Das Geräusch klang in der riesigen Halle gar nicht wie ein Schuss, dazu hörte es sich viel zu dumpf an. Doch plötzlich schrie jemand: «Da schiesst einer!» Ich konnte es nicht glauben. Ich kam mir vor wie im falschen Film: «Massaker» statt «Feierabend». Schliesslich realisierte ich, dass etwas nicht stimmen konnte. «Nichts wie weg!», dachte ich nur noch.

Nach vorn konnte ich nicht aus der Halle fliehen, denn von dort kamen diese dumpfen Geräusche. Also lief ich in die entgegengesetzte Richtung, quer durchs Hochregal, zum hinteren Notausgang. Verschlossen! Darüber war ich nicht einmal überrascht, ich hatte gar keine Zeit dafür. Hinter einem grossen, schweren Whirlpool, den wir am Boden gelagert hatten, ging ich in Deckung, konnte noch einen Kollegen mit herunterziehen, der fassungslos in der Nähe stand. Wir hörten Schreie und ein Auto wegfahren. Es schien vorbei zu sein. Jetzt rannten wir zum Ausgang. Dort lagen zwei Arbeitskollegen – überall Blut. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich mit der Ersten Hilfe beginnen sollte, und holte erst einmal Wolldecken. Es war November und kalt. Was ich damals noch nicht wusste: Der Täter hatte einen Arbeitskollegen getötet und vier schwer verletzt. Einen sah ich erst beim Weihnachtsessen wieder und war schockiert: Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.

Partnerinhalte
 
 
 
 
Fast in der Falle gesessen

Eigentlich rettete mir ein Paket das Leben. Wir hatten alle Lieferungen für den nächsten Tag verladen, nur dieser eine Karton war noch übrig. Wieder und wieder mussten wir alle Papiere durchackern, um herauszufinden, welcher Chauffeur ihn übersehen hatte. Wäre das Paket nicht gewesen, ich hätte mich wohl längst in der Garderobe umgezogen und wäre in der Falle gesessen. Denn nach dem Gespräch mit den Vorgesetzten ging der Täter dorthin. Er schoss auf alle, die ihm begegneten. Es ist verrückt: Da gehst du am Morgen zur Arbeit, und am Abend bist du tot.

Das ist jetzt 15 Jahre her, doch ich erinnere mich ganz genau. Ich war damals Wirtschaftsstudent an der Hochschule St. Gallen und arbeitete temporär bei der Sanitärfirma Sanitas Troesch. Als ich von diesem Amoklauf in Buchs hörte, wo ein Angestellter einen Arbeitskollegen schwer und einen leicht verletzt hatte, war das wie ein Déjà-vu. Wieder die Sanitärbranche, wieder drohte dem Täter offenbar die Entlassung, und auch er zog im Gespräch mit Vorgesetzten zwei Waffen und begann zu schiessen. Schliesslich richtete er sich selbst.

Ich weiss jetzt, wie es sich anfühlt, wenn geschossen wird und man nicht fliehen kann. Bei jedem Amoklauf, ob an dieser Schule im deutschen Winnenden oder damals im Parlament in Zug, fühle ich mit den Betroffenen.

Wenn man selber mittendrin ist, ist man hilflos. So wusste ich zum Beispiel nicht mehr, was noch zu tun war, nachdem sich der Vorplatz unserer Firma mit Ambulanz- und Polizeifahrzeugen gefüllt hatte. Für die Polizei war ich kein guter Zeuge; ich hatte ja nicht gesehen, in welchem Auto der Täter geflüchtet war.

Ich wusste nicht, ob ich bleiben und aufräumen oder nach Hause gehen sollte. Also ging ich erst einmal in den «Gallusmarkt», schnappte mir einen Einkaufswagen und irrte ziellos durch die Gänge. Keine Ahnung, was ich damals gekauft habe. Ich war zittrig und aufgewühlt und deshalb froh, mich am Wagen abstützen zu können. Dann ging ich nach Hause und sah fern: Ich wollte wissen, ob die Polizei den Täter schon geschnappt hatte. Erst jetzt erfuhr ich, dass er einen jungen Familienvater getötet hatte.

Am nächsten Tag ging ich wie üblich zur Arbeit. Ich wollte die anderen nicht im Stich lassen. Und ich wollte mich informieren und mit jenen Leuten den Tag verbringen, die denselben Alptraum erlebt hatten. Die Firma stellte es uns frei, ob wir bleiben oder nach Hause gehen wollten. Mir war es wichtig, normal arbeiten zu können, möglichst rasch in den gewohnten Alltag zurückzukehren. Das war gar nicht einfach, denn überall gab es Spuren: die zerschossene Tür oder Markierungen am Boden. Wir sprachen an diesem Tag kaum ein Wort.

Manchmal frage ich mich, ob man den Amoklauf nicht hätte verhindern können. Denn nach der Tat wusste plötzlich jeder etwas Brisantes über den Täter zu erzählen: Er sei Alkoholiker gewesen, seine Beziehung sei gerade zerbrochen, und er habe seine Waffen herumgezeigt. Wieso kam das vorher nie auf den Tisch?

Der Täter war ein richtiger Tschooli

Ich möchte den Namen des Täters nicht mehr aussprechen. Mir war er nicht weiter aufgefallen. Im Gegenteil: Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass dieser Chauffeur einmal Amok laufen könnte. Er arbeitete langsam und belud seinen Lastwagen unsorgfältig. Man hatte ihm deshalb bereits die leichteste Tour gegeben, aber er schaffte selbst diese nicht mehr. So erinnere ich mich, wie er einmal die Ware einfach an den Strassenrand stellte, statt sie auf der Baustelle abzuliefern. Wenn er dann eins auf den Deckel bekam, schluckte er das und schien den Ärger in sich hineinzufressen. Er fluchte nicht wie andere, war nie aggressiv. Ein richtiger Tschooli halt. Vielleicht fehlte ihm ein Ventil, um seinen Frust rauszulassen. Inzwischen weiss ich: Wer seine Wut zeigt, ist oft weniger gefährlich.

Der Amoklauf machte mir bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, verschont zu bleiben. Wenn ich heute in einem Hotel einchecke, sehe ich mir immer zuerst die Fluchtpläne an. Und dann gehe ich zum Notausgang und prüfe, ob er nicht verstellt oder abgeschlossen ist.