«Das tut fest weh im Herzli»
Eine Autistin will nichts mehr als zurück in die Grossfamilie, in der sie 30 Jahre lang gelebt hat. Doch ihr Amtsvormund, der sie ins Heim «umplatziert» hat, sträubt sich dagegen.
Veröffentlicht am 27. August 2010 - 15:25 Uhr
Heidi Frei schlurft in ihren Sandalen durch den Pflanzgarten vor ihrem Schindelhaus in Degersheim SG und zeigt auf Begonien, Gladiolen und Stiefmütterchen. Dann deutet die 82-Jährige auf einige Gräser: «Es gibt Menschen, die sehen darin nur Unkraut.» Sie nicht. Sie pflanzt sogar Unkraut. Die kleine alte Dame mag Dinge, die unkonventionell sind. Und sie selber ist es auch.
Über 100 Pflegekinder hat die Frau mit dem Liebe-Oma-Gesicht aufgezogen: Waisen, uneheliche Kinder, Behinderte, dazu sieben leibliche und zwei adoptierte Kinder aus Afrika. Sie gilt als Schweizer Pionierin der Grossfamilie. Stolz könnte sie sein. Und zufrieden zurücklehnen.
Doch die alte Frau geht gebückt, ihre blauen Augen schauen traurig, und sie seufzt: «Es zerreisst mir fast das Herz.»
Der Grund dafür ist Judith K., die in Heidi Freis Familie lebt, seit sie zwölf ist. Fast 30 Jahre später wurde sie – gegen den Rat des behandelnden Psychiaters – vom Amtsvormund «umplatziert», wie dies im Jargon heisst. In ein nahegelegenes Heim für Behinderte. Judith K. ist Autistin.
Nun ist sie knapp zwei Jahre dort, doch «todunglücklich», sagt die Frau, die Judith wie ein eigenes Kind aufgezogen hat. Der Abschied schmerzt Heidi Frei noch heute.
Bevor Judith K. als Kind von ihren Eltern der Familie Frei anvertraut wurde, war das Mädchen sechsmal «umplatziert» worden. Die Autistin sprach nur mit der Kuckucksuhr, nur ihr vertraute sie ihre Geheimnisse an. Mit Menschen sprach sie nicht. Auch Berührungen duldete sie anfänglich nicht. Heidi Frei flüsterte ihr zu: «Gibt dir das Guggerziitli eine Antwort auf deine Fragen?» Allmählich sprach Judith mit der alten Dame. Und nach 30 Jahren war Heidi Frei emotional Judiths Mutter geworden.
Die leiblichen Eltern sind mittlerweile gestorben. Judith K. steht unter Vormundschaft, nach Artikel 369 des Zivilgesetzbuchs. Der 369er ist ein Hammerartikel, entmündigt einen Menschen wegen «Geisteskrankheit oder Geistesschwäche». Im neuen Erwachsenenschutzrecht, das demnächst das Recht aus dem Jahre 1912 ablöst, wird es den diskriminierenden Begriff «Geisteskrankheit» nicht mehr geben.
Doch Judith K. tröstet das kaum. Sie gilt als «urteilsunfähig». Sie schreibt Briefe aus dem Heim, dem «Säntisblick», an Pflegemutter und -schwester. Es sind eigentliche Hilfeschreie. In einem Schreiben zu Weihnachten – auf den Briefkopf hat sie einen Tannenzweig mit Kerze gemalt – schreibt Judith K.: «Das ist ein trauriges Leben, das Judith im Heim leben muss. Im Heim bin ich verloren. Ich möchte wieder heimkommen.» Immer wieder schreibt sie, sie wolle keine Tabletten mehr schlucken, die sie früher laut Heidi Frei nicht brauchte.
Dutzende solcher und ähnlicher Briefe hat Heidi Frei in ihren Ordnern abgelegt: «Der ‹Säntisblick› und die Frau P. loset nicht auf die Judith, wenn die Judith sagt, Judith hat Heimweh, und der Kanton St. Gallen hört auch nicht auf die Judith. Das tut ganz fest weh im Herzli.» Worte tief aus dem Innern der Seele. Doch sie beeindrucken Amtsvormund Claudio Schmid nicht.
