Bergün: Ruhm ohne Boom
Vor zehn Jahren wurde in Bergün die TV-Serie «Die Direktorin» gedreht. Dem Dorf im Albulatal brachte das wenig. Touristen hat Bergün immer weniger, Schulden dafür umso mehr.
Veröffentlicht am 31. Januar 2003 - 00:00 Uhr
Das Schild «Madruns» am Bahnhof von Bergün wurde entfernt, von den Speisekarten der Restaurants ist der Hinweis «nach Madrunser Art» verschwunden.
Es regnet in Strömen, später drückt die Sonne durch, dann beginnt es zu schneien. Genauso wechselhaft sind die Meinungen im Dorf über den Wahrheitsgehalt der Fernsehserie «Die Direktorin», die hier vor zehn Jahren gedreht wurde.
Als «Madruns» schrieb Bergün damals Schweizer TV-Geschichte. 26 Folgen lang konnten die Zuschauer mitverfolgen, wie sich die auswärtige Direktorin Alice Winter-Favre mit dem intriganten Dorfkönig und Baulöwen Ernst Hug herumschlug und dessen überdimensioniertes «Grischa Center» verhinderte, durften mitfiebern, wer sich aus finanziellen, amourösen oder anderen Gründen mit wem zusammentat, sich stritt und wieder trennte.
Die Touristeninvasion blieb aus
Doch das «Alpendallas» ist Schnee von gestern. In Bergün regiert wieder der Alltag. Die erhofften Touristenmassen sind ausgeblieben. Die wichtigste Attraktion ist nach wie vor die Schlittelbahn auf der Albula-Passstrasse von Preda nach Bergün. An schönen Wochenenden sausen hier Tausende zu Tal. Doch Bergün hat Konkurrenz erhalten. Die Benutzerzahlen sind trotz Schlittelboom rückläufig, und viele Gäste kommen nur für einen Tag.
In den letzten zehn Jahren sind die Übernachtungszahlen um ein Drittel gesunken; verheerend für einen Ort, der vom Tourismus lebt. Vier Verkehrsdirektoren nahmen in dieser Zeit den Hut – alles Tourismusfachleute aus dem Unterland.
Marco Stutz war der Letzte von ihnen. Nicht ohne eine gehörige Portion Groll und Frust denkt er an seine Bergüner Zeit zurück. «Das Hauptproblem des Verkehrsvereins besteht darin, dass zu viele mitreden wollen, ohne über die notwendige Fachkenntnis zu verfügen. Es gibt viele Profiteure und starke Abhängigkeiten.»
Ob sich die kleine Gemeinde eine «Direktorin» oder einen «Direktor» überhaupt noch leisten kann, war nach dem Abgang von Stutz umstritten. Schliesslich wurde ein Einheimischer gewählt, der 38-jährige Schreiner und Hobbyfotograf Reto Barblan. Dafür verliessen zwei langjährige Mitarbeiterinnen das Verkehrsbüro: Streit zwischen der älteren Mitarbeiterin und dem neuen Direktor ist ein Phänomen, das man aus der TV-Serie bestens kennt.
Auch der Vorstand des Verkehrsvereins wurde radikal umgebaut. Nach dem mehr oder weniger freiwilligen Abgang des Bauunternehmers Yves Broggi und einem kurzen Zwischenspiel eines Einheimischen übernahm der 47-jährige Erich Meier, Schulleiter aus Männedorf, das Präsidium. Er besitzt in Bergün ein Haus und soll als Aussenstehender den Querelen ein Ende setzen. Meier ist realistisch: «Es wäre vermessen zu glauben, dass sich eine kleine Gemeinde wie Bergün dem allgemeinen Abwärtstrend im Bündner Tourismus widersetzen kann.»
Die Auswärtigen braucht es
Neben Meier sitzen zwei weitere Auswärtige im fünfköpfigen Vorstand – was im Dorf nicht nur auf Begeisterung stösst. Umgekehrt ist man froh um das Engagement langjähriger Gäste, denn sonst stünde es um Bergün noch viel schlechter.
Zum Beispiel ums ehemalige Kurhaus. Mit dem 1906 fertig gestellten Jugendstilbau wollten Bergüner Hoteliers nach der Eröffnung der Albula-Bahnlinie eine ganz neue Klientel ins Dorf bringen. Zentralheizung, elektrisches Licht oder Aufzug hatte damals noch niemand in Bergün. Es war das am besten eingerichtete Haus im Ort. Sieben Franken kostete ein Doppelzimmer pro Nacht – das war damals viel Geld. Doch das Luxushotel rentierte nur kurz. Die reichen Gäste fuhren lieber weiter ins Engadin. 1949 übernahm die Gemeinde das durch einen Brand beschädigte Haus und verkaufte es fünf Jahre später an die gemeinnützige Genossenschaft Familienherberge weiter. Die religiös geprägte Organisation wollte auch ärmeren Familien Ferien ermöglichen. Aus den Hotelzimmern wurden 34 bescheiden eingerichtete Wohnungen, die sich über Jahrzehnte regen Zustroms erfreuten.
