Die Justiz verurteilte ihn zum Scheitern
Vor 57 Jahren wurde der Appenzeller Roland R.* schuldig gesprochen – für Taten, die er nie begangen hatte. Die Folgen spürt er bis heute.
Veröffentlicht am 9. Mai 2019 - 16:57 Uhr,
aktualisiert am 21. Mai 2019 - 09:15 Uhr
- Update vom 21. Mai 2019: Administrativ Versorgte - mehr Opfer als bisher angenommen
Sein Vermächtnis hat Roland R.* auf einer A4-Seite zusammengefasst. Wenn er stirbt, sollen drei Vertrauenspersonen seine Akten einem Archiv übergeben. Dazu gehört auch seine persönliche Abrechnung mit der Schweiz: «Für dieses Land verbleiben mir nur die Bezeichnungen: Verachtung, Spott, Häme und Hass.»
Um die Wahrheit über seine Kindheit zu erfahren, musste der heute 74-Jährige fast zehn Jahre lang mühselig Akten zusammentragen. Er las unzählige Korrespondenzen von Ämtern, Polizeiprotokolle, Briefe seiner Mutter, Prognosen von Psychiatern und Heimleitern. 662 Dokumente auf gut 1000 Seiten.
Am Anfang seiner Suche standen Fragen. Roland R. wollte wissen, weshalb er kurz nach der Geburt ins Säuglingsheim und später ins Kinderheim musste. Warum er als 15-Jähriger in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, bei Bauern schuften musste. Weshalb er in ein Erziehungsheim kam und wer dafür sorgte, dass er nicht einmal eine Lehre absolvieren durfte.
Roland R., 1945 in Herisau AR geboren, wuchs in einer zerrütteten Familie auf. Der Vater war Alkoholiker und gewalttätig, die Mutter sorgte als Arbeiterin in einer Textilfabrik für den Lebensunterhalt. Dass sein Vater gar nicht sein Vater war, erfuhr er erst mit über 30. Seinen leiblichen Vater lernte er nie kennen, er weiss nicht einmal seinen Namen. Aus den Akten geht lediglich hervor, dass der Vater ein polnischer Soldat war, der während des Zweiten Weltkriegs in der Ostschweiz interniert wurde.
Einige Amtsstellen halfen Roland R., bei anderen biss er auf Granit. Die Aktensuche zog sich in die Länge. Letztes Jahr riss ihm der Geduldsfaden, er schrieb dem Staatsarchiv in Herisau: Wenn er nicht bald Antworten erhalte, werde er das Bundesamt für Justiz einschalten. Das wirkte, plötzlich erhielt er seitenweise Unterlagen aus seiner Kindheit.
Seither verbrachte er Tage und Wochen damit, Protokolle und Briefe seiner Mutter zu scannen und abzuschreiben. «Das ist meine Art der Verarbeitung.» Was er aus seiner Kindheit und Jugend zusammentrug, erschüttert ihn. So findet er plötzlich den Grund, weshalb er nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit ins damalige Erziehungsheim Pestalozzi im aargauischen Birr gesteckt wurde. Das war Teil eines Urteils des Jugendgerichts.
Bei der Polizei habe man ihm Ohrfeigen verpasst, bis er zusammenbrach, sagt Roland R.* heute.
Das Jugendgericht kam im März 1962 zum Schluss, Roland R. sei auf «unbestimmte Zeit in ein geeignetes Erziehungsheim zu verweisen». Vorgeworfen wurden ihm «wiederholte öffentliche unzüchtige Handlung und unzüchtige Belästigung». Das Urteil listet mehr als ein halbes Dutzend Vorkommnisse über einen Zeitraum von fast zwei Jahren auf, von pubertären verbalen Belästigungen bis hin zu versuchten Vergewaltigungen . In einem Fall soll er das Opfer beraubt haben. Roland R. kann sich zwar an «Blödeleien» gegenüber Mädchen erinnern. Raubüberfälle habe er nie verübt und mit Sicherheit nie eine Frau sexuell genötigt.
Im Urteil heisst es dagegen: «Der Angeschuldigte wird vom Psychiater als erblich belasteter, erzieherisch geschädigter und durch mannigfache Milieu-Einflüsse in seiner psychischen Entwicklung schwer beeinträchtigter Jugendlicher beurteilt, dessen sexuelle Entgleisungen sowohl mit der gestörten Persönlichkeitsentwicklung als mit Pubertätsschwierigkeiten zusammenhängen.» Der Gutachter sprach von «ungünstigem Erbgut» und «angeborener Charakterschwäche». Es dränge sich eine «Versorgung» in einem Heim auf, wo «eine sorgfältige Nacherziehung» durchgeführt werden könne. Auch eine Ausbildung sei möglich – seine schulischen Leistungen seien beachtlich.
