Das Leiterwägeli ist nicht irgendein Vehikel. Das Gefährt trägt eine Inventarnummer, ist registriert und kann jederzeit mobil gemacht werden. Im Krisenfall würde Peter May damit die 1,1 Millionen Rationierungsmarken für alle Einwohner des Kantons Bern zur Post bringen. Im Krisenfall heisst: wenn in der Schweiz die Nahrungsmittel knapp und deshalb zugeteilt würden – wie letztmals im Zweiten Weltkrieg.

Den Kalten Krieg haben die Rationierungscoupons ungenutzt überstanden. Die 50-jährigen Marken lagern in einem Zivilschutzbunker mitten in Bern, gemeindeweise verpackt und abgezählt. Je mehr Einwohner, desto dicker das Pack: Steffisburg wiegt 13 Kilo, Thörigen 700 Gramm. Ganz normale Pakete, wäre da nicht der Kleber neben der Adresse: «Auch nachts und an allgemeinen Feiertagen und Sonntagen unverzüglich weiterzuleiten.»

Bis vor drei Monaten hielt jeder Kanton solche Lebensmittelmarken an Lager. Damit ist nun Schluss. «Irgendwann dieses Jahr werde ich mit all den Säcken und Paketen in die Kehrichtverbrennungsanlage fahren und sie verbrennen lassen», sagt May, denn der Bund hat die Vernichtung der Marken angeordnet.

Noch vor drei Jahren hat ein Bundesbeamter stichprobenweise die Berner Marken gezählt. Der Rapport, den er in einem Ordner im Zivilschutzbunker zurückgelassen hat, zeigt keinerlei Anzeichen einer Beanstandung. Der Bericht ging ans Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL). Die Zentrale.

Im Kleinbundesamt mit 34 Vollzeitstellen sorgt man sich heute noch um den Schweizer Notvorrat: Es koordiniert das Anlegen der Lager. Die Privatwirtschaft trägt das Ihre zum Bestand bei. Importeure und Händler sind verpflichtet, Lebensmittel- und Brennstofflager zu äufnen.

Die amtlichen Hamsterer schöpften bis zum Ende des Kalten Kriegs aus dem Vollen. Angesichts der latenten Bedrohung dachte man an alles. Die Schweiz hielt Vorräte an Textilien, Leder, Glühbirnen, Reifen für Autobusse, Brillengläsern – selbst Dieselloks wurden beschafft. Alles topsecret, versteht sich. Das gesamte Amt war geheimnisumwittert. Namen von Lagerhäusern oder der Standorte wie Surava oder Lütisburg durfte der Bürger öffentlich kaum aussprechen – Landesverrat drohte.

Nach dem Schock der Erdölkrise 1973 wurde Horten zur Staatsräson. Man plante gar ein Superbundesamt mit rund 500 Beamten, die im Kriegsfall mit der Armee praktisch die ganze Wirtschaft des Landes übernommen hätten. Der «Schweizerische Ernährungsplan für Zeiten gestörter Zufuhr», gültig bis in die frühen neunziger Jahre, rechnete Kalorientabellen und Anbauflächen durch. Drei Jahre lang sollte die Schweizer Bevölkerung von diesen Lagern leben können. Dann, so der Plan, sei die Landwirtschaft umgestellt und die Selbstversorgung der Schweiz gewährleistet. Im Vorwort des Ernährungsplans wird aus den geistigen Wurzeln kein Hehl gemacht: «Seit dem Plan Wahlen im Zweiten Weltkrieg hat der Autarkiegedanke im Bereich der Nahrungsmittelversorgung zu Recht nie an Bedeutung eingebüsst.»

Friedrich Wahlen, der spätere Bundesrat, hatte im Zweiten Weltkrieg die Idee popularisiert, möglichst viele Lebensmittel auf heimischer Scholle zu produzieren, um unabhängig zu sein. Als Symbol des Widerstandswillens überlebte – gewissermassen tiefgefroren – der Wahlen-Mythos sogar den Permafrost des Kalten Kriegs.