Doch die Herberge versäumte es, notwendige Renovationen und Reparaturen vorzunehmen. Der prächtige Eingangssaal mit seinen Jugendstilleuchtern wurde zum Spielzimmer umfunktioniert. Und mit WC und Bad auf dem Flur und einer Einrichtung, die an eine schlecht sortierte Brockenstube erinnerte, waren immer weniger Gäste zufrieden. Vergeblich suchte der Verein nach einem Käufer. Anders als in der TV-Serie fand sich kein Interessent für den heruntergekommenen Prachtbau. Letztes Jahr wurde der Betrieb vorübergehend eingestellt.
Eine Gruppe ehemaliger Stammgäste gründete dann eine AG und kaufte das Haus für 1,5 Millionen Franken. In der Zwischenzeit wurde mit ersten Repara-turen und einer sanften Renovation begonnen. «Zum Glück ist die Bausubstanz sehr gut erhalten», sagt Architekt und Mitinitiant Heini Dalcher. An Silvester gab es ein rauschendes Fest, zu dem auch viele Einheimische kamen, nächstens findet in den prachtvollen Sälen ein Tangokurs statt. Es ist wieder Leben ins Haus eingekehrt.
Als bestes Haus im Ort galt früher das «Weisse Kreuz». In der TV-Serie vertrieb der Wirt Sepp Burger die Gäste mit seinen zweifelhaften Kochkünsten und seinem schwierigen Charakter – in Wirklichkeit wurde das Haus vom früheren Besitzerpaar heruntergewirtschaftet. «Wie oft war der Wirt der beste Gast», umschreibt der ehemalige Gemeindepräsident Hugo Fisch die Situation. In den letzten 30 Jahren wurde nicht mehr viel investiert. Das Interieur mit seinen Plüschteppichen hat den Charme der siebziger Jahre. Vor zwei Jahren ging der Betrieb in Konkurs, die Besitzer sind in die Toskana ausgewandert.
Zwei Betonklötze im Dorf
Ersteigert wurde das altehrwürdige Haus von Thomas Trachsel aus Romanshorn, einem langjährigen Bergüner Stammgast, der es zu neuer Blüte bringen will. Diesen Winter hat das «Weisse Kreuz» seinen Betrieb wieder aufgenommen. Geführt wird es jetzt von Susanne Rösli, 40, und Cécile Cavelti, 43, ebenfalls zwei Zugezogenen. Baulich bleibt noch einiges zu tun, und manches wirkt noch etwas chaotisch.
Etwas ausserhalb des Dorfs liegt das Hotel Darlux. Mitte der siebziger Jahre geplant und gebaut, entspricht es ganz dem Stil der damaligen Zeit. Nicht ganz so schlimm wie das geplante «Grischa Center» in der TV-Serie, wirken die beiden Betonklötze trotzdem als Fremdkörper im intakten Dorfbild. Mit dem Bau des Hotelkomplexes, einer Seilbahn und mehrerer Skilifte wollten einige Bergüner den Tourismus ankurbeln und die Abwanderung stoppen. Die Mittel reichten aber nicht aus, also suchte man sie anderswo. Dabei floss auch ausländisches Geld illegal ins Albulatal. Wegen eines Verstosses gegen die Lex Furgler wurden später mehrere «Darlux»-Verwaltungsräte verurteilt.
In der Folge meldete der Hotelbetrieb mehrmals Konkurs an, das letzte Mal vor knapp zwei Jahren. Für 1,1 Millionen Franken ersteigerte die Bündner Kantonalbank den Komplex. Später kam er in die Hände des Churer Unternehmers Clemens Maissen, 48. Über den Kaufpreis will er nicht reden, macht aber kein Geheimnis daraus, ein gutes Geschäft gemacht zu haben.
Trotz reduzierter Zimmerzahl will Maissen das «Darlux» als Viersternebetrieb führen. Allerdings weiss die junge Dame an der Bar nicht einmal, was ein Gin Tonic oder ein Glenfiddich sind.
Einen Stock weiter unten versucht die Disco mit allerlei kitschigen Accessoires Tropenstimmung zu verbreiten, aber heute verirren sich nur wenige Gäste in den Bergüner «Sündenpfuhl».
Für das hartnäckige Gerücht, dass das «Darlux» einst als Absteige für Prostituierte aus Osteuropa diente, hat Maissen nur mitleidiges Lächeln übrig. «Sobald die Bergüner einen nackten Bauchnabel in der Disco sehen, glauben sie weiss ich was.»
