Peter Thiele, Oberstufenlehrer in Wettingen und Praxislehrer an der Fachhochschule Nordwestschweiz

Quelle: Mara Truog

Wenn es früher in der Schule knallte, gabs zu Hause auch gleich noch was hinter die Ohren», ist in Lehrerzimmern ein oft gehörter Satz. Obwohl sich niemand ernsthaft Körperstrafen in den Schul- und Erziehungsalltag zurückwünscht, schwingt dabei häufig ein bisschen Wehmut mit – nach der guten alten Zeit, als Eltern noch bedingungslos hinter dem Lehrer oder der Lehrerin standen.

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Heute sieht das anders aus. Elternhaus und Schule bilden immer öfter Gegenpole, statt sich in Erziehungsfragen zu ergänzen. Aus einer Aargauer Studie von 2008 geht hervor, dass Eltern für Lehrer zunehmend zum Belastungsfaktor werden: Einerseits reden sie bei allem mit und setzen die Lehrkraft unter Rechtfertigungsdruck; anderseits kommen sie selbst ihrer Erziehungsfunktion nicht ausreichend nach. Der Druck, den unterschiedlichen Erwartungen von Eltern und deren Sprösslingen gerecht zu werden, rangiert auf der Problemliste der Lehrer auf Platz drei – gleich hinter den beiden grössten Belastungen «Verhalten ‹schwieriger› Schüler» und «Reformen».

Dass die Allianz zwischen Schule und Elternhaus bröckelt, spüren Praktiker seit längerem. Johann-Christoph Rudin vom Zürcher Beratungsunternehmen Schulsupport sieht die Gründe dafür zum Teil in der gesellschaftlichen Entwicklung: «Eltern sind immer weniger bereit, sich an Regeln zu halten, die ihren individuellen Bedürfnissen zuwiderlaufen.» Sie stellen Gesuche, um die Sommerferien zu verlängern, fechten Klassen- und Schulhauszuteilungen an und wehren sich gegen Schullaufbahnentscheide.

Die mühsamsten Gegner seien die «Kampfväter», sagt Rudin. Vielbeschäftigte Geschäftsmänner aus dem mittleren und dem höheren Kader. «Die gehen mit harten Bandagen auf die Schule los, um sich und der Welt zu beweisen, dass sie für ihr Kind da sind.»

Friedwart Storto, Schulleiter der Sekundarschule in Bubikon ZH

Quelle: Mara Truog

Der Schulleiter Friedwart Storto hat Erfahrungen mit solchen Vätern: «Einer verfasste E-Mails im Befehlston und stellte Forderungen auf. Ich musste ihn darauf hinweisen, dass er nicht mein Vorgesetzter ist.» Manche Eltern seien imstande, eine Beschwerde gegen die Klassenzuteilung ihres Kindes bis vor den Bezirksrat zu bringen oder sich mit allen erdenklichen Mitteln gegen Schullaufbahnentscheide zu wehren. Doch nicht nur streitlustige Akademiker machen den Lehrern das Leben schwer: Auch in bildungsfernen Familien, die der Schule kaum Bedeutung zumessen, und bei Eltern, die in ihren Herkunftsländern den Staat als Feind erlebt hätten, sei die Bereitschaft zur Kooperation gering.

Dass sich die Schule immer häufiger gegen das Auftreten von Eltern wehren muss, komme nicht von ungefähr, sagt Storto. «In den Neunzigern wurde das Ansehen des Lehrerstands öffentlich demontiert.» Die Medien zeichneten Lehrer entweder als altmodische Disziplinfanatiker oder gspüürige Kuschelpädagogen mit 13 Wochen Ferien und einem viel zu hohen Gehalt.

Gleichzeitig erhielten Eltern in verschiedenen Reformen immer mehr Mitspracherecht, was offenbar den Eindruck vermittelte, dass in der Schule alles verhandelbar sei. Die Folge: Lehrer müssen jederzeit alles belegen können. Storto: «Wenn ich bei Elterngesprächen dabei bin, staune ich immer wieder, wie gut die Lehrer dokumentiert sind – und wie viele Ressourcen dieses Rechtfertigen verschlingt.»

Johann-Christoph Rudin, Zürcher Beratungsunternehmen Schulsupport (Foto: Privat)

Quelle: Mara Truog

Peter Thiele, Oberstufenlehrer in Wettingen und Praxislehrer an der Fachhochschule Nordwestschweiz, nennt das «Selbstschutz» – weil eine gute Dokumentation vor grösseren Schwierigkeiten bewahren könne: «Ich lasse alles gegenzeichnen: Briefe, Prüfungen, Beurteilungen – so kann ich Eltern nötigenfalls mit Fakten konfrontieren.»

