Eine Tragödie wird verwaltet
Die Suva erklärte die Eternit AG für asbestfrei - obwohl die Firma dank Ausnahmebewilligung weiterhin mit dem giftigen Material arbeiten durfte. Auch die Anwohner von Asbestfabriken leben gefährlich.
Veröffentlicht am 8. September 2006 - 09:53 Uhr
Papier ist geduldig. Seit Anfang 1995 gilt in der Schweiz ein umfassendes Asbestverbot. Damals endeten - spät, aber immerhin - die letzten Übergangsfristen für die Abgabe und die Einfuhr von asbesthaltigen Gegenständen und Erzeugnissen. Das glaubte man zumindest bisher.
Die Praxis sieht freilich anders aus: Nicht weniger als 24 Ausnahmebewilligungen für Arbeiten mit Asbest wurden seither erteilt. Die Bewilligungen waren «in der Regel auf zwei bis drei Jahre, in einem Fall auf zehn Jahre befristet», so Eduard Back, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesamt für Umwelt (Bafu). Sein Amt ist zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) für die Sondergenehmigungen zuständig. Firmennamen dürfe man, so Back, ohne Zustimmung der betreffenden Unternehmen nicht nennen.
Offiziell «keine Kenntnis»
Geheimniskrämerei auch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva), die alle asbestverarbeitenden Industriebetriebe versichert und kontrolliert. Hier haben die Verantwortlichen offiziell «keine Kenntnis über erteilte Ausnahmebewilligungen». Dafür sei man nicht zuständig, so die knappe Auskunft. Und selbst wenn man etwas wüsste, würde man aus «Datenschutzgründen und aufgrund der Schweigepflicht» nichts sagen.
Aktuell sind noch zwölf Bewilligungen gültig. Davon betreffen elf asbesthaltige Dichtungen - vor allem für ältere Filteranlagen, bei denen aggressive Chemikalien zum Einsatz kommen. Bei den Dichtungen handelt es sich um Asbestmengen im Kilobereich. Falls kein Antrag auf Verlängerung gestellt wird, laufen diese Genehmigungen Ende Jahr aus.
Anders ist die Situation bei der zwölften Sonderbewilligung: Es geht um grossflächige Trennwände für WasserDruckelektrolyse-Anlagen, bei denen mehrere Tonnen Asbest verbaut werden. Aufgrund der spezifischen Anwendung ist klar, welches Unternehmen dahintersteht: die Firma IHT in Monthey VS, die im Bereich Wasserstofftechnologie arbeitet.
Suva erspart sich peinliche Antworten
Auch der einst grösste Asbestverarbeiter der Schweiz, die Firma Eternit AG mit ihren Werken in Niederurnen GL und Payerne VD, erhielt 1995 zwei Ausnahmebewilligungen für den Import von Asbestprodukten. Laut Bafu für eingegangene Garantieverpflichtungen bei Druckrohren und bestimmten Fassadenplatten, bei denen keine asbestfreien Ersatzprodukte erhältlich waren. Die Genehmigungen waren bis 2001 respektive 2004 gültig. Brisant: Bislang behauptete die Eternit-Führung stets, dass die Produktion im Hochbau zwischen 1980 und 1990 schrittweise auf asbestfrei umgestellt worden sei.
Wo, wie häufig, wie lange und in welchen Mengen bei der Eternit AG ab 1995 noch Asbest verarbeitet wurde, weiss man beim Bafu nicht: «Ob die Ausnahmebewilligung jemals in Anspruch genommen wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Es besteht keine Mitteilungspflicht.» Und für die Kontrolle der Betriebe vor Ort seien überdies die Kantone zuständig.
Beim Glarner Arbeitsinspektorat ist der zuständige Beamte zum Zeitpunkt der Beobachter-Anfrage ferienabwesend. Sein Vorgesetzter sagt, er habe keinen Zugriff auf die Informationen: «Diese sind archiviert und müssen zuerst durch den Inspektor freigegeben werden.» Und die Suva, die über sämtliche Firmen ein detailliertes Betriebsdossier führt, beruft sich auf ihre Schweigepflicht. Damit erspart sich die Unfallversicherungsanstalt peinliche Antworten. So auf die Frage, warum sie die Eternit AG seit Mai 1998 als asbestfrei führt - dies trotz Ausnahmebewilligungen durch das Bafu.
Unglaublich, aber wahr: Obwohl Fachleute davon ausgehen, dass in der Schweiz in den nächsten zehn bis 15 Jahren rund 3000 Menschen an den Folgen von Asbest sterben werden und bereits über 300 Millionen Franken an Suva-Leistungen ausgerichtet wurden, verwalten die Zuständigen beim Bund unverdrossen aneinander vorbei.
