«Wie könnte etwas hässlich sein, das gar nicht vorhanden ist?» Die Frage irritiert. Gérald Métroz hat keine Beine, kann sich auch nicht erinnern, je welche gehabt zu haben. Der Unterwalliser hat sie als Zweijähriger bei einem Zugunglück verloren. Sein Körper gefällt ihm so, wie er ist. Individuell eben. Der 39-jährige Sportmanager ist eines der sechs Modelle, die ihre Behinderung für die Pro-Infirmis-Plakatkampagne selbstbewusst ins Blitzlicht rückten. «Hässlich sind nicht meine Beinstümpfe, sondern höchstens die Arroganz zu glauben, jemand mit einem halben Körper sei auch nur ein halber Mensch.»

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Gérald ist ein Siegertyp. Ob als Hockeymanager, Buchautor, Sportler oder Kulturschaffender – was er anpackt, ist von Erfolg gekrönt. Der guten Fee würde er heute dankend abwinken: «Würde man mir meine Beine wieder schenken, ich würde sie nicht mehr wollen.» Seine Behinderung hat ihm mehr gegeben als genommen, hat ihn zu Höchstleistungen angespornt und zu dem gemacht, was er ist. Jahrelang hat er den Massstäben der «anderen» nachgeeifert, wollte sein wie sie oder möglichst besser. «Ich glaubte meine Behinderung damit ausradieren zu können.» Lange ging er auch nicht ohne Beinprothesen unter die Menschen. «Das war bequem für die anderen, weil sie weniger mit meiner Behinderung konfrontiert wurden, aber höchst unbequem für mich.»

«Warum hast du keine Beine?»
Heute braucht Métroz diese Vorspiegelung falscher Tatsachen nicht mehr. Mit seinem Rollstuhl und seinem handbedienbaren Auto ist er mobil. Wendig ist er aber auch ohne Behelfsmittel: Seine trainierten Arme lassen ihn in unglaublichem Tempo vorwärts kommen, Treppen hochsteigen oder Barhocker erklimmen.

An das Angestarrtwerden hat sich Gérald Métroz gewöhnt, und er zieht es dem krampfhaften Wegschauen bei weitem vor. Kinder würden am ehrlichsten reagieren, sagt Métroz, falls sie nicht vorher von ihren peinlich berührten Eltern weggezerrt werden. «Sie schauen mir auf gleicher Höhe in die Augen und fragen einfach: ‹Warum hast du keine Beine?› Eine natürliche Frage, oder?» Sicher. Nur: Mögen das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Gleichstellung für Behinderte seit über einem Jahr in der Bundesverfassung verankert sein, in der Gesellschaft sind sie es nicht.

Das Bild eines versehrten Körpers oder eines versehrten Geistes passt schlecht in eine Welt, die geprägt ist von Machbarkeitswahn, Perfektionismus und Körperkult. Wo etwas nicht der Norm entspricht, soll es möglichst echt kaschiert und ersetzt werden. Dafür gibt es schliesslich den medizinischen Fortschritt. Echter Fortschritt aber wäre, den rund 500'000 Behinderten in der Schweiz ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben zu ermöglichen. Und das beginnt in den Köpfen der Nichtbehinderten.

Genau hier setzte die Plakatkampagne von Pro Infirmis an. Während dreier Monate machten uns behinderte Menschen von riesigen Plakaten herab beim Einkaufen, Parkieren und Spazieren das Ausweichen und Verdrängen unmöglich: Seht her, wir sind nicht perfekt. Der Slogan war stark: «Wir lassen uns nicht behindern.» Die Bilder waren noch stärker. Der Schweizer Starfotograf Hannes Schmid hat es verstanden, eine «andere» Schönheit zu zeigen: die Ästhetik der Unvollkommenheit.

Mehr noch: Die 16-jährige Christina Heer, der Spitzensportler Urs Kolly oder Oliver Bösch und all die anderen Models demonstrieren nicht nur Selbstbewusstsein, sondern eindeutig auch Sex-Appeal. «Absicht – und auch eine Tatsache», sagt Mark Zumbühl, kommunikativer Leiter von Pro Infirmis, «denn dass Behinderte die gleichen Ansprüche, Wünsche und Sehnsüchte wie alle anderen Menschen haben, sollte selbstverständlich sein.»

