Daheim, wo niemand bleibt
Was für Hunderttausende nur ein Durchgangsort ist, ist für eine Handvoll Menschen das Zuhause – zu Besuch bei den Obdachlosen vom Flughafen Zürich.
Veröffentlicht am 8. Oktober 2012 - 09:30 Uhr
Dany ist mit dem Gepäckwagen auf ihrer üblichen Runde durch den Flughafen. Würde nicht ein Hund brav neben ihr hertrotten, sie würde in der Masse der Reisenden glatt untergehen. Vor dem Kiosk parkiert sie das schwere Gefährt in einer Ecke, und mit einem Päckchen Kaugummi in der Hand stellt sie sich kurz darauf in die Schlange der Reisenden vor der Kasse – als wäre sie eine von ihnen. Doch das ist sie nicht. Dany ist anders als die 70'000 Passagiere, die täglich am Flughafen Zürich sind. Jeden Abend legt sich die kleingewachsene Frau ein paar Stockwerke über dem Kiosk schlafen: Der Flughafen ist ihr Zuhause.
Vornübergebeugt und breitbeinig sitzt Dany später draussen auf einer Bank – fernab vom Getöse der Busse und Trams, von den Menschen mit Reisetaschen und Rollkoffern und vom grossen Schriftzug «Flughafen Zürich», der über dem Haupteingang prangt. Die Abendsonne brennt unerbittlich auf das Gelände nieder, auch wenn der Herbsttau am Morgen die Gräser schon weiss färbt. Die aufgeheizte Luft macht Danys Hund zu schaffen. Der schwarz-weisse Border Collie hebt seinen Kopf nur dann von den Vorderpfoten, wenn er seinen Namen hört: Sie hat ihn nach einer Rennstreckenkurve in Monaco benannt – Dany ist Formel-1-Fan.
«Wir haben heute Nacht kaum geschlafen, es war einfach zu stickig», erzählt die Frau mit einer rauen Stimme, die irgendwie nicht zu ihrem zierlichen Äusseren passt. Die ganze Nacht über hat sie auf der Suche nach einem kühlen Plätzchen ihren Gepäckwagen voller Habseligkeiten von Sitzbank zu Sitzbank geschoben – erfolglos. Sonst schläft sie immer einige Stunden, bevor sie ihren Schlafplatz wechselt. Ausser wenn sie einen Schlafnachbarn erwischt, der hustet. Dann ist sie schnell weg. «Ich will doch nicht krank werden, meine Gesundheit ist mir viel zu wichtig.» So wie ihre Erscheinung: Weisses Hütchen, blauweisses Hemd, hellblaues Halstuch, dunkelblaues Handyetui – alles ist perfekt aufeinander abgestimmt. Und sauber. Dass der Flughafen seit einem Jahr Danys Bleibe ist und sie ihre Kleider behelfsmässig im nahen Leutschenbach waschen muss, ist ihr nicht anzusehen.
Wie alt Dany ist, weiss eigentlich niemand so genau. Manche Angestellte am Flughafen schätzen sie auf Mitte vierzig, andere ein paar Jahre jünger. Abschätzen lässt sich ihr Alter nur schwer. Das kurze, feine Haar ist durch und durch braun – keine Spur von grauen Strähnen. Und nach Falten im Gesicht muss man suchen. Wer sie danach fragt, erhält meist nur ein spitzbübisches Grinsen. Im besten Fall noch einen allgemeinen Kommentar: «Wir gehen alle auf die hundert zu.»
Genaue Zahlen zu den Obdachlosen am Flughafen existieren weder bei der Flughafenpolizei noch bei der Betreiberin Flughafen Zürich AG. Je nachdem, wen von den Obdachlosen man fragt, sind es zwölf oder vierzig Leute. Fest steht: Jeden Winter kommen ein paar mehr dazu, zumindest für einige Wochen.
