Armee: Militärischer Zwang zur Freiwilligkeit
Nur 20 Prozent der Korporale bei der Schweizer Armee werden «zu ihrem Glück gezwungen». So tönt es zumindest offiziell. Doch die Zahl der unfreiwilligen Freiwilligen ist deutlich höher.
Veröffentlicht am 21. November 2000 - 00:00 Uhr
Die Sommer-Rekrutenschule ist zu Ende, die Soldaten haben Kampfanzug und Gewehr im Estrich verstaut und gehen wieder zivil durchs Leben. Knapp 20 Prozent von ihnen werden jedoch schon bald wieder für längere Zeit «Tenü Grün» tragen: Sie sollen die Unteroffiziersschule (UOS) besuchen und danach «den Korporal abverdienen». Doch viele von ihnen leisten diesen Zusatzdienst am Vaterland unfreiwillig.
Der Innerschweizer Hans G. ist einer von ihnen. Einer, der sich entschlossen hatte, den militärischen Grunddienst zu machen, «weil da alle durch müssen». Doch mit dem Militär selbst hat der junge Elektromechaniker nichts am Hut. Trotzdem muss er jetzt die UOS machen, ist zum Korporal berufen und rangiert in der Statistik als «Freiwilliger». Als Freiwillige gelten all jene, die ihre Beförderung selbst unterschreiben – auch wenn sie das eigentlich gar nicht wollen. Hans G. ist enttäuscht, dass sein Vorgesetzter seine Argumente nicht respektierte. Doch schliesslich unterschrieb er – weil er so wenigstens den Zeitpunkt für die UOS bestimmen konnte.
«Die Armee braucht fähige Leute», so tönts in den Rekrutenschulen. Zwar gibts durchaus genug Fähige, aber weitermachen wollen längst nicht alle. Also wird «überzeugt», wie das Peter Wanner, Oberst im Generalstab, nennt.
Der Fall Hans G. ist für Ruedi Winet von der Beratungsstelle für Militärdienstverweigerer und Zivildienst in Zürich «einer von vielen»: Über 400 Rekruten suchten in den letzten 12 Monaten bei Winet Rat. Sie alle wollten wissen, wie sie der «unfreiwilligen Weiterbildung» entkommen können. «Der Druck ist massiv», sagt Winet. Freiwillige sind rar, also wird ein Teil der Rekruten «zum Glück gezwungen».
«Wir haben schwarze Schafe»
Für Sergio Stoller, Schulkommandant in Stans NW, liegt die Anzahl der Freiwilligen bei 75 bis 80 Prozent. Peter Wanner spricht sogar von bloss zehn Prozent, «die effektiv gezwungen werden». Für Winet indes sind diese Zahlen unrealistisch. «Ein Grossteil der so genannt Freiwilligen wurde erpresst – mit Drohungen, Repression, Gefängnis oder Sonntagswache.»
Ähnlich sieht das auch die St. Galler SP-Nationalrätin Hildegard Fässler. In einer Interpellation will sie vom Bundesrat wissen, was er gegen «solche Druckversuche» zu unternehmen gedenke. Eine Antwort steht noch aus, aber für die Politikerin steht fest: «Da passieren Sachen, die nicht passieren dürften.»
Sachen, die zwar offiziell verpönt, aber dennoch an der Tagesordnung sind. So werden etwa «widerspenstige Rekruten» während der Durchhaltewoche zur Unterschrift gebeten. «Die Strategie macht sich bezahlt», sagt ein Ehemaliger. «Wenn die Soldaten müde sind, haben sie meist nicht mehr genug Energie, die Fragen nach dem Warum und Wieso ihrer Abneigung gegen das Militär zu beantworten. Sie wollen das Ganze möglichst schnell hinter sich bringen – und unterschreiben.»
Für Peter Wanner eine Methode, die «klar nicht in Ordnung» ist. Er selbst habe das seinen Instruktoren immer wieder eingebläut, «aber wir haben immer noch einige schwarze Schafe». Trotzdem ist der Fall für die Armee klar: Wenn alle Stricke reissen, unterschreibt der Vorgesetzte. «Das ist legitim, wir haben die gesetzlichen Grundlagen», sagt Sergio Stoller. Dass militärische Interessen dabei mit privaten und beruflichen Plänen kollidieren, könne passieren. Aber so sei das eben: «Wer gut ist für die Wirtschaft, ist auch gut für uns.»