Zürcher Polizisten gehen in die Fahrschule.» Diese Meldung, unlängst in der Tagespresse erschienen, hört sich lustig an, hat aber einen tristen Hintergrund: In den letzten drei Jahren ist es wiederholt zu Unfällen mit Polizeiautos gekommen, bei denen Unbeteiligte zum Teil schwer verletzt oder gar getötet wurden.

Doch manchen Beamten mangelt es nicht bloss an Fahrkünsten. Schweizweit sorgen Kantons- und Stadtpolizisten mit brutalen Übergriffen, Fremdenfeindlichkeit und internen Skandalen für Empörung.

Zwar sind es vorwiegend die Polizeibrigaden in den Ballungszentren Zürich, Genf, Basel und Bern, die mit Negativschlagzeilen von sich reden machen. Doch auch ländliche Regionen wie das Glarnerland und Städtchen wie Frauenfeld haben untragbare Zwischenfälle zu vermelden. Exhibitionisten, Päderasten, Drogendealer, Schläger, Nötiger, Rassisten – was ist bloss los mit unseren Ordnungshütern?

«Auch wenn die Presse einen anderen Anschein erweckt: Polizeiübergriffe kommen nicht jeden Tag vor, sondern sind Einzelfälle», sagt Marianne Riedwyl, Ausbildungschefin bei der Berner Kantonspolizei. «Dennoch muss man das Thema Polizeigewalt ernst nehmen.»

Klima auf der Strasse immer rauer
Pointierter formuliert es der Berner Fahnder Claude Donetta: «Jede Gesellschaft erhält die Polizei, die sie verdient.» Insbesondere rassistische Tendenzen innerhalb der Polizei führt er auf den sozialen Wandel zurück: «Tatsächlich sind die Anforderungen an die Polizistinnen und Polizisten durch die zunehmende Migration von Menschen aus fremden Kulturen stark gestiegen. Die Umgangsformen auf der Strasse werden zunehmend rauer.»

Das bekommen auch unbescholtene Zeitgenossen wie zum Beispiel Alan Bamidele zu spüren. Der nigerianische Informatikspezialist wurde vor zwei Jahren von der Basler Agrochemiefirma Syngenta von England in die Schweiz berufen – seither ist er mindestens 15-mal von der Polizei auf offener Strasse gefilzt worden. «An einem Tag wurde ich gleich dreimal kontrolliert, offensichtlich nur aufgrund meiner Hautfarbe.» Selbst ein harmloser Restaurantbesuch führte zur Mitnahme auf den Polizeiposten: Bamidele hatte es gewagt, nach dem Grund für die Kontrolle zu fragen.

Der Nigerianer hatte Glück und bekam seither keine Repressalien mehr zu spüren. Zudem hat er im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute eine gute Ausbildung: Er kennt seine Rechte und weiss sich zu wehren. Laut Amnesty International (AI) und der Menschenrechtsorganisation Augenauf laufen vor allem Farbige Gefahr, Opfer von Polizeiübergriffen zu werden. «Weit über die Hälfte der Klagen über Polizeibrutalität kommt von dunkelhäutigen Ausländern», sagt AI-Flüchtlingskoordinatorin Denise Graf.

Klagen gegen Polizei meist chancenlos
Weniger Glück als Bamidele hatte der Serbe Goran B. (Name geändert). Der unbescholtene 48-jährige Familienvater, der seit 25 Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet, wurde vor zwei Jahren in seinem Zimmer an der Zürcher Motorenstrasse überfallen. «Zuerst hielt ich die fünf bewaffneten Polizisten in Zivilkleidung für eine kriminelle Bande, da sie sich zuerst nicht als Beamte zu erkennen gaben und mir auch keinen Grund für die Aktion nannten. Ich hatte grosse Angst.»

Die Hausdurchsuchung bei dem vermeintlichen Drogendealer hatte schlimme gesundheitliche Folgen: Goran B.s Schulter wurde so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass er bis heute zu 100 Prozent arbeitsunfähig ist. «Ich dachte immer, die Schweizer Polizei arbeite korrekt, spreche zuerst mit den Leuten, statt einfach Gewalt anzuwenden. Ich habe mich geirrt.»