Zu allem Übel soll die Verarbeitung von Asbest auf dem Eternit-Betriebsgelände nach 1995 im Freien erfolgt sein. Ganz nach dem Motto: Je breiter das Gift verteilt wird, desto niedriger ist die Dosis. Markus Ruoss, Pressesprecher der Eternit AG, mag nicht konkret werden: «In den Werken Niederurnen und Payerne wurden stets alle Vorschriften eingehalten. Es wurden die dem jeweiligen Wissensstand über die Gefahren von Asbest entsprechenden Massnahmen zum Schutz der Mitarbeiter ein- und durchgesetzt.»
Ruoss versucht zudem, die Asbesttragödie gering zu rechnen: Obwohl die Eternit AG 80 bis 90 Prozent des schweizweit importierten Rohasbests verarbeitet hätte, würden weit weniger als zehn Prozent der von der Suva bis Ende 2004 anerkannten Asbesttodesfälle eigene Mitarbeiter betreffen. Gemäss dieser Statistik sind bisher gegen 70 Angestellte der beiden Werke an asbestbedingter Berufskrankheit gestorben.
Die Dunkelziffer ist indes hoch, weil in vielen Fällen genaue Diagnosen nicht gestellt werden. Wie ursprünglich auch beim ehemaligen Eternit-Mitarbeiter Kurt M. (Name der Redaktion bekannt), der zwischen 1977 und 1979 an einer Drehbank in Niederurnen Asbestrohre zugeschnitten hatte. Diagnose am Kantonsspital Glarus: Lungenkrebs. Erst als M. ins Triemli-Spital nach Zürich verlegt wurde, stellten die Spezialisten einen asbestbedingten Brust- und Bauchfellkrebs fest.
Kurt M. verstarb Ende 2005 im Alter von 56 Jahren. Seine Tochter erinnert sich: «Er hatte 30 Kilo abgenommen und konnte kaum noch etwas essen. Es war grauenvoll, ihn so leiden zu sehen.» Sein Mesotheliom wurde von der Suva als Berufskrankheit anerkannt - Kurt M. hatte zu viel Asbeststaub eingeatmet. Doch nicht nur frühere Angestellte sind betroffen: So hat der giftige Staub auch die Gesundheit des 53-jährigen Marcel Jann ruiniert, der unmittelbar neben dem Werk in Niederurnen aufgewachsen ist (siehe Nebenartikel «Ich sterbe einen gewaltsamen Tod»).
Die Tochter von Kurt M. will nun genau wissen, ob bei der Eternit AG tatsächlich alle Vorschriften eingehalten wurden. Als Zivilklägerin beteiligt sie sich an einer Strafanzeige, die der Verein für Asbestopfer letzten November beim Verhöramt des Kantons Glarus eingereicht hat. Gegen Stephan und Thomas Schmidheiny, die ehemaligen Besitzer der Eternit AG, und gegen unbekannt wird der Vorwurf der fahrlässigen Tötung erhoben - begangen an einer unbekannten Anzahl Personen. Im Verfahren soll zudem die Mitverantwortung der Kontrollbehörde Suva abgeklärt werden.
Strafanzeige eingereicht
17 Zeugen erheben happige Vorwürfe: Sie seien teilweise noch bis 1996 einer ausserordentlich hohen und unzulässigen Asbestkonzentration ausgesetzt gewesen - und das bei ungenügendem Schutz und ohne umfassende Informationen über die Gefahren von Asbeststaub. Die Verantwortlichen hätten elementarste Vorsichtsgebote verletzt und grobfahrlässig gehandelt, kritisiert Massimo Aliotta, Präsident des Vereins für Asbestopfer und anzeigeführender Anwalt. «Die Eternit-Mitarbeiter hatten keine Wahlfreiheit. Sie wussten nicht, welchen Gefahren sie sich tatsächlich aussetzten. Sonst hätten wohl viele eine andere Stelle gesucht.» Zu konkreten Fragen des Beobachters will sich die Eternit-Führung wegen des laufenden Verfahrens nicht äussern.
Der juristische Druck ist inzwischen noch grösser geworden, nachdem kürzlich ein ehemaliger Eternit-Angestellter eine Strafanzeige wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung einreichte. Der Ball liegt jetzt beim Glarner Verhörrichter Markus Denzler: Er hat im August erste Zeugen einvernommen und muss entscheiden, ob die Untersuchungen ausgedehnt, Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird. Seine vorsichtige Antwort: «Die Ermittlungen lassen diesen Entscheid noch nicht zu.» Denzler will aber «voraussichtlich noch in diesem Jahr» entscheiden. Falls nötig, werde er das Suva-Betriebsdossier einverlangen. Diese Unterlagen enthalten Details zu den Auflagen und Verfügungen an die Firma sowie zum Gesundheitszustand der Mitarbeiter.