Das war einmal. Nach dem Berliner Mauerfall mit allgemeinem geopolitischem Tauwetter und hitzig ausgefochtenen Sparrunden im Parlament schwimmen den bunkernden Landesverteidigern die Felle davon. «Es geht nicht mehr darum, eine politisch und wirtschaftlich weitgehend isolierte Schweiz flächendeckend zu versorgen», heisst es nun im neusten Bericht zur «Pflichtlagerpolitik 2004 bis 2007» aus dem Departement von Bundesrat Joseph Deiss: Die Pflichtlager, die heute noch für vier Monate reichen, werden abgebaut.

Die Ausmusterung des Wahlen-Plans belegen folgende Ziffern: Über die Preise bezahlten Schweizer Konsumenten für die Kosten der Pflichtlager 1990 noch 795 Millionen Franken, 2003 nur noch 132 Millionen. Oder knapp 20 Franken pro Kopf und Jahr. Die Lager für Seife, Waschmittel, Kohle, Tee, Kakao und Saatgut wurden bis Ende 2003 praktisch abgebaut. Bis 2007 sollen die Pflichtlager für Gerste, Hafer und Mais zu Speisezwecken geleert werden, Ende 2008 sollen die ergänzenden Lager für Eisen- und Stahlprodukte, Metalle, Elektromaterial, Akkus, Batterien und Textilrohstoffe Geschichte sein. Einige Lager sind so gross, dass deren Bestände gestaffelt auf den Markt gebracht werden, um die Preise nicht zu verderben.

Nach einem Vierteljahrhundert im Dienst des BWL steigt der 55-jährige Gerold Lötscher diesen Frühling zum Vizedirektor auf. Er erscheint nicht im Kampfanzug zum Interviewtermin, sondern in Anzug und Gilet, rot krawattiert und randlos bebrillt. Er könnte auch Steuerberater sein. Er spricht ohne Ausrufezeichen. «Heute lagern wir keine Reifen oder Glühbirnen mehr. Das ist vorbei.»

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Die nächste Krise kommt bestimmt
Neues Feindbild, neue Strategie. Zu wappnen gilt es sich heute gegen Seuchen und Epidemien, Terroristen, Saboteure. Deshalb lagert die Schweiz seit kurzem Zehntausende leerer Blutspendebeutel, fast 120'000 Atemschutzmasken (Sars), ferner Antibiotika und Medikamente gegen eine Grippeepidemie. Zwei Kernkraftwerke bunkern im Auftrag des Bundes sogar Kernbrennstäbe.

Lötscher gibt sich Mühe, das Wort Krieg nicht auszusprechen, spricht lieber von Bedrohungen, als wäre ihm der klassische Auftrag seines Amts unangenehm. Die «machtpolitische Bedrohungslage» möchte er nur am Schluss und «der Komplettierung halber» erwähnt haben. Hohn- und Spottberichte von Journalisten über sein Amt, gar Abschaffungsforderungen haben ihn Vorsicht gelehrt. Angriffe pariert er mit einem Lächeln. Er weiss, die nächste Krise kommt bestimmt, und in ihrem Schlepptau folgen die Medien, wie damals nach Tschernobyl. Dann sind sie vom BWL gerade wieder recht. Vom Amt erwartete man, es solle Milchpulver aus dem Gotthard zaubern. «In unserer saturierten Gesellschaft die Botschaft des Notvorrats rüberzubringen ist nicht immer einfach», sagt der angehende Vizedirektor.

