Brave Brigitte oder Zappelphilipp?
Ob im Zeugnis unter Betragen «gut» steht oder «ungenügend», hängt oft stärker von der Haltung des Lehrers ab als vom Benehmen des Schülers. Denn es fehlen allgemeingültige Regeln.
Veröffentlicht am 11. September 2012 - 09:10 Uhr
Martin ist ein guter Schüler. Genau wie sein jüngerer Bruder Thomas. Beide besuchen die Sekundarschule in einer Zürcher Gemeinde. Nur alle paar Wochen erwischt Martin seinen Bus nicht und kommt ein paar Minuten zu spät zum Unterricht. Und manchmal vergisst er, seine Hausaufgaben zu machen, oder sein Turnzeug bleibt zu Hause liegen.
Sein Bruder Thomas verpasst öfter die ersten fünf Minuten des Unterrichts, und mit den Ufzgi nimmt er es grundsätzlich nicht so genau. Trotzdem wird es Thomas auf der Lehrstellensuche einmal einfacher haben als sein zuverlässigerer Bruder.
Warum? Martins Lehrer ahndet auch kleinste Verfehlungen mit sogenannten Einträgen in ein spezielles Eintragsheft. Erscheint ein Schüler zu spät, kaut er Kaugummi oder bringt eine Schülerin die Unterschrift der Eltern unter eine Prüfung zu spät bei, wird das in diesem Heft vermerkt. Sind drei solche Vermerke beisammen, verschlechtert sich seine Beurteilung in der Rubrik «Arbeits- und Lernverhalten». Sogenannte soziale Einträge wie «Schwatzen im Unterricht», «Schüler schmeisst Zettelchen» oder «Handyklingeln im Schulhaus» können direkt zu einem Vermerk im Zeugnis führen.
Thomas' Lehrer, der im selben Schulhaus unterrichtet, hält nichts von solchen Zeugniseinträgen. Er lässt seine Zöglinge eine Seite aus dem «Duden» abschreiben, wenn sie etwas vergessen haben oder im Englischunterricht mehr tuscheln als englisch reden. Nur bei krassen Verstössen gegen die Schulhausregeln macht er eine Bemerkung ins Zeugnis.
Entsprechend sehen die Zeugnisse der Brüder aus. Martins Leistungen in den Bereichen «Arbeits- und Lernverhalten» und «Sozialverhalten» werden nur mit «genügend» beurteilt, sein weniger zuverlässiger Bruder kommt deutlich besser weg.
Hat Martin einfach Pech, wenn er mit seinem Zeugnis auf Lehrstellensuche gehen muss? Liegt es im Ermessen einzelner Lehrer, ob sie mit zeugnisrelevanten Einträgen bestrafen oder ob sie ihre Schüler lieber 100-mal «Ex nihilo nihil fit» – zu Deutsch: «Von nichts kommt nichts» – schreiben lassen?
Das Zeugnisreglement des Kantons Zürich ist auf der Suche nach Antworten nicht sehr ergiebig. Es regelt zu diesem Thema lediglich: «Anmerkungen über die Charaktereigenschaften einer Schülerin oder eines Schülers dürfen nicht im Zeugnis eingetragen werden. Ausserordentliche Bemerkungen zum Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers können in einem separaten Lernbericht festgehalten werden. Dieser Bericht wird im Zeugnis nicht erwähnt.»
Bei einer Recherche im Internet stösst man auf diverse Schulordnungen, die regelrechte Strafpunkte-Kataloge enthalten. Zum Beispiel eine Kreisoberstufe im Kanton Solothurn. Verlassen des Pausenplatzes wird dort zum Beispiel mit drei Punkten geahndet, rassistische Bemerkungen mit zehn Punkten und Kaugummikauen im Schulhaus mit zwei. Sind zehn Punkte erreicht, steht im Zeugnis «Betragen nicht immer befriedigend», ab 15 Punkten gibts ein «unbefriedigend».