Ob ein Neuankömmling in Ordnung ist, finden die Alteingesessenen schnell raus. Sie testen sie – nicht ohne Grund. «Hier wird viel geklaut, man muss wissen, wem man trauen kann», sagt Dany. Kürzlich hat sie einen Neuen angetroffen und ihm eine Zigarette angeboten. Es war ihre letzte – und er nahm sie an. Ein Fehler, wie ihre zusammengekniffenen Augen verraten. «Die letzte Zigi nimmt man nicht an, das ist doch kein Anstand.» Wer sich aber benimmt und gerne ein paar Worte mit anderen wechselt, gehört schnell dazu.
Zu später Stunde sitzen die Flughafenbewohner in Grüppchen beim Taxistand oder beim Haupteingang, kippen ein paar Biere und plaudern. Auch Gerüchte machen die Runde. Die können ganz schön böse sein, wie Dany erfahren musste: «Irgendein Witzbold hat herumerzählt, ich sei gestorben.» Die Lüge schaffte sie auf ihre Art aus der Welt: Sie drehte ein paar Zusatzrunden mit Hund und Wagen. «Die sind schön verchlüpft, als ich quicklebendig vor ihnen stand.»
Die Flughafen Zürich AG toleriert die ständigen Gäste. Laut Sprecherin Sonja Zöchling aber nur, wenn sie sich an die Regeln halten. Wer randaliert, Passanten belästigt oder Abfallberge hinterlässt, fliegt raus. Warme Plätze sind in Zürich rar. Besonders solche, die alles bieten, was man zum Leben braucht: Einkaufsläden, Toiletten, Duschen, Sicherheit – die Flughafenpolizei patrouilliert Tag und Nacht. Am Zürcher Hauptbahnhof etwa weht ein eisiger Wind, sagt Dany. «Alkohol, Drogen und Schlägereien sind dort an der Tagesordnung. Da schläfst du immer nur mit einem geschlossenen Auge.» Sie weiss, wovon sie spricht, sie verbrachte dort einige kalte Nächte.
Bis vor zwei Jahren lag Dany noch in ihrem eigenen warmen Bett. Mit ihrem Hund lebte sie in einer Stadtzürcher Wohnung, arbeitete als selbständige Werberin im eigenen Atelier und fuhr mit ihrem Auto zu Kunden. Irgendwann blieben die Aufträge aus – der Anfang vom Ende. Schuld ist eine Verschwörung, davon ist Dany überzeugt. «Irgendwelche Leute betrieben Rufmord. Das hat mir das Genick gebrochen.» Wer genau dahintersteckt, kann sie nicht sagen. Fest steht nur, dass sie fast ihr ganzes Hab und Gut verloren hat. «Ohne Auto zu sein, das war das Schlimmste. Das nahm mir jegliche Freiheit», sagt sie leise. Am Ende blieb nur noch der Gang aufs Sozialamt. Dort beantwortete sie Fragen und füllte Formulare aus. Aber nicht lange. Ein Angestellter auf dem Amt habe sie ausgelacht, weil sie im Wald habe schlafen müssen. Das war das letzte Mal, dass sie da war. «Alles muss ich mir nicht bieten lassen.»
Die Parkbank liegt nun fast im Dunkeln. Danys Magen knurrt. Bevor sie sich auf den Weg in die Migros im Airportcenter macht, greift sie in ihre Reisetasche, holt ein sauberes Plastikschälchen hervor und füllt es mit Trockenfutter. «Ich gehe nie irgendwohin, bevor mein Hund nicht gefressen hat. Er ist mein bester Freund.»
Das Tier mit den müden Augen kommt nur langsam auf die Pfoten, frisst dafür umso schneller. Die Stirn in Falten gelegt, beobachtet Dany mit wachen Augen den Freund. «Ich bin erstaunt, dass er unsere schwierige Situation so gut wegsteckt.»
Die Geschichten der Flughafen-Obdachlosen ähneln sich. Viele werden arbeitslos, bemühen sich irgendwann nicht mehr um Sozialhilfe oder schaffen den Gang aufs Amt gar nicht erst. Lieber verlieren sie sich in der Weitläufigkeit des Flughafens. Die Anonymität der Masse verschluckt das Schicksal des Einzelnen, schützt vor der Demütigung in der Gesellschaft. Die meisten helfen zusätzlich mit Alkohol nach. Er löscht unliebsame Erinnerungen, zumindest für ein paar Stunden. Für Dany ist Alkohol kein Thema. «Das macht nur aggressiv», sagt sie nachdrücklich, den Zeigefinger leicht erhoben.