Seine militärischen Gegenüber tun sich weit schwerer mit der Kommunikation. Es ist in der Tat nicht einfach, die Botschaft rüberzubringen, dass die Armee nicht auf einen Schlag, sondern in Raten abgeschafft wird. Aber als was soll man die derzeit grösste Liquidation von Kriegsgerät und Material in der Geschichte der Schweizer Armee sonst bezeichnen? Bis 2010 werden 100000 Artikel im Wert von zehn Milliarden Franken verkauft oder verschrottet. «Man muss diese Zahl allerdings relativieren», sagt Henri Habegger, stellvertretender Chef Führung und Organisationsentwicklung im Planungsstab der Armee, als wäre er selber erschrocken ob dieser Menge. «Im Gegensatz zur Privatwirtschaft nimmt die Armee keine Abschreibungen vor, deshalb haben wir immer den vollen Kaufpreis in den Büchern.» Trotzdem: Mit dem Rückgang der Truppenstärke von 800'000 auf 220'000 Mann geht eine eigentliche Entsorgungsschlacht einher.

Leopard-Panzer sind Ladenhüter
In diesen Monaten werden 90'000 Kubikmeter Zelte und Zeltplachen und anderes so genanntes Geniematerial entsorgt. Das würde einen 18 Kilometer langen Güterzug füllen. Eben wurden 100'000 gebrauchte Kampfanzüge verbrannt. Etwa 2000 mit Sprengstoff geladene Objekte wie Brücken, Grenzbefestigungen und Verteidigungsriegel wurden entschärft, Tausende von Geschützen ausser Betrieb genommen, pro Jahr 7000 Tonnen Munition entsorgt. Das allein kostet jedes Jahr 20 Millionen Franken.

Vorbei sind die Zeiten, da WK-Soldaten überschüssige Munition verpulverten oder im See versenkten. Tausende von Kilometern Stacheldraht wurden bereits eingeschmolzen. Die Schweiz hielt bis vor kurzem so viel Draht an Lager, dass sie damit dreimal hätte eingezäunt werden können. Einiges wird auch rezykliert. So kommen etwa die kratzigen «Tenü Grün» buchstäblich unter die Räder – als Beimischung für Strassenbelag.

30 Tiger-Flugzeuge wurden an die USA und Österreich verkauft. Vom Leopard-Panzer, der bis 1993 ausgeliefert wurde, will das VBS 150 Stück loswerden. Aber so einfach ist das nicht. «Es gibt weltweit etwa 1000 Leos mehr, als nachgefragt werden», sagt Martin Sonderegger von der Armasuisse, beim Verteidigungsdepartement für den Verkauf zuständig. «Zudem ist die Schweizer Gesetzgebung zum Export von Rüstungsgütern restriktiv.» Rund 200 Panzer 68/88 und 60 Panzerhaubitzen M-109 müssen verschrottet werden. Im besten Fall legt der Staat nichts drauf, aber immerhin können Lagerkosten gespart werden. Für 200 Schützenpanzer M-113 sucht das VBS noch Käufer.

«Unser Taktgeber ist der Sparauftrag», sagt Roland Jungi von der Logistikbasis der Armee (LBA). Dutzende Zeughäuser mit 1300 Gebäuden und einer Lagerfläche von einer Million Quadratmetern werden bis 2010 geleert. Das spart 300 Millionen Franken pro Jahr.

Josef Arnold arbeitet seit 2001 im Zeughaus Seewen/Schwyz: «Früher gab es Vorgaben, wie man das Material zu pflegen hat. Heute macht man nur noch so viel wie nötig.» Im Zweiten Weltkrieg hegten und pflegten hier 500 Angestellte Militärgut. Heute ist das Areal eine Geisterstadt. Bis Ende 2005 muss alles geleert sein. 18 Angestellte verlieren dieses Jahr die Stelle. 18 von insgesamt 1800 Stellen, die das VBS allein in der Logistik bis 2010 abbauen will. Auch Arnold muss sich Ende Jahr nach einer neuen Arbeit umschauen.