Jede Schule ein eigenes Gesetz? «Der Spielraum ist tatsächlich gross», sagt Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Gerade weil Strafen ein so heikles Thema sei, werde es sowohl von der Lehrerausbildung als auch von den Bildungsdirektionen stiefmütterlich behandelt. «Die Lehrkräfte sind damit oft alleingelassen.»
Persönlich hält Brühlmann von der Bestrafung über Zeugniseinträge oder Punktekataloge wenig. «Sie sagen viel über die pädagogische Haltung einer Schule aus, aber wenig über die sozialen Kompetenzen der Kinder.» Faire und fördernde Modelle zu erarbeiten, die Schüler und Schülerinnen nicht nur strafen, sondern sie auch darin bestärken, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, sei eine anspruchsvolle Aufgabe. Umso mehr freut sich Brühlmann, dass es Schulen gibt, die solche Modelle erarbeiten. «Fragen Sie zum Beispiel in Elsau nach», rät er.
Doris Frei, Schulleiterin der Oberstufe Elsau-Schlatt, macht sich tatsächlich vertieft Gedanken darüber, wie sie die soziale Kompetenz «ihrer» Jugendlichen fördern kann. In einem sogenannten Kontaktheft vermerken die Lehrkräfte der Schule Elsau zwar auch Dinge, die nicht gut laufen, vor allem aber enthält dieses Heft motivierende und positive Rückmeldungen. Weiter treffen sich Schülerinnen und Schüler jede Woche in sogenannten Lerngruppen. Gemeinsam setzen sich die Schüler Ziele und überprüfen diese selbst regelmässig. Ihre Lehrerinnen begleiten diesen Prozess eng. «Die Erfahrungen sind sehr gut», sagt Doris Frei. «Natürlich haben wir immer noch einzelne auffällige Jugendliche, aber unsere Haltung hat sich verändert. Wir fokussieren viel mehr auf das, was gut funktioniert.»
Was tun, wenn die Schule des eigenen Kindes lieber Punkte verteilt als Lerngruppen begleitet? Darf man einen Jugendlichen wegen wiederholten Kaugummikauens mit einem Zeugnis auf Lehrstellensuche schicken, das ihn als unzuverlässig ausweist? Für Peter Hofmann, Jurist und ehemaliger Primarlehrer, ist klar: Die Beurteilung des Sozialverhaltens einer Schülerin oder eines Schülers muss verhältnismässig sein. «Lappalien wie vereinzeltes Zuspätkommen oder Kaugummikauen auf dem Pausenplatz sollen allenfalls mit Strafaufgaben geahndet werden. Im Zeugnis haben sie nichts zu suchen.» Von einzelnen Schulen oder Lehrkräften erstellte Strafkataloge hält Hofmann für pädagogisch und juristisch fragwürdig.
Weil Hofmann aus der Praxis weiss, dass Rekurse gegen Zeugnisse für Eltern nur selten erfolgreich verlaufen, rät er ihnen, das Gespräch mit der Lehrkraft oder der Schulleitung zu suchen. Möglichst bevor ein Eintrag im Zeugnis steht oder das Sozialverhalten des Kindes als negativ beurteilt wird. «Die zuständigen Behörden oder Gerichte schränken den Ermessensspielraum einer Lehrkraft nur ungern ein. Und der Ermessensspielraum in der Leistungsbeurteilung ist gross», sagt er.
Jürg Brühlmann bestätigt: «Die heutige Situation ist unbefriedigend. Insbesondere für die Eltern, aber auch für die Lehrkräfte.» Darum fordern Brühlmann und der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer unabhängige Ombudsstellen, an die sich Eltern, aber auch Lehrerinnen und Lehrer in solchen Konfliktfällen wenden können. Jugendlichen wie Martin wäre zu wünschen, dass Brühlmanns Forderung schon bald auf offene Ohren stösst.
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