Ganz anders bei Elke: Bei ihr beginnt jeder Tag mit einem Bier. Anders kommt sie nicht auf die Beine. «Jeden Morgen hoffe ich, dass ich den Tag überstehe. Nach den ersten paar Schlucken gehts mir dann wieder gut.» Seit einem halben Jahr sind die Hallen des Flughafens Elkes Wohnstube. Als Dany sie im Airportcenter auf einer Sitzbank antrifft, wirkt die Mittfünfzigerin fröhlich. Sie lacht oft und laut, auch wenn es eigentlich nichts zu lachen gibt. Wasser in den Beinen, Probleme mit dem Stoffwechsel, grausige Leberwerte – all das soll niemand sehen. Make-up, Lippenstift und Sonnenbrille unterstützen sie dabei. So wird aus der Randständigen innerhalb von Minuten eine gewöhnliche Reisende – eine mit einer Halbliterdose Bier im Schoss. Es ist die sechste heute.
Leisten kann sich die gelernte Kindergärtnerin mit den kurzen braunen Haaren das Bier nur, weil sie am Morgen zwei Stunden lang im Garten der reformierten Kirche in Zürich-Seebach gearbeitet hat. Immerhin 30 Franken hat sie dort zu ihrer deutschen Invalidenrente von 1000 Franken dazuverdient. Trotzdem reicht das Geld nirgendwohin. «Ich komme nicht ums Betteln herum», sagt sie. Ein Dilemma: Zwei Entzüge hat Elke schon hinter sich, keiner hat etwas gebracht. Ohne Alkohol könnte sie die Leute nicht um Geld bitten. «Ich schäme mich so.»
Dany lebt von dem, was ihr die Leute schenken, und vom Verkauf ihrer Comics. Jeden Abend, wenn es die letzten Passagiere mit ihren Koffern heimwärts zieht und nur noch die Angestellten der Restaurants die Böden wischen, sucht sie sich im obersten Stock des Airportcenters einen freien Tisch. Behutsam packt sie ihr dünnes Papier aus, spitzt Blei- und Malstifte und macht sich ans Werk. In stundenlanger Arbeit entstehen Geschichten über Putzfrauen, die sich über Littering ärgern, oder über Polizisten, die einen Bösewicht verfolgen – vieles von dem, was Dany täglich sieht, landet irgendwann auf Papier und verschwindet später für 25 Franken in den Reisetaschen aus aller Welt. Oder als Geschenk in den Pausenräumen der Flughafenmitarbeiter.
«Sali Dany», klingt es von allen Seiten, wenn sie durch die Hallen streift. Anders als viele der Obdachlosen lebt Dany nicht wegen der Anonymität in Kloten. Im Gegenteil: Sie sucht den Kontakt zu den Leuten, die hier arbeiten – dazu gehört auch die Polizei. Im Sommer habe sie ab und zu einen Cervelat oder Eier auf Alufolie auf den Grill der Flughafenpolizei legen dürfen. Einmal habe sie ein Uniformierter extra deswegen aufgeweckt. «Die wollen nicht, dass ich von hier weggehe», das steht für Dany fest.
Die Fürsorge am Flughafen reicht weit. Einmal fand sie nach dem Aufwachen ein ausgiebiges Morgenessen neben sich auf der Bank: drei Tranchen Trutenfleisch, drei Tranchen Schinken, Rührei, Ananas, Kiwi und Banane – nichts von dem, was auf dem Teller lag, hat die feinsinnige Frau vergessen. Wer die gute Fee war, ist bis heute deren Geheimnis. Dany wurmt das. «Es ist nicht meine Art, mich nicht zu bedanken.»
Nicht alle, die wie Dany ihr Zuhause in den Wartehallen haben, sind arbeits- oder mittellos. Einige arbeiten auf dem Bau und finden in Zürich wegen ihrer Verschuldung keine Wohnung. Andere wurden von der Partnerin rausgeworfen und sind hier gelandet.
