Ärztehaftpflicht: Harter Kampf gegen die Götter in Weiss
Bereits der kleinste Fehler des Arztes kann für einen Patienten böse Folgen haben. Doch wer gegen Mediziner antreten will, hat einen schweren Stand: Einen Anspruch auf Entschädigung durchzusetzen ist kein Kinderspiel.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Die 14-jährige Rita hat keine Angst vor dem chirurgischen Eingriff. Vor einiger Zeit musste sie das Knie operieren lassen, nun soll die eingesetzte Metallschiene entfernt werden. Der Hausarzt hat die Röntgenbilder gekennzeichnet – das rechte Bein wird für die Operation vorbereitet. Als das Knie offen ist, stellen die Mediziner mit Schrecken fest: Irrtum! Das Metallteil befindet sich im linken Knie. «Wir verstehen nicht, wie so etwas möglich ist», entrüsten sich die Eltern der jungen Patientin in einem Brief an das Beratungszentrum des Beobachters.
Nicht alle Ärztehaftpflichtfälle sind derart eindeutig. Aber selbst wenn ein Arzt den Fehler sofort eingesteht und der Haftpflichtversicherung meldet, sind die Patientinnen und Patienten meist auf die Hilfe eines spezialisierten Anwalts angewiesen. Denn wie hoch Schadenersatz und Genugtuung sind, lässt sich für Laien kaum selber herausfinden.
Verjährungsfristen als Knacknuss
Wie überall im Haftpflichtrecht hat der Arzt oder die Ärztin die wirtschaftlichen Nachteile zu ersetzen, die dem Patienten als Folge des Fehlers erwachsen. Dazu gehören beispielsweise die Heilungskosten, der Verdienstausfall sowie allenfalls künftige Lohneinbussen.
Wenn ein Ehegatte oder ein Elternteil nach einer Behandlung stirbt, können die Hinterbliebenen einen Versorgerschaden geltend machen und die Todesfallkosten in Rechnung stellen. Bei Körperverletzung kann der geschädigte Patient nebst dem Schadenersatz eine Genugtuung verlangen. Auch die Angehörigen eines Verstorbenen haben diesen Anspruch.
Normalerweise verhandeln die Geschädigten zuerst einmal mit der Haftpflichtversicherung des Arztes oder des Spitals. Kommt es zu keiner Einigung, können sie aber nicht die Versicherung belangen, sondern nur den Arzt oder das Spital.
Bei frei praktizierenden Ärzten oder in Privatspitälern kommt bei haftpflichtrechtlichen Fragen das Privatrecht zum Zug, in öffentlichen Spitälern hingegen das öffentliche Recht. Da hier die Verjährungs- und Verwirkungsfristen häufig unterschiedlich sind, muss möglichst schnell eine rechtskundige Person konsultiert werden.
Anspruch auf Heilung gibts nicht
Trotz den Erfolgen und Möglichkeiten der modernen Medizin hat der Patient keinen Anspruch auf Heilung. Der Arzt schuldet seinen Patientinnen und Patienten also keine Genesung, sondern nur eine kunstgerechte Behandlung. Bleibt der Erfolg aus, ist der Arzt dafür nicht haftbar. Anders ist die Situation jedoch, wenn die Behandlung eine neue gesundheitliche Beeinträchtigung verursacht.
Die Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht lassen sich nicht in einer Faustregel festhalten; massgebend sind immer die Umstände des Einzelfalls. So werden vor allem die Art des Eingriffs oder der Behandlung geprüft sowie die damit verbundenen Risiken. Aber auch die Ausbildung des Mediziners sowie die ihm zur Verfügung stehenden Mittel spielen eine Rolle – und die Zeit, in der er handeln musste. Bei Notfällen sind der Haftung also enge Grenzen gesetzt.
Das Bundesgericht beschränkt die ärztliche Haftung in seiner neueren Rechtsprechung nicht mehr auf grobe Verstösse gegen die Regeln der ärztlichen Kunst. Nach Auffassung der obersten Richter in Lausanne haben Ärzte ihre Patienten fachgerecht zu behandeln; zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit müssen sie die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt aufwenden. Grundsätzlich haben Ärztinnen und Ärzte für jede Pflichtverletzung einzustehen.
Sowohl bei der Diagnose wie bei der Wahl therapeutischer oder anderer Massnahmen verfügt der Arzt über einen Entscheidungsspielraum: Sich für die eine oder die andere Möglichkeit zu entscheiden fällt in das ärztliche Ermessen. Ärztinnen und Ärzte können dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wenn eine Behandlung erfolglos bleibt, sollte das den Arzt allerdings veranlassen, neue Untersuchungen durchzuführen und seine Diagnose nochmals gründlich zu überprüfen.
Gemäss bundesgerichtlicher Praxis ist es alleinige Sache des Patienten, den Diagnose- oder Behandlungsfehler nachzuweisen – der Arzt muss nicht beweisen, dass er alles Erforderliche unternommen hat.