Die Briefe widerspiegeln eine zwar kindlich gebliebene Frau, die aber sehr wohl weiss, was sie will. Auch der Psychiater, der gegen eine «Umplatzierung» war, bestätigt ihre Urteilsfähigkeit. «Frau K. ist sehr wohl imstande, einen klaren Willen zu äussern, wenn es ihre persönliche Situation betrifft.»
Immer wieder taucht in den Briefen auch Judith K.s Angst vor der Einweisung in eine psychiatrische Klinik auf, nachdem sie einmal in Handschellen von der Polizei in eine Klinik gebracht worden war.
Nun kommen die Briefe seltener, seit Vormund Claudio Schmid im Juni 2010 schriftlich angeordnet hat, dass Judith K.s Post geöffnet und gelesen wird. Auch darf sie nur noch unter Aufsicht einmal pro Woche telefonieren. «Bei ungünstigem Verlauf», so die Drohung, erfolge eine «Intervention». Der Pflegemutter und der Pflegeschwester hat der Vormund nicht nur Besuche, sondern jeglichen Kontakt mit Judith für sechs Monate verboten. Alles zur «längerfristigen Stabilisierung» von Judith K.
Es tobt hier auch der Streit zweier Prinzipien. Wenn Judith K. schreibt, «die Frau P. ist nur eine Heimleiterin und kein Mami, wo mich tröstet», dann trifft sie den Nagel auf den Kopf. Bedingungslose, sich aufopfernde Fürsorge gegen professionelles, sich abgrenzendes Pflegehandwerk.
1957, als Heidi und Fritz Frei, ein Kabelmonteur, ihre Grossfamilie gründeten, waren Waisenhäuser in der Schweiz noch weit verbreitet. Das wollte die gelernte Kinderpflegerin Heidi Frei möglichst vielen Kindern ersparen. «Kinder brauchen doch ein Mami», ist sie überzeugt. Besser sei es, in einer Familie aufzuwachsen statt im Heim. Das findet sie heute noch.
Die Miete für das grosse Haus, das sie damals in Zürich für ihre Grossfamilie fanden, zahlten die Freis mit Spenden von Gönnern. Man gründete eine Stiftung, die rasch wuchs. Mit den Jahren gelangten mehrere Häuser in ihren Besitz. Täglich musizierten die Kinder auf ihren Instrumenten, gaben Hauskonzerte. Und wenn die Kinder schliefen, wälzte Mutter Frei im Schein der Nachttischlampe Fachliteratur im Heimstudium, pädagogische Schriften, Studien über autistische Kinder. Das war Arbeiten bis ans Limit – manchmal auch darüber hinaus.
Weil Heidi Frei mit ihren Kindern Tisch- und Abendgebete sprach und die Bibel las, tauchte schon mal der Vorwurf des Stündeler- und Sektierertums auf. Und da die «Mutter Courage» sich auch den Behörden gegenüber oft hart für ihre Kinder wehrte, musste sie sich zweimal von Psychiatern bescheinigen lassen, dass sie noch alle Tassen im Schrank habe. Irgendwann verlangte der Kanton ein pädagogisches Konzept und noch eines für die Betriebsführung. Doch Heidi Frei hatte keins, aber eine Überzeugung: dass ein Kind in einer gut geführten Grossfamilie mehr Geborgenheit und Nestwärme erfährt als in einem Kinderheim.
Heidi Frei ist das Kämpfen gewohnt. Aber nun wirkt sie müde. Dieser letzte Kampf zermürbt sie. Sie schaut traurig in ihre Akten auf dem Tisch, vergräbt ihr Gesicht in die starken Finger, an denen Erde klebt, und ruft verbittert: «Alles Habichte!» Doch glaubt sie fest daran, dass Judith wieder zurückkommt. «Sie hat doch nur noch uns.»