Die Armee ist die grösste Immobilienbesitzerin der Schweiz; die gesamte Fläche ist so gross wie der Kanton Zug. 13'000 Objekte befinden sich im so genannten Liquidationsbestand. «Leider sind nur etwa sieben Prozent unserer Anlagen marktfähig», sagt Ernst Germann, Leiter des Fachbereichs Liegenschaften in der Armasuisse. Will heissen: 93 Prozent sind unverkäuflich, weil ausserhalb der Bauzone gelegen. Das sind hauptsächlich Bunker. Doch es gibt Filetstücke wie Zeughäuser, Flugplätze oder Hotels wie eines in Kandersteg. Da balgen sich die Interessenten drum. Das bringt dem VBS etwa 30 Millionen Franken im Jahr. Auch die VBS-eigenen Truppenlager, rund 60'000 Bettenplätze, werden veräussert.

Medikamente werden meist vernichtet
Die Sparübungen sind mit schmerzhaften Entscheidungen verbunden. So können Unmengen Sanitätsmaterial meist nur vernichtet werden. «Medikamente dürfen wir nicht in die humanitäre Hilfe geben», sagt Joachim Topfel, zuständig fürs Sanitätsmaterial bei der LBA. «Das ist uns zu heikel, weil wir nicht sicher sein können, dass die Ablaufdaten und die rechtmässige Lagerung eingehalten werden.» Das Gleiche gilt für medizinisches Gerät, das ebenfalls nicht ins Ausland gegeben wird, weil man die Verantwortung für die gesetzlich vorgeschriebene Wartung nicht tragen könne. Immerhin lieferte die LBA nach der Schliessung von sechs der zwölf unterirdischen Spitäler unlängst einige hundert Spitalbetten in die Ukraine.

Der Sturm der Ent-Rüstung setzte für die Militärplaner unerwartet ein. Noch 1988 öffnete das Artilleriewerk Halsegg auf dem Gemeindegebiet von Sattel SZ. Ein Jahr später fiel die Berliner Mauer. Die Halsegg teilt nun das Schicksal der andern Festungen und wartet auf ihren «Rückbau»: die bauliche Absicherung des Werks, das Entfernen aller Waffen und umweltschädlichen Stoffe. Die Armee haftet nämlich, wenn sich abenteuerlustige Buben oder Militärfans in den Festungsbereich vorwagen und sich verletzen. Ebenso für Umweltschäden. Germann schätzt, dass rund 70 Prozent der Werke «rückgebaut» werden müssen. Die Kosten sind enorm: 20'000 Franken kostet die Ausmusterung eines kleinen Infanteriebunkers, 50'000 die eines grossen. Ein Artilleriewerk verschlingt bis zu einer Drittelmillion. Eine Bewilligung für eine Umnutzung, etwa als Partyraum, wird äusserst selten erteilt.

Der Verkauf wäre die weit günstigere Variante. Aber erst sieben der 70 Artilleriewerke haben neue Eigentümer gefunden; mit neun weiteren Interessenten führt Germann Verhandlungen. Doch die «kommerziellen» Käufer sind Ausnahmen. Meist kaufen Gemeinden, Kantone oder Vereine die Artilleriewerke. Etwa die Festung Heldsberg bei St. Margrethen. Das mit vier Kanonen und sieben Maschinengewehren ausgerüstete Werk erhielt der Verein Festungsmuseum Heldsberg gratis. Bedingung: Er muss es zu einem Museum umbauen. Die Gemeinde musste jedoch die rund 100'000 Quadratmeter Land für eine halbe Million Franken erwerben. Wozu das Ganze? «Ich habe dort Dienst geleistet. Es wäre doch schade, dieses Werk verfallen zu lassen», sagt Alois Stähli vom Verein.

Der Forderung der Armeeabschaffer, das Schweizer Militär ins Museum zu packen, wird also Folge geleistet. Aber nicht einmal die feurigsten Pazifisten hätten zu träumen gewagt, dass die Entmaterialisierung mit einem solchen, fast unmilitärisch hohen Tempo vor sich geht.

Quelle: Fabian Biasio