Das macht die Sache für den Patienten schwierig. Er kann mangels Fachwissen diesen Nachweis in der Regel kaum erbringen und ist deshalb auf fachkundige Hilfe angewiesen.
Ob ein Behandlungsfehler vorliegt, muss meistens mit einem medizinischen Gutachten geklärt werden. Der Patient kann selber einen privaten Gutachterauftrag erteilen, bevor er den Fall überhaupt der Versicherung des Arztes meldet. Weil Mediziner das Kollegialitätsprinzip hochhalten, ist die Suche nach einem Gutachter oft mühsam. Immerhin haben die Schweizerische Ärztegesellschaft und die Zahnärztegesellschaft Gutachterstellen eingerichtet, an die sich Patientinnen und Patienten wenden können.
Das Gutachten sollte den medizinischen Sachverhalt festhalten und so die Grundlagen liefern für die Klärung der Frage: Behandlungsfehler ja oder nein? Diese Beurteilung ist allein Sache des Gerichts; leider neigen Gutachter oft dazu, nicht nur den Sachverhalt zu schildern, sondern auch noch ihre Meinung in den Bericht einfliessen zu lassen.
Bevor der Patient einen Gutachter beauftragt, sollte er zuerst die gesamte Krankengeschichte einholen. Diese muss Auskunft geben über den Krankheitsverlauf, die angeordneten Therapieformen und die Aufklärung des Patienten. Verfügt der Patient über die notwendigen Unterlagen, kann er mit Hilfe eines Anwalts die Haftungsfrage abklären.
Angehörige haben Recht auf Infos
In der Praxis haben Patientinnen und Patienten aber oft Mühe, Einsicht in ihre Krankenunterlagen zu erhalten, geschweige denn, sie ausgehändigt zu bekommen. Obwohl Ärzte und Spitäler von Gesetzes wegen klar zur Offenlegung verpflichtet sind, tun sie sich schwer damit. Noch schwieriger ist es für die Angehörigen eines Verstorbenen, an seine Krankengeschichte heranzukommen. Der Schutz des Patientengeheimnisses überdauere den Tod, heisst es häufig von Ärzteseite.
Zu Unrecht: Bei den öffentlichen Spitälern ist das Einsichtsrecht der Angehörigen in den kantonalen Bestimmungen geregelt. Im Kanton Zürich etwa dürfen Auskünfte an Dritte nur mit dem Einverständnis der Patienten erteilt werden. Allerdings können Ärzte vermuten, dass der Patient – unabhängig von seinem Gesundheitszustand – mit Auskünften an seine nächsten Angehörigen einverstanden ist. Dieses Recht auf Auskunft enthält auch den Anspruch auf Einsicht in die Krankengeschichte eines Verstorbenen. Nur so lassen sich Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche abklären und durchsetzen.
Jede medizinische Behandlung greift in das Persönlichkeitsrecht eines Kranken ein. Deshalb ist der Arzt verpflichtet, den Patienten über Vor- und Nachteile einer Behandlung aufzuklären. Ohne dieses Wissen kann der Patient nicht entscheiden, ob er sich einem Eingriff oder einer Behandlung unterziehen will oder nicht.
Der Patient muss also die Diagnose, die Behandlungsmöglichkeiten und zudem die Erfolgschancen und Risiken genau kennen. Auch über die wirtschaftlichen Aspekte der Behandlung muss er informiert sein – insbesondere über die Kostenfrage. Wer als Arzt diese Aufklärungspflicht verletzt und deshalb einen Patienten ohne Einwilligung behandelt, der haftet selbst dann, wenn er den medizinischen Eingriff korrekt ausgeführt hat.
Das Verfahren nicht scheuen
Es ist Sache des Arztes, zu beweisen, dass der Patient in die Behandlung eingewilligt hat. Und es reicht nicht, wenn sich in der Krankengeschichte nur ein allgemeiner Hinweis findet, der Patient sei über die geplante Operation und ihre möglichen Komplikationen informiert worden.
Der Beweis für eine genügende Aufklärung ist erst erbracht, wenn die Krankengeschichte einen ausführlichen Bericht über das Aufklärungsgespräch enthält. Aus diesen Angaben hat zudem auch hervorzugehen, wer den Patienten wo und wann aufgeklärt hat.
Kann der Arzt nicht beweisen, dass er den Patienten aufgeklärt hat, so kann er immer noch dessen hypothetische Einwilligung geltend machen: nach dem Motto, der Patient hätte bestimmt auch nach umfassender Aufklärung in die Behandlung eingewilligt. Die Prozessaussichten sind in solchen Fällen oft schwer abzuschätzen. Klarheit bringt schliesslich erst das gerichtliche Beweisverfahren.
Ärztehaftpflichtfälle sind zwar oft kompliziert – medizinisch und rechtlich. Doch wenn sich der Verdacht auf einen Kunstfehler erhärtet, sollten Patienten sich vom langwierigen Verfahren nicht abschrecken lassen. Dann heisst es: kämpfen.