Augenzeuge: «Man hat uns gesagt, es sei gefährlich»
Daniel Ulrich, 28, aus Küsnacht ZH, ist Falun-Gong-Anhänger. Mit 34 Gesinnungsgenossen hat er in Peking für die Bewegung demonstriert – 30 Sekunden lang.
Veröffentlicht am 8. Januar 2002 - 00:00 Uhr
Unsere Demonstration in Peking fand ein grosses Medienecho. Damit haben wir auf die Verfolgung der Falun-Gong-Anhänger in China aufmerksam gemacht. Und wir konnten unsere Verbundenheit mit ihnen zum Ausdruck bringen. Das werte ich positiv. Ein gebrochenes Nasenbein, blaue Flecken, Erniedrigungen, Hunger und Durst sind die andern Auswirkungen der Demo, die ursprünglich gar nicht geplant war.
Wir wollten nach Peking reisen, um mit einem deutschen Korrespondenten zu diskutieren, der einige Artikel über Falun Gong veröffentlicht hatte. In seinen Texten tauchten immer wieder die Begriffe «Sekte» und «Kult» auf. Dabei denkt man unweigerlich an Abzockerei, an die Giftgasanschläge in Japan, an Uriella. Das ist ganz im Sinne der chinesischen Regierung: Sie brandmarkt Falun Gong als eine verwerfliche Sekte, die ihren Mitgliedern das Geld abnehme und nicht davor zurückschrecke, sie zum Selbstmord aufzufordern.
Eine arge Verdrehung! Die drei zentralen Werte von Falun Gong sind Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht. Sie sind im Buddhismus und im Daoismus sehr wichtig. Die Meditation erfasst Körper und Geist. Für meine täglichen Übungen benötige ich etwa eine Stunde. Danach fühle ich mich frei und entspannt.
Das wollten wir auch dem Korrespondenten mitteilen. «Wir», das ist eine Gruppe von 35 Frauen und Männern aus verschiedenen Ländern, die alle der Falun-Gong-Bewegung angehören. Eine richtige Organisation gibt es nicht; wir haben weder Mitgliederlisten, noch zahlen wir Vereinsbeiträge. Gründer ist Li Hongzhi, ein Chinese, der seit mehreren Jahren in New York lebt. Er publiziert die Prinzipien von Falun Gong, fordert aber seine Anhänger nie zu konkreten Taten auf. Von unserer Chinareise wusste er nichts.
Vor dem Abflug haben wir nochmals über den Zweck der Reise diskutiert. Einzig einen Journalisten aufzuklären war uns doch zu wenig. Wir beschlossen, uns in Peking als Falun-Gong-Anhänger zu outen, indem wir im Zentrum, auf dem Tien-An-Men-Platz, meditierten. Dort hat die Polizei schon Hunderte von meditierenden Falun-Gong-Anhängern verhaftet.
Am 19. November 2001 ist unsere Gruppe in Peking angekommen. Noch am gleichen Abend hatten wir mit den Korrespondenten in Peking ein gutes Gespräch. Sie haben uns auch gesagt, es sei gefährlich, auf dem Tien-An-Men-Platz zu demonstrieren. Doch wir wollten unsere Solidarität unter Beweis stellen.
So fuhren wir denn am anderen Tag mit der U-Bahn zum Tien-An-Men-Platz. Um 14 Uhr stellten wir uns zur Gruppenfoto auf. Dann begannen wir mit unseren Meditationsübungen. Zwei Kollegen entrollten das Transparent mit den chinesischen Zeichen für Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht.
Chancenlos gegen die Polizei
Ungefähr 30 Sekunden hatte ich mit geschlossenen Augen meditiert, als ich die Reifen der Polizeifahrzeuge quietschen hörte. Zwei Polizisten packten mich und trugen mich weg. «Nicht mit mir!», dachte ich. Als sie mich in den Wagen bringen wollten, stemmte ich die Füsse gegen die Tür. Sie waren kräftig und konnten mich schliesslich doch hineinstossen.
Ich sprang gleich wieder hinaus und wollte aufs Neue mit Meditieren beginnen. Angst hatte ich nicht, obwohl ich gegen das Grossaufgebot der Polizei chancenlos war. Sechs Polizisten trugen mich wieder in den Wagen, drei setzten sich auf mich. Einer versetzte mir einen Faustschlag; ich habe noch heute eine Rippenquetschung. Einige Frauen schleppten sie an den Haaren in die Polizeiwagen. Als eine junge Frau ihr Handy nicht hergeben wollte, schlug ihr ein Polizist in die Genitalien. Einem Kanadier wurde das Nasenbein gebrochen, einem Australier drei Finger. Trotzdem gelang es uns, mit einer Videokamera mitzufilmen. Die Aufnahmen werden wir der Uno-Menschenrechtskommission vorlegen.
Die Beamten fuhren uns zur Polizeistation. Eine Zelle von etwa zwei auf fünf Meter für 35 Personen – das war beängstigend. Doch es dauerte nur eine Stunde. Dann brachten sie uns in ein Hotel in der Nähe des Flughafens. Wir hatten zwei Zimmer zur Verfügung. Je 60 Polizisten bewachten die Räume. Betrachteten sie uns wirklich als gefährliche Verbrecher?
Die Toilette konnten wir nur in Begleitung aufsuchen, wobei die Tür aufgesperrt blieb. Das war sehr unangenehm. Immerhin standen bei den Frauen Polizistinnen Wache. Alle von uns wurden verhört. Am Schluss sollten wir das Protokoll unterschreiben: eine Seite voll chinesischer Zeichen – und keiner von uns verstand Chinesisch. Ein Kanadier protestierte lautstark dagegen. Ein Polizist packte ihn und sagte: «Weisst du, was der Tod ist?» Trotzdem haben wir nicht unterschrieben.
Immer wieder verlangten wir ein Gespräch mit unseren Botschaftern. Doch die Polizisten sagten, unsere Vertretungen wollten überhaupt nichts von uns wissen. Das war eine Lüge. Wir hörten später, dass die Botschaften sich intensiv um uns bemühten – auch die schweizerische.
Insgesamt hielten uns die Polizisten 23 Stunden fest. Dann gings zum Flughafen. Wir starteten mit der Air China Richtung Frankfurt. Die gute Verpflegung an Bord stellte uns wieder auf; von der Polizei hatten wir nur eine Mahlzeit erhalten.
Die Frage, ob sich das Ganze gelohnt hat, stellt sich für mich nicht. Nach meinen Informationen sind bisher mit Sicherheit 320 Falun-Gong-Anhänger in chinesischen Gefängnissen umgekommen, wahrscheinlich aber weit mehr. Dagegen zählen meine Erfahrungen mit der Polizei nichts. Ich bin jedenfalls zu einem weiteren Protest auf dem Tien-An-Men-Platz bereit. Nur wirds wohl nicht so weit kommen. Denn ein Visum erhalte ich bestimmt nicht mehr.