Die Kampagne wollte sensibilisieren und falsche Vorstellungen korrigieren, betont Zumbühl. «Uns ging es darum, Menschen zu zeigen, die grossartige Leistungen vollbringen – und zwar nicht trotz ihrer Behinderung, sondern mit ihrer Behinderung.» Das Image des bemitleidenswerten, hilflosen Behinderten, der sich in geschützten Werkstätten versteckt und Körbe flicht, müsse verschwinden. Die Plakate waren denn auch nicht mit einer Postcheckkontonummer versehen. «Hilfe kann nicht nur darin bestehen, für den armen Behinderten zu spenden. Viel wichtiger ist, Geld für ein Umfeld einzusetzen, das die versehrten Menschen nicht behindert.» Bezeichnenderweise gelang es Pro Infirmis im Vorfeld der Kampagne nicht, renommierte Sponsoren für die Sache zu gewinnen.

Kontrollierte Provokation
Der nationale Werbefeldzug habe nicht schockieren wollen, aber «kontrolliert provozieren». Die Provokation gelang nur halbwegs. Zwar hatte die Kampagne ein überwältigendes Medienecho, doch die kontroverse Debatte blieb aus: nur Lob und nirgends Tadel. Selbst der empörte Aufschrei der breiten Öffentlichkeit blieb aus. Offensichtlich ist die Zeit reif für Toleranz und persönliches Umdenken. Bei Pro Infirmis gingen einige irritierte, teils auch geschockte oder sogar aggressive Reaktionen ein. Tendenziell seien es ältere Leute gewesen, die Meinungen vertreten hätten wie «Das darf man nicht», «Warum müssen die sich denn so zeigen?», «Das will gar niemand sehen» oder «Dafür gibt es doch Prothesen».

Aber natürlich wollte Pro Infirmis nicht nur das Image von Behinderten verbessern, sondern auch ihr eigenes – weg vom etwas diffusen und verstaubten Bild, hin zu einer mutigen bis frechen Behindertenorganisation. Es war diese Doppelgleisigkeit, die einige böse Stimmen laut werden liess. Von Missbrauch war da die Rede und von Werbemethoden à la Benetton. Diesen Vergleich will Zumbühl aber nicht gelten lassen: «Unsere Legitimation, mit so genannten ‹Randgruppen› zu werben, ist ungleich grösser, denn wir wollen keine T-Shirts verkaufen, sondern setzen uns täglich für jene Zielgruppe ein, denen auch unsere Werbeträgerinnen und -träger angehören – Menschen mit Handicap.»

Dass Pro Infirmis bei ihrer «Abbildung der Wirklichkeit» selbst ein so heisses Eisen wie die Liebe zwischen zwei Menschen mit Down-Syndrom anfasste, ist mutig. Denn obwohl Eugenik und Zwangssterilisation offiziell abgeschafft sind, lässt sich, was das Recht auf Liebesbeziehungen von geistig Behinderten betrifft, noch nicht von gesellschaftlicher Akzeptanz sprechen.

Das Plakat der zwei Küssenden berührt zutiefst. Vielleicht weil es mehr Hingabe, Zärtlichkeit und Ehrlichkeit ausdrückt, als es der schönste Filmkuss könnte. Vielleicht aber auch, weil Menschen wie die Fabrikarbeiterin Esther Schätti und ihr Freund Sandro Bozzi aus Genf mit ihrer geistigen Behinderung am meisten auf Hilfe angewiesen sind. Sie dürfen nicht auf ein rundum selbstbestimmtes Leben hoffen.

Mit ihrem spontanen Votum an der Pressekonferenz zur Kampagne liess die 22-jährige Genferin gleich selber jeden Vorwurf von möglichem Missbrauch verstummen: Wenn sie jeweils von Sandro auf offener Strasse geküsst werde, dann würde er manchmal von Passanten mit «salaud!» beschimpft – und dabei empfinde sie seine Küsse doch so schön.

Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit zwischen Beobachter und schweizer Fernsehen DRS. Redaktionelle Verantwortung: Monika Zinnenlauf