Ein weiteres Rezept, um Konflikten vorzubeugen, sei, aktiv zu informieren und grösstmögliche Transparenz herzustellen: «Ich schreibe Rückmeldungen zur Leistungsbereitschaft oder zum Lernverhalten eines Schülers direkt auf Prüfungen oder greife abends auch mal zum Telefon – für Lob wie auch für Tadel.»

Nicht immer lassen sich Eltern von Fakten überzeugen, sagt Schulleiter Storto: «Wenn ein Kind in der Schule versagt, muss irgendjemand schuld sein.» Ist der Sohn schlecht in Mathe, heisst es dann schnell, der Lehrer könne schlecht erklären.

Deshalb gebe es auch immer wieder Eltern, die auf Unterrichtsinhalt und -methodik Einfluss nehmen wollen, obwohl da keinerlei Mitspracherecht besteht. «Die sagen sich: ‹Ich ging ja auch einmal zur Schule und weiss, wie das läuft›», sagt Storto. «Aber Lehrer sind in ihrem Gebiet studierte Fachleute – und es wäre wichtig, dass dieses Expertentum wieder entsprechend Anerkennung fände.»

Johann-Christoph Rudin von Schulsupport sieht allerdings auch auf Seiten der Lehrer Handlungsbedarf: «Viele Lehrkräfte verschanzen sich bei Kritik gleich im Schützengraben – und seien die Anwürfe noch so haltlos.» Er erlebe immer wieder, dass sich gerade gestandene Lehrerinnen und Lehrer, die seit Jahrzehnten erfolgreich unterrichteten, von ein paar aufmüpfigen Eltern ins Burn-out treiben liessen. Das Problem sei, dass viele Lehrkräfte schlicht nicht über Strategien verfügten, um angemessen zu reagieren. «Solche Situationen eskalieren dann, bis es unsere Rechtsberatung und unser Konfliktmanagement braucht», so Rudin.

Er fordert, dass sich die Lehrkräfte im Rahmen von Weiterbildungen mit dem nötigen Rüstzeug ausstatten. Schulleiter Storto teilt diese Einschätzung: «In Sachen Krisenkommunikation und Konfliktmanagement gibt es tatsächlich ein Ausbildungsmanko.» Kritik werde für viele Lehrer schnell zur persönlichen Sache – auch weil es schwierig sei, den Unterrichtsstil von der eigenen Person zu trennen: «Psychologen lernen, eine professionelle Distanz zu wahren.» Lehrer seien dabei weitgehend sich selbst überlassen.

Es braucht Prävention und Selbstschutz

Das Problem ist auch beim Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) bekannt. «Aber die pädagogische Hochschule kann Studierende nicht während der Grundausbildung auf alle Eventualitäten einer 40-jährigen Berufskarriere vorbereiten», sagt Beat W. Zemp, der LCH-Präsident. Wichtig sei es aber in jedem Fall, dass sich die Betroffenen nötigenfalls Hilfe bei Berufsverbänden und kantonalen oder privaten Lehrerberatungsstellen holten.

Lehrer Peter Thiele ist deshalb vorbeugend aktiv geworden. Gemeinsam mit weiteren Lehrkräften gründete er eine Intervisionsgruppe, die sich regelmässig trifft und Probleme bespricht: «Der Blick von aussen objektiviert die Kritik und hilft einem, gelassen zu bleiben – oder die Beanstandungen gegebenenfalls anzunehmen und sich zu verbessern.»

Doch um das Verhältnis zwischen Schule und Elternhaus zu verbessern, braucht es mehr als Prävention und Selbstschutz seitens der Lehrer. Zu gross ist deren Unzufriedenheit: In einer Lehrerbefragung des LCH von 2006 erreichte die Zufriedenheit der Lehrer mit den Eltern und der Öffentlichkeit auf einer Skala von 1 bis 6 lediglich den Wert 3,98; die berufliche Gesamtzufriedenheit erhielt den Durchschnittswert 4,1 – knapp genügend, aber unbefriedigend. Kein Wert, der langjährige Karrieren fördert oder Neueinsteiger anlockt. Der aktuell herrschende Lehrermangel ist hierfür die Quittung. Was das im Alltag bedeutet, weiss Schulleiter Storto: «Ich musste nach zwei Abgängen mitten im Schuljahr 180 Stellenprozente auf drei Bewerber verteilen – zum Glück sind es alles fähige Leute, denn es waren die einzigen Bewerber.»