Bauunternehmer Yves Broggi, 50, regt sich weniger über angebliche Dirnen im «Darlux» auf als über die Art und Wei-se, wie der Komplex von der Bündner Kantonalbank ersteigert und weiterverkauft wurde. Das «Darlux» war eines seiner ers-ten und zugleich grössten Bauprojekte. Im Lex-Furgler-Prozess kam er als einziger Verwaltungsrat ungeschoren davon. Ähnlichkeiten mit TV-Dorfkönig Ernst Hug will Broggi, der in der Serie einen Förster spielte, nicht erkennen. Tatsächlich war FDP-Mitglied Broggi «nur» Gemeinderat und nie Präsident. Vor drei Jahren legte er alle Ämter nieder, denn die Geschäfte laufen nicht mehr so gut wie einst.
Neben Broggi hat ein anderer die Bergüner Politik der letzten Jahre massgeblich geprägt: der gebürtige Thurgauer Hugo Fisch, 59. Er kam 1965 als junger Lehrer aus Paris ins Albulatal und amtierte dann 20 Jahre lang als Gemeindepräsident. Das wortgewandte SP-Mitglied sorgte in dieser Zeit dafür, dass die Gemeindeinfrastruktur kräftig ausgebaut wurde. Unter anderem wurden eine Mehrzweckhalle gebaut, das Schulhaus erweitert und die Dorfsägerei vergrössert.
Diese Investitionen waren zu viel für die Gemeinde. Bei nur rund 500 Einwohnern weist sie fast die gleiche Fläche auf wie der Kanton Zug, verfügt aber über keinen einzigen potenten Steuerzahler. Die Steuereinnahmen sind wegen der Tourismuskrise stark rückläufig.
Mit einer Nettoverschuldung von knapp 16'000 Franken pro Einwohner ist Bergün die am höchsten verschuldete Gemeinde Graubündens. Auch national nimmt sie diesbezüglich einen Spitzenplatz ein. Im Rahmen des Finanzausgleichs flossen im Jahr 2000 rund 800'000 Franken in die Gemeindekasse.
Fisch steht auch heute noch zu seiner forschen Ausgabenpolitik. «Die verschiedenen Vorhaben haben dem heimischen Gewerbe Arbeit verschafft und für neue Steuereinnahmen gesorgt.» Zudem seien alle Projekte von der Gemeindeversammlung abgesegnet und in Zusammenarbeit mit dem Kanton realisiert worden. Für Haimo Heisch, Leiter des Bündner Gemeindeinspektorats, ist das eine billige Ausrede: «Bergün hat bei den Investitionen ein zu hohes Tempo eingeschlagen und zu wenig betriebswirtschaftlich gerechnet.»
Investoren waren Betrüger
Als Gemeindepräsident waltet heute der 59-jährige SVP-Politiker Hans Conrad. Bis vor vier Jahren war er Bergbauer in der Bergüner Fraktion Stugl, seit Dezember fährt er mehrmals täglich Gäste im Postauto dort hinauf und wieder hinunter. Auch sein Handlungsradius als Gemeindepräsident ist limitiert, denn heute überwacht der Kanton jeden Schritt des hoch verschuldeten Dorfs ganz genau. Entsprechend gering ist das Interesse an politischen Ämtern. Seit drei Monaten ist ein Sitz im fünfköpfigen Gemeinderat vakant. Doch von den Jüngeren hat kaum jemand Lust, sich zu engagieren.
Eine Hoffnung, die marode Finanzlage auf einen Schlag zu verbessern, schien sich vor zwei Jahren zu eröffnen. Damals präsentierten sich zwei Schweizer Investoren und ein Financier aus Österreich. Sie versprachen, aus dem alten Zeughaus eine Mineralwasserfabrik zu machen. In Flaschen abgefüllt, sollte das Albulawasser bald Millionen Franken in die leere Gemeindekasse spülen. Doch die Investoren erwiesen sich als Betrüger, der Financier sitzt seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft, und das Quellwasser fliesst noch immer ungenutzt den Bach hinunter.
Eigentlich hätte die Gemeinde gewarnt sein sollen. Schon früher waren solche Vorhaben gescheitert, und einer der Investoren hatte schon bei einem anderen Mineralwasserprojekt Konkurs gemacht. Doch in der Not war die Gemeinde froh um jeden Strohhalm.
Museum statt Geldquelle
Firmen, die Vorarbeiten geleistet hatten, mussten sich Hunderttausende von Franken ans Bein streichen. Am stärksten betroffen war der Brittnauer Unternehmer André Ziltener, der die Abfüllanlagen pla-nen und liefern sollte. Er wirft der Ge-meinde Blauäugigkeit vor. Seine Klage gegen Bergün – unter anderem wegen Vernachlässigung der Kontrollpflicht – wurde allerdings abgewiesen. Ziltener hofft noch immer, das Projekt mit anderen Partnern wie etwa Nestlé verwirklichen zu können.
In Bergün hat man die Hoffnung, die marode Finanzlage mit Wasser sanieren zu können, begraben. Aus dem Zeughaus soll nun ein Eisenbahnmuseum werden. Geld dafür wird bereits gesammelt.