Das Urteil des Jugendgerichts im Prozess Nr. 282 von 1962, das sein Leben für immer veränderte, basiert auf einer dürftigen Faktenlage. Roland R. ist Opfer eines Justizirrtums geworden. Die Polizeiprotokolle bestätigen das. Mehrere Opfer beschrieben Täter mit einem Signalement, das nicht auf Roland R. zutreffen konnte.
Etwa Hanni L.*; sie sagte der Polizei, der Täter habe Bluejeans getragen. Roland R. hatte seine ersten Jeans erst nach der Rekrutenschule, 1965. Der Angreifer habe auch einen Hut getragen. «Als Jugendlicher habe ich nie einen Hut gehabt.»
Oder Lina B.*, die von einem Unbekannten niedergeschlagen und ausgeraubt wurde. Der Polizei gab sie eine Beschreibung, die mit dem 16-jährigen Roland R. wenig gemeinsam hatte. Der Täter war einen halben Kopf grösser, zehn Jahre älter und sprach einen fremden Dialekt.
Oder Elisabeth H.*; die Ärztin wurde am 23. November 1961 am Waldrand beim St. Galler Freudenberg von einem Unbekannten bedroht, niedergeschlagen und beraubt. Sie sagte aus, der Täter sei 20 bis 25 gewesen, 175 Zentimeter gross, von kräftiger Statur, habe krause, kurz geschorene Haare. Und habe mit deutschem oder österreichischem Akzent gesprochen. Roland R. war damals viel jünger, schmächtig, hatte ganz andere Haare. Im Polizeiprotokoll steht auch: «Die Bild-Konfrontation mit dem Opfer des Raubüberfalls in St. Gallen verlief ebenfalls negativ, indem Frl. H. mit Sicherheit erklärte, derselbe scheide als Täter aus.» Als gäbe es diese Aussagen nicht, legt ihm das Jugendgericht auch diesen Raubüberfall zur Last. Er habe die Tat zugegeben, heisst es im Urteil.
Weshalb Roland R. Übergriffe gestand, die er nicht verübt hatte, kann er nicht erklären. Er erinnere sich nur, dass er massiv unter Druck gesetzt worden sei und man ihm Ohrfeigen verpasst habe, bis er zusammengebrochen sei. Aus Protokollen des Polizeikommandos St. Gallen und einem Rapport vom 2. März 1962 der Kantonspolizei Appenzell AR geht hervor, dass er zuerst in St. Gallen verhört und einen Tag später in Herisau vom stellvertretenden Jugendgerichtsschreiber, einem pensionierten Oberrichter, «protokollarisch einvernommen» wurde. Heute sagt Roland R.: «Ich wollte damals nur noch, dass endlich alles vorbei ist.» Aus den Unterlagen geht nicht hervor, ob sich der 16-Jährige überhaupt juristisch verteidigen konnte.
Wenn man die Taten streicht, die er nicht begangen haben kann, bleiben drei Fälle von unsittlichem Verhalten. Heute würde man von unangemessenem, pubertärem Benehmen sprechen – und das Verfahren einstellen.
«An die Gerichtsverhandlung kann ich mich nicht erinnern», sagt Roland R. Im April 1962 kam er in den «Neuhof» in Birr AG, wo Jugendliche eine Lehre absolvieren konnten. Nicht aber Roland R. «Ich hätte gern eine Gärtnerlehre gemacht», sagt er. Daraus wurde nichts, er wurde Hilfsarbeiter.
1969 folgte der nächste Schicksalsschlag. Roland R. stürzte bei einem Arbeitsunfall 15 Meter tief von einem Hausdach. «Ich wurde mindestens 15-mal operiert.» Er erholte sich nur schleppend, wurde teilinvalid . Doch er rappelte sich auf, konnte sich wieder im Arbeitsmarkt eingliedern und wurde Autoersatzteilverkäufer.
«Meine Mutter hat sich bedingungslos den Behörden unterworfen – aus schierer Not.»
