen bestrafen. Zudem verfügen manche Schulen auch heute noch nicht über entsprechende sanitäre Einrichtungen. Plotke: «Ein Duschobligatorium lässt sich an solchen Schulen gar nicht durchsetzen.»
Auch bei den Disziplinarmassnahmen haben Eltern und Lehrerschaft das Heu oft nicht auf der gleichen Bühne. So begreift etwa Peter Zumstein* nicht, dass sein Sohn am Mittwochnachmittag wegen eines Lausbubenstreichs nachsitzen muss. «Die Kinder sollten an ihren schulfreien Nachmittagen doch bei ihren Eltern sein», engagiert sich der Vater für seinen Schützling. Er hat insofern Recht, als eine solche zeitliche Ausdehnung der Schulzeit einen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht darstellt. Deshalb sollte der Arrest den Eltern angekündigt werden. Weiter muss das kantonale Schulrecht eine solche Strafe zulassen. Insbesondere darf durch das Nachsitzen die gesetzlich festgelegte Wochenstundenzahl nicht überschritten werden.
Lehrer haben nicht alle Rechte
Diese Fälle machen deutlich: Im Schulrecht ist eigentlich wenig ganz klar. Deshalb ist es bei Schulproblemen wichtig, dass die Eltern den Kontakt zu den Lehrerinnen und Lehrern suchen, aber auch umgekehrt. Die Eltern sollten vor allem nicht gleich den Rechtsweg beschreiten, solange das Verhältnis zwischen den Beteiligten noch nicht unheilbar zerstört ist. Denn viele Missverständnisse entstehen aus reiner Unkenntnis über die Rechtslage, und zwar auf beiden Seiten.
Anton Strittmatter, Geschäftsleiter des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), formulierts deutlich: «Viele Lehrerinnen und Lehrer sind sich oft gar nicht bewusst, dass ihrem Handeln zum Teil enge rechtliche Grenzen gesetzt sind. Sie entscheiden vielmehr nach ihrem persönlichen Ermessen.»
Ein klärendes Gespräch kann helfen, den Konflikt zu entschärfen, ohne dass dabei zu viel Geschirr in die Brüche geht. Denn Verlierer von Schulrechtsprozessen sind letztlich meistens die Kinder, weil sie weiterhin den Unterricht bei ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer besuchen müssen. Es lohnt sich deshalb auch für Eltern, einmal einen Blick in ein Buch über Schulrecht zu werfen.
Den Pädagoginnen und Pädagogen legt Strittmatter ans Herz, sich bei Zweifeln an der Rechtmässigkeit ihres Vorgehens frühzeitig an die Vertrauensanwälte der kantonalen Lehrervereine oder die Rechtsdienste der Erziehungsdepartemente zu wenden. «Aber häufig lässt sich die Lehrerschaft erst dann rechtlich beraten, wenn die Fronten bereits verhärtet sind», bedauert der LCH-Geschäftsleiter.
Es wäre also wünschenswert, wenn sich die Lehrerinnen und Lehrer in Zukunft einen Grundsatz genauso zu Herzen nehmen, wie sie es auch von den Kindern beim Unterricht verlangen: besser einmal zu viel fragen als zu wenig.
* Name geändert