Amtsvormund Claudio Schmid beantwortet Fragen des Beobachters nicht, weil er an die «amtliche Schweigepflicht» gebunden sei. Doch aus den Akten lassen sich Motive für eine Umplatzierung herauslesen. So musste Heidi Frei das Mehrfamilienhaus in Zürich, wo sie jahrzehntelang gewohnt hatte, 2008 Hals über Kopf verlassen, weil der Mietvertrag nicht erneuert worden war. Dies aufgrund interner Machtkämpfe in der Stiftung, an deren Ende die Gründerfamilie Frei entmachtet war. Die Stiftung wäre, sagen die siegreichen Stiftungsräte heute, sonst zugrunde gegangen. Auch hätten die Häuser dringend renoviert und pädagogische Konzepte angepasst werden müssen.
Heidi Frei übersiedelte mit Judith K. im April 2008 ins sankt-gallische Degersheim, wo sie noch ein Haus besitzt. In diesen wirren Zeiten beschloss der Amtsvormund, sein Mündel Judith nach 30 Jahren in ein Heim zu geben. Zudem wäre das Haus in Degersheim beinahe abgebrannt, weil eine Bewohnerin ihren Plüschgorilla angezündet hatte, «ein unverantwortbares Risiko», wie der Vormund schreibt. Selbst wenn er wollte, lässt der Vormund durchblicken, könnte er Judith nicht mehr in die Familie zurückgeben, denn weder Mutter noch Tochter, die mit Judith K. aufgewachsen ist und ihre Pflegeschwester gegen Kost und Logis aufnehmen würde, hätten eine Bewilligung für die Pflege behinderter Erwachsener. Eine solche braucht es aber laut Beobachter-Experte Walter Noser nur für Kinder.
Doch sieht der Vormund auch überhaupt keinen Anlass, Judith K. aus dem Heim zu entlassen. Denn seiner Ansicht nach geht es ihr dort gut.
«Mit Formalismen», kommentiert hingegen ein Arzt und Kenner der Familie Frei, könne man alles kaputtmachen. Heidi Frei sei die Verkörperung von bedingungsloser Liebe und Sorge. Altmodische Worte, die man selten hört im Zusammenhang mit Pflege. Meist ist nur von Kosten die Rede, Diplomen und Titeln. Heidi Frei hat keine Titel und Diplome. Aber Erfahrung. Und einen grossen Vorrat an Menschenliebe. Doch das ist noch kein Konzept. Es gibt Behinderte, die keine fachpädagogische Betreuung brauchen. Vielleicht ist Judith K. ja eine von ihnen.
14 Kommentare
Als Kind musste ich zwischenzeitlich auch ins Heim zu Heidi Frei.
Es war eine grauenhafte Zeit, jedes Mal.
"Tanti" mussten wir sie nennen. Und ihren Mann "Papa".
Ich erinnere mich an einen gelähmten dunkelhäutigen Jungen, der den ganzen Tag lang auf der Toilette am Boden sass, alleine.
Fürsorge, Menschen- oder Nächstenliebe?
Davon gab es dort nichts.
Das Gegenteil war der Fall.
Ich musste Schafe hüten und wurde von Bremen gestochen, ich hatte Angst. Niemand war für mich da. Die Tochter Rahel, die älter war als ich, riet mir mein Leibchen auszuziehen, damit ich nicht gestochen werde.
Das eklige Essen wurde auf dem holzigen von Hühnern verschiessenen Tisch "serviert". Dazu wurde uns gesagt, dass das es Hühnerscheissdreck sei und wir dafür dankbar sein sollen, überhaupt etwas zu Essen zu bekommen.
Diese Zeit bleibt mir und meinem Bruder bis heute in schrecklicher Erinnerung.
Diese Frau auf dem Bild, das sehr böse Tanti, hat mir einen Teil meiner Kindheit auf sehr abgöttische Weise versaut.
Es scheint mir schier unvorstellbar, dass diese Frau auf solche Weise im Beobachter beschrieben wird.
Unglaublich und absolut realitätsfremd.