Roland R., Opfer von Behördenwillkür
Es gab auch Lichtblicke. 1972 lernte er seine Partnerin kennen, eine deutsche Balletttänzerin, die später ein eigenes Tanzstudio führte. Die beiden lebten bis zu ihrem Tod 2004 zusammen. Anfang der siebziger Jahre büffelte er Schulstoff nach und machte das kaufmännische Handelsdiplom. Er lernte Französisch, Englisch, Italienisch, Russisch. Mitte der achtziger Jahre wechselte er in die Informatik, wurde IT-Supporter.
In den neunziger Jahren holten ihn die gesundheitlichen Folgen seines Arbeitsunfalls ein. Er wurde immer wieder krank, verlor schliesslich seine Stelle. Danach bildete er sich aber zum PC-Koordinator weiter, war sogar Klassenbester. Doch die Wiedereingliederung klappte nicht.
Mit seinem Vorsorgegeld eröffnete er einen PC-Shop, musste kurz darauf aber wieder ins Spital. Roland R. hatte kein Einkommen, lebte von der Sozialhilfe, verlor alles. Als er dachte, er könne nicht mehr tiefer fallen, diagnostizierten die Ärzte bei seiner Frau und ihm Krebs .
Ein Jahr später war seine Frau tot. Er litt weiter an den Spätfolgen des Arbeitsunfalls von 1969, musste wieder ins Spital. Die Hüftgelenke wurden ersetzt. Sein Arm ist seit dem Unfall versteift, an der linken Hand kann er nur noch einen Finger bewegen. Er atmet mit Mühe, die Ärzte sind ratlos. Schmerzen sind alltäglich.
Aber Roland R. gab nicht auf. Er stürzte sich in die Aufarbeitung seiner Kindheit. «Von meiner Mutter wusste ich vieles nicht. Sie wurde von meinem Pflegevater genötigt, bedroht, erniedrigt und immer wieder verprügelt.» Sie habe sich «bedingungslos allen Ämtern und Behörden unterworfen, aus schierer Not». Halt habe sie im Glauben gesucht, in den Akten ist die Rede von «religiösen Anwandlungen». Für Roland R. war es «religiöser Wahn». So wurde er zum Atheisten.
Nun hat das Bundesamt für Justiz offiziell anerkannt, dass Roland R. ein Opfer von Behördenwillkür ist. Aus dem Wiedergutmachungsfonds erhielt er 25'000 Franken .
Roland R. tigert durch seine kleine Wohnung am Stadtrand von St. Gallen. Er setzt sich, steht auf, setzt sich wieder. Er will sich nun einen Traum erfüllen, «ein bisschen verrückt». In zwei Wochen fliegt er nach Amerika. Los Angeles. «Ich war noch nie so weit weg. Ich bin gespannt, ob ich das schaffe.» Roland R. wird es schaffen.
Zwischen 50'000 und 60'000 Menschen wurden in der Schweiz «administrativ versorgt» - mehr als bisher angenommen. Das ergab eine Untersuchung der Unabhängigen Expertenkommission UEK, die am 20. Mai 2019 veröffentlicht wurde.
Die Untersuchung liefert zum ersten Mal wissenschaftlich fundierte Angaben, in welchem Ausmass die Schweiz Menschen ohne Gerichtsurteil weggesperrt hat, die den Behörden aus irgendwelchen Gründen negativ aufgefallen waren. Oft reichte es, dass sie einen angeblich «liederlichen» Lebenswandel» führten oder dass man sie als «arbeitscheu» einstufte. Viele der Opfer waren Kinder aus armen Familien oder von ledigen Müttern.
Sie wurden in 648 Anstalten «versorgt»: in Gefängnissen, Erziehungsheimen, psychiatrischen Einrichtungen, Arbeits- oder Trinkerheilanstalten. Solche gab es in der ganzen Schweiz, teils staatlich, teils privat geführt.
Die Historiker der UEK werteten Anstaltsberichte und Kantonsunterlagen aus den Jahren zwischen 1930 und 1981 aus. Für diese Zeit errechneten sie die Zahl von mindestens 39'000 Betroffenen. Zusammen mit den vermuteten Weggesperrten in der Zeit von 1900 bis 1930 kommen sie auf 50'000 bis 60'000 im gesamten 20. Jahrhundert. Erst 1981 beendete die Schweiz die Praxis, weil sie international unter Druck geriet: Die administrative Versorgung widersprach der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Raphael Brunner
In der Rubrik «Der Fall» geht es um Geschichten von Menschen, die eine Phase durchmachen, in denen es das Leben nicht gut meint mit ihnen. Auch die Stiftung SOS Beobachter unterstützt Menschen, die einen Schicksalsschlag verkraften müssen – mit einer Spende können Sie mithelfen.