Dann ist da noch Sepp. Mit seiner Rente und dem «Spaziermünz», das er sich mit kleinen Arbeiten dazuverdient, lebt er von 3800 Franken monatlich. Trotzdem verbringt der 73-Jährige seit zwei Jahren seine Nächte hier. Als Sepp nach dem Verkauf seines Wohnhauses auf der Strasse landete, wusste er zunächst nicht recht, wohin. Eine neue Wohnung war ihm zu teuer, sagt er und streicht mit der linken Hand die schütteren grauen Haare über den Kopf in den Nacken. «Und ich war zu faul, um mir eine neue zu suchen.»
Zum Flughafen hatte er einen Bezug aus seinem geordneten Leben «davor». Für den Job war er regelmässig nach Mexiko, Indonesien und auf die Philippinen geflogen. Heim zu seiner Familie kam er nur selten. Die Erziehung der Tochter und des Sohnes blieb an seiner Frau hängen. Sepp hatte es kommen sehen, wie er sagt: Die Ehe zerbrach, als das Jüngste 16 war. Mit den Kindern telefoniert er heute oft. Beide sind nach Australien ausgewandert. Dass er am Flughafen lebt, wissen sie nicht. Er schämt sich, es ihnen zu sagen.
Nach der Einkaufstour in der Migros sitzt Dany nun mit dem Rüstmesser an einem der Picknicktische. Zuerst greift sie sich den Salatkopf, zupft die welken Blätter weg, bis nur noch das Herzstück übrig bleibt. Den ganzen Tag über hat sie fast nichts gegessen. Sie hat ihr Geld für einen Salat-Znacht gespart – eine Eigenkreation aus Kopfsalat, Radiesli, Käse, Cervelat, Tomaten und Zwiebeln. Richtig gehungert habe sie deswegen aber noch lange nicht, sagt sie und blickt kurz vom Teller auf. «Hunger ist etwas ganz anderes. Das weiss nur, wer es erlebt hat.»
An manchen Tagen muss Dany mit fünf Franken durchkommen. Das reicht gerade für ein Eingeklemmtes. Dann lebt es sich an einem Ort mit Dutzenden von Speiselokalen und Imbissbuden nicht gut: Wohin sie auch sieht, irgendwo beisst immer jemand in ein Sandwich. «Wenn dann der Magen knurrt, ist es hart.»
Dennoch hat der Hunger einen Vorteil: Er schärft den Blick für Essen, wo niemand welches vermuten würde. Auf ihrem Verdauungsspaziergang durch die Check-ins und Arrivals bleibt Dany plötzlich stehen. Auf einer Bordüre beim Taxistand hat sie zwei Säcke erspäht, darauf ein rotes, geschwungenes M. Weit und breit ist niemand, dem sie gehören könnten. Abfall? «Nein. Da ist Food drin, das sehe ich gleich.»
Es ist spät geworden im Flughafen Zürich. Mit einer der letzten Landungen spült es eine Reisegruppe aus Fernost in die Hallen. Kinder rennen umher. Als sie Danys Boarder Collie erblicken, bleiben sie stehen. Sofort sammelt sich eine kleine Traube vor dem Tier. Dany mag nicht verweilen. Sie kennt solche Szenen: Der Hund wirkt wie ein Magnet auf die, die hier nur auf der Durchreise sind. Dany will weiter, sich einen Platz suchen, wo sie in Ruhe zeichnen kann. Spätabends gafft sie niemand mehr neugierig an, wenn sie Stifte und Papier hervorkramt.
Vor sich der Gepäckwagen mit ihrem Hab und Gut, neben sich ihren Freund an der Leine: So steht die kleine Frau nun auf der Rolltreppe nach unten. Langsam verschwinden ihre Beine aus dem Blickfeld, dann der Oberkörper. Bevor die grosse Leere unter ihr auch noch das weisse Hütchen verschluckt, dreht sich Dany noch einmal um. «In der Nacht fühle ich mich hier wie eine Königin», ruft sie. Eine Stunde später schickt sie eine SMS nach: «Ich wünsche mir nichts mehr als meine Güter, mein Auto, Geschäft, meine Mutter, meine Freunde zurück – und eine Wohnung mit Cheminée und Garten.»