Auch der Basler Innenarchitekturstudent Matteo Winkler war der Meinung: «Polizeiwillkür gibt es in der Schweiz nicht.» Bis er kürzlich eines Schlechteren belehrt wurde. Spätnachts auf dem Heimweg nach einer Party wurde der 27-jährige Schweizer auf seinem Fahrrad angehalten. Zu Recht, denn er fuhr ohne Licht, war angetrunken und hatte eine Kollegin auf dem Gepäckträger.

Doch was dann folgte, war mehr als unverhältnismässig. Die Beamten verdächtigten Winkler, das Fahrrad gestohlen zu haben, und führten ihn auf den Polizeiposten ab. Dort zerstörten sie sein Handy, nachdem er versucht hatte, seinen Bruder über seinen Verbleib zu informieren. Die Polizisten hätten ihn geschlagen, verhöhnt und ihn gezwungen, sich auszuziehen, erzählt Winkler. Schliesslich steckten sie den Verängstigten in eine Zelle und liessen ihn erst am nächsten Tag wieder frei.

Das Protokoll der Basler Beamten, die Winkler diese unruhige und beunruhigende Nacht beschert hatten, liest sich ganz anders. Der Student wurde schliesslich zu einer Ordnungsbusse von über 500 Franken verknurrt.

Gegen übereifrige Polizisten eine Klage anzustrengen bringt meist nichts. Selbst die Zürcher Polizisten, die für die Hausdurchsuchung bei Goran B. verantwortlich waren, wurden bis jetzt nicht zur Rechenschaft gezogen. Auch Beschwerden haben wenig Chancen: Von den 122 Beschwerdefällen, die 2002 gegen Polizisten und Polizistinnen der Kapo Basel-Stadt eingingen, wurden gerade mal 15 als teilweise begründet und fünf als begründet angesehen. Dabei, so der einschlägige Verwaltungsbericht, seien die begründeten Beschwerden meist Folge von «nicht optimaler Kommunikation». Das Vorgehen der Polizei allerdings sei «korrekt» gewesen, hält der Bericht fest.

Auch in Zürich haben die «Beschwerden über polizeiliche Kontrollen und Interventionen, die von den Betroffenen als unfreundlich, ruppig, unverhältnismässig, entwürdigend empfunden wurden, zugenommen», wie im Jahresbericht 2002 des Beauftragten in Beschwerdesachen nachzulesen ist. Verfahren gegen Polizeibeamte seien «derzeit keineswegs unabhängig, da der Korpsgeist enorm stark ist und sich die Beamten häufig absprechen», sagt AI-Flüchtlingskoordinatorin Denise Graf. «Amnesty International fordert deshalb unabhängige Untersuchungskommissionen.» Selbst Jean-Pierre Monti, Generalsekretär des Verbands schweizerischer Polizeibeamter (VSPB), schliesst nicht aus, «dass wegen des Korpsgeistes ab und zu eine Verfehlung vertuscht wird».

Eine Million Überstunden pro Jahr
Beim Buhlen um Verständnis für fehlbare Polizisten ist man auf Seiten der Gesetzeshüter nicht um Antworten verlegen. «Frust, Stress, Ohnmachtsgefühle und mangelnde Unterstützung durch die Behörden können schon einmal dazu führen, dass einem Polizisten die Hand ausrutscht», sagt Gewerkschafter Monti. «Insgesamt fehlen hierzulande gegen 1600 Polizisten. Schweizer Polizeibeamte leisten rund eine Million Überstunden pro Jahr. Allein in Genf sind es wegen des G-8-Gipfels über 300'000 Stunden gewesen.»

Kommt hinzu, dass Übergriffe auf Polizisten laut einer Statistik des Bundesamts für Polizei massiv zunehmen: 2002 legten die Anzeigen wegen Gewalt und Drohung gegen Polizeiangehörige gegenüber dem Vorjahr um über 50 Prozent zu.

Angesichts der unregelmässigen Arbeitszeiten, der grossen Verantwortung und erheblicher Gefahren ist der Lohn eher karg: Im Kanton Basel-Stadt etwa fangen Polizisten je nach Einstufung bei einem Mindestlohn von knapp 4400 Franken bis rund 5500 Franken an.

Doch Hauptursache für polizeiliche Unzufriedenheit ist mangelnde oder gar schlechte Führung, wie eine Studie zur Zürcher Stadtpolizei zeigt. Unzufriedenheit führt laut dem Verfasser Patrik Manzoni aber nicht automatisch zu mehr Gewalt. «Das Gros der Gewaltausübungen geht auf das Konto einer ‹Hochrisikogruppe›, die aber gerade einmal zehn Prozent der Gesetzeshüter ausmacht.»

Offene Stellen selbst bei der Kripo
Diese schlagzeilenträchtigen «Rambo-Polizisten» bringen die ganze Zunft in Misskredit. Wohl auch deswegen gestaltet sich die Rekrutierung neuer Ordnungshüter trotz den vielen Stelleninseraten in den Tageszeitungen nicht einfach. Selbst Kriminalkommissariate, die beliebteste Abteilung bei der Polizei, haben unbesetzte Stellen zu verzeichnen. «Wir haben Schwierigkeiten, genügend Interessenten mit dem entsprechenden Anforderungsprofil zu finden», sagt Urs Wicki, Ausbildungschef der Kapo Basel-Stadt. «Im letzten Kurs konnten wir noch 44 Personen ausbilden, in der am 1. Oktober gestarteten Polizeischule sind es gerade einmal 25.»

Und unter jenen, die in die Polizeischule aufgenommen werden wollen, finden sich zu wenig geeignete Kandidaten: Die Ausschussquote bei der Aufnahmeprüfung liegt im Kanton Basel-Stadt bei etwa 80 Prozent. «Es ist zum Teil unglaublich, wer sich alles zu den Prüfungen anmelden will: Leute, die nicht schreiben können, oder solche, die in einem laufenden Verfahren stecken.» Um die Lücken zu füllen, werden laut Wicki mittlerweile nicht nur Frauen, sondern auch Ausländer mit einer Niederlassungsbewilligung C zugelassen. «Derzeit bilden wir beispielsweise zwei türkischstämmige Aspirantinnen aus.»

Nicht alle Beamten können sich mit der multikulturellen Polizeigesellschaft anfreunden. So ging beispielsweise bei der Schwyzer Regierung eine anonyme Beschwerde ein, weil ab nächstem Jahr ein Deutscher zum Polizeidienst zugelassen werden soll. Und der Druck, ein guter «Schweizer Polizist» zu sein, kann laut Experten bei den nichtschweizerischen Gesetzeshütern zu Überassimilation, zu übertriebenem Eifer und einem schärferen Vorgehen gegenüber den eigenen Landsleuten führen.

Eine Veränderung der Situation zum Besseren lässt sich – darin sind sich alle Betroffenen einig – nur durch eine bessere Ausbildung sowie vermehrte psychologische Schulung und Betreuung herbeiführen. «Besonders wichtig scheint mir, dass die Beamten eine Möglichkeit erhalten, ihre Erlebnisse, Ängste und Frustrationen zu verarbeiten und sich zu überlegen, wieso sie wie reagiert haben», sagt der Fahnder Claude Donetta. «Und ebenso wichtig ist, dass ein solches ‹psychologisches Ventil› institutionalisiert wird, damit alle es nutzen – vor allem auch diejenigen, die stets der Meinung sind, keine Probleme zu haben.» Doch nicht alle Kantone haben einen polizeipsychologischen Dienst.

Immerhin ist der Polizeiberuf seit Mitte Juni eidgenössisch anerkannt. Dank dieser Aufwertung werde auch der Optimierungsprozess in der Ausbildung vorangetrieben, sagt Polizeigewerkschafter Jean-Pierre Monti.

Unnötiger Kantönligeist bei Schulung
Doch nach wie vor verhindert der Föderalismus eine einheitliche Schulung. Monti: «Es ist nicht sehr hilfreich, dass die Kantone bis heute bei den Polizeischulen ein eigenes Süppchen kochen. Wir arbeiten deshalb auf eine gesamtschweizerische Ausbildung hin.» Dies sei insbesondere auch im Hinblick auf Grosseinsätze wie beim World Economic Forum in Davos wichtig, betont die Berner Ausbildungschefin Marianne Riedwyl. «Damit alle Polizisten dieselbe Sprache sprechen.»

Eine Arbeitsgruppe unter der freisinnigen St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter erarbeitet seