Beim Kriegsverbrechertribunal in der Hauptstadt Freetown leite ich im Auftrag der Uno das Übersetzungsteam. Seit einem Jahr koordiniere ich die Arbeit von elf Dolmetschern. Wir sitzen hinter verdunkelten Scheiben im Rücken der Angeklagten. Bei den Verhandlungen bin ich immer anwesend und kontrolliere, ob richtig übersetzt wird. Verhandlungssprache ist Englisch. Die Zeugen dürfen eine von 17 verschiedenen Sprachen wählen. Am häufigsten wird Krio gesprochen, gefolgt von Mende und Temne.

Dolmetschen ist ein sehr anstrengender Job. Was die Zeugen erzählen, ist brutal. Schliesslich war Krieg. Und in diesem Krieg gab es vor allem Opfer. Ein Zeuge hat mich besonders beeindruckt. Innerhalb eines Tages hat er fast seine ganze Familie verloren. Sechs seiner Kinder und Enkelkinder sind im Bürgerkrieg erschossen worden. Der stattliche, gebildete Grossvater ist ein gebrochener Mann.

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Die Täter zum Zuhören zwingen
Doch Kinder waren nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Als Mutter von vier Kindern kann ich nachvollziehen, auf welch perfide Art Kinder als Soldaten benutzt wurden. Die Idee, Kindersoldaten einzusetzen, war von den Kriegsführern strategisch durchdacht. Denn sie sind am besten manipulierbar. Sie wurden aus ihren Dörfern entführt, von Erwachsenen abhängig gemacht und mit furchtbarstem Terror zur Loyalität gezwungen. So mussten sie zusehen, wie ihr bester Freund, ihr Bruder oder ihre Mutter umgebracht wurden – verbunden mit der Drohung: «Dasselbe passiert dir, wenn du nicht gehorchst.»

Die Bevölkerung ist heilfroh, dass der Krieg vorüber ist. Deshalb sind viele auch bereit zu vergeben, aber nicht zu vergessen. Ich bin beeindruckt, wie grossherzig die Menschen mit der Vergangenheit umgehen. Und ich staune, wie friedlich es nach solch einem Krieg im Alltag zugeht, wie wenig Straftaten und Brutalität es gibt.

Ich glaube nicht, dass man meine Arbeit lange machen kann. Selbst wenn man psychisch stabil ist und einen Weg findet, um den eigenen Frieden zu wahren, kommt ein Zeitpunkt, wo man aufhören muss.

Für mich laufen beim Zuhören drei Phasen ab. Zuerst geht es darum, möglichst exakt zu übersetzen, was eine Zeugin oder ein Zeuge Schreckliches schildert. In der zweiten Phase konzentriere ich mich auf den Inhalt – etwa auf eine Vergewaltigung. Dann sehe ich manchmal Bilder vor mir. Erst in der dritten Phase höre ich die Geschichte mit meinem Herzen. Dann ziehe ich mich häufig zurück auf meine schöne Terrasse. Bevor ich einschlafe, muss ich manchmal heulen.

Ich glaube, man kann alles in Worte fassen. Ich bin überrascht, wie präzis und individuell Zeuginnen und Zeugen erzählen, was sie erlebt haben. Es bleibt ihnen ja auch nicht viel anderes übrig, als zu sprechen. Sie wollen unbedingt aussagen. Das Gericht ist wie eine Bühne, auf der man seine Geschichte erzählen kann. Dabei ist sehr wichtig, dass jedes Detail besprochen wird – und dass sich die angeklagten Kriegsverbrecher anhören müssen, was die Zeugen sagen.

Ursprünglich studierte ich Ethnologie und Anglistik. In einem Seminar beschäftigten wir uns mit einem Sprachinventar aus dem 19. Jahrhundert. Darin hatte ein Missionar alle Sprachen aufgelistet, die damals in Freetown, Sierra Leone, gesprochen wurden. Ich war fasziniert und ging 1994 für meine Doktorarbeit mit all meinen Kindern nach Sierra Leone. Die Arbeit schrieb ich über «Sprache und die Konstruktion von ethnischer Identität». Damals kam es erst zu sporadischen Übergriffen im Grenzgebiet. Als Bürgerkrieg hätte man diese nicht bezeichnet.

Sinnvoll, wenn auch nicht perfekt
Als Forscherin bekam ich von den Einwohnerinnen und Einwohnern Daten und Informationen über die Entwicklung ihrer Sprache. Das brachte mir sehr viel für mein berufliches Weiterleben. Jetzt kann ich mein Wissen im Land selbst anwenden und dank meiner Arbeit am Kriegsverbrechertribunal der Bevölkerung einiges wieder zurückgeben.

Ich glaube, ein internationales Gericht ist eine sinnvolle Institution, auch wenn noch lange nicht alles perfekt läuft. Es ist ein Zeichen dafür, dass es jenseits des nationalgebundenen Gesetzes noch übergeordnete Gesetze gibt: eine Instanz, die Kriegsverbrecher im Gefängnis verwahrt. Inwiefern das Gericht weitere Bürgerkriege verhindern kann, ist schwierig zu sagen. Aber wichtig ist, dass die Gräueltaten nicht ungesühnt bleiben.