Volksschule: Wer zu viel Mist baut, soll gehen
Terror in Schweizer Schulzimmern: Rüpelhafte und gewalttätige Jugendliche werden immer häufiger vorzeitig ausgeschult oder einzeln unterrichtet.
Veröffentlicht am 14. August 2000 - 00:00 Uhr
Sandro geht nicht zur Schule. Der zwölfjährige Knabe wurde vor eineinhalb Jahren aus disziplinarischen Gründen aus der vierten Klasse in Liestal BL geworfen. Seither erhält er ein paar Lektionen Einzelunterricht pro Woche.
Auch im zürcherischen Rikon wurden drei 15-jährige Burschen von der Schule gewiesen, nachdem sie sich sexuell an einer Mitschülerin vergangen hatten. Und die Schulgemeinde Rapperswil-Jona SG warf im Frühling gleich vier Schüler raus. Einer von ihnen hatte seiner Lehrerin eine Schere nachgeworfen.
Die Meldungen über «böse Buben», die trotz Schulpflicht von der Schule fliegen, häufen sich. «Die Situation hat sich verschärft. Wir müssen immer wieder über ein Gesuch auf vorzeitigen Schulausschluss befinden», sagt der Schwamendinger Schulpräsident Gildo Biasio.
Ähnlich tönt es auch in anderen Kantonen. «Vor zehn Jahren waren Anträge auf vorzeitige Schulentlassung noch Ausnahmen. Das ist heute anders», stellt beispielsweise Helmuth Zipperlen vom Erziehungsdepartement des Kantons Solothurn fest. Im letzten Schuljahr waren es zehn.
Rauswürfe massiv kritisiert
Die Gründe für einen Rausschmiss sind immer etwa die gleichen: Gewalt gegen Mitschüler und Lehrer, extreme Disziplinlosigkeit, massives Stören oder Verweigern des Unterrichts. Oft betrifft es Knaben aus der Mittel- und der Oberstufe.
Doch die Ausschlüsse sind nicht unumstritten. «Einen unbegreiflich gemeinen Entscheid» habe sich die Schulbehörde Jona geleistet und den Jugendlichen «quasi für immer einen Stempel aufgedrückt», empört sich ein Vater zweier schulpflichtiger Kinder in einem Leserbrief an den Zürcher «Tages-Anzeiger». Ein anderer Leser meldet sich im Berner «Bund» zu Wort: «Gerade bei Problemfällen bedarf es zusätzlicher Betreuung. Ein solcher Verweis wirkt nur destruktiv.»
Auch Lehrerinnen und Lehrer haben zwiespältige Gefühle. «Mir widerstrebt es sehr, einen Schüler auszuschliessen. Ich tue das nicht gern. Aber manchmal bleibt kein anderer Weg», sagt Oberstufenlehrer Max Fasnacht aus Oberdorf SO.
Für Urs Schildknecht, Zentralsekretär des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, steht fest: «Eine Wegweisung aus dem Unterricht darf nur verhängt werden, wenn alle anderen pädagogischen Bemühungen gescheitert sind.» Als letzte Möglichkeit sei der Ausschluss und die Zuweisung in ein Internat oder ein Heim jedoch nötig – zum Schutz der Klasse, der Lehrperson und als Abschreckung für Nachahmer.
Unbestritten ist, dass die Probleme mit schwierigen Schülerinnen und Schülern zugenommen haben. Beim Schulpsychologischen Dienst der Stadt Zürich haben sich die Anmeldungen wegen «psychosozialer Problematik» in den letzten sechs Jahren fast verdoppelt. Die Prozentzahl der Schüler, die effektiv von der Schule gewiesen werden, ist aber nach wie vor klein. Im Kanton Zürich mit jährlich 10'000 neu eingeschulten Kindern sind es pro Jahr rund 20 Betroffene. Nur: Ein einzelner Schüler kann eine ganze Klasse terrorisieren und einen geregelten Unterricht verunmöglichen.
Gesamtschweizerische Zahlen gibt es bisher noch nicht. Das hängt damit zusammen, dass jeder Kanton das Thema «Schulausschluss» anders anpackt. Doch der Tenor der Schulbehörden ist eindeutig: mehr Anträge auf Wegweisungen und deutlich mehr Gesuche für Sonderlösungen.
Zürich sieht als Massnahme für verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler den Einzelunterricht vor. Untragbare Kinder werden während einer gewissen Zeit individuell unterrichtet – in der Regel acht Stunden pro Woche. Damit die Jugendlichen während der übrigen Zeit nicht herumhängen, werden sie angehalten, an einem Beschäftigungsprogramm des Sozialdepartements teilzunehmen. Die Schüler werden so lang allein unterrichtet, bis eine andere Lösung gefunden ist oder sie sich so weit «beruhigt» haben, dass sie am Unterricht im Klassenverband wieder teilnehmen können.
Sonderschulungen gehen ins Geld
Ursprünglich war der Einzelunterricht vor allem für Schülerinnen und Schüler gedacht, die nach einem Spitalaufenthalt noch nicht den Klassenunterricht besuchen konnten. Doch diese Fälle sind inzwischen in der Minderzahl. Und der Ruf nach individuellem Unterricht ist gross. Innerhalb von nur zwei Jahren wurden die Stellen der Lehrer für Einzelunterricht in der Stadt Zürich von fünf auf zehn verdoppelt.
Doch auch andere Sondermassnahmen werden immer häufiger angeordnet. Teilten die Zürcher Schulpflegen im Schuljahr 1996/97 noch 110 Schüler einer Spezialschulung zu, waren es im letzten Jahr bereits 180.
Diese Massnahmen gehen ins Geld. Um das eigene Budget zu entlasten, drängen vorab kleinere Kantone darauf, gewisse Angebote nur für so genannte IV-Kinder zugänglich zu machen – für Kinder, bei denen eine medizinische Störung diagnostiziert ist. Ihnen zahlt die Invalidenversicherung (IV) einen Beitrag an eine Sonderschule.
Die Ausgaben der IV an Sonderschulen sind denn auch in den letzten Jahren stark gestiegen: 1980 zahlte die IV 220 Millionen Franken, 1998 waren es bereits 615 Millionen. Auch wenn man die teuerungsbedingten höheren Ansätze pro Kind berücksichtigt, ist das eine gewaltige Zunahme. Auch die Ausgaben des Bundesamts für Justiz an Heime für straffällige Jugendliche und Schwererziehbare sind geradezu explodiert: Von 47 Millionen im Jahr 1990 auf 77 Millionen Franken 1999.
«Die Nachfrage nach solchen Einrichtungsplätzen ist massiv gestiegen», stellt Priska Schürmann vom Bundesamt für Justiz fest. Allein 1998 und 1999 haben sich 17 Heime neu auf dieses Segment ausgerichtet und erhalten nun Bundesbeiträge. Trotzdem mangelt es an alternativen Schulplätzen für Kinder und Jugendliche, die aus der Regelklasse kippen. «Müssen wir einen Schüler ausschliessen, wissen wir kaum, wohin mit ihm», sagt der Schwamendinger Schulpräsident Gildo Biasio.
Vor allem für jüngere Schüler ist es schwierig, einen Platz zu finden. Für den zwölfjährigen Sandro sucht man seit eineinhalb Jahren einen Platz – ohne Erfolg. Zuerst sperrten sich die Eltern, ihn in ein Heim zu schicken, dann weigerten sich die Heime, Sandro aufzunehmen. Wenn nicht bald eine Lösung gefunden wird, droht dem Knaben die vorübergehende Einweisung in ein Jugendgefängnis. «Das ist doch Verhältnisblödsinn», protestiert Erik Wassmer, der Rechtsanwalt der Familie. «Die Behörden wissen nicht, was sie tun sollen. Und dafür soll ein Junge nun büssen.»
«Es geht ums Überleben»
Manche Eltern versuchen, solchen Auseinandersetzungen elegant auszuweichen. Die Eltern eines elfjährigen Schülers etwa zogen kurzerhand in eine andere Gemeinde, als ihr Sohn von der Schule flog. Er war mit einer abgebrochenen Flasche auf seine Lehrerin losgegangen und hatte ihr gedroht, sie umzubringen. Die Lehrer an der neuen Schule wissen nichts von der unrühmlichen Vergangenheit des Knaben.
Wie sagt der Oltner Oberschullehrer Jürg Meyer: «Auf unserer Schulstufe geht es nicht um Wissensvermittlung, hier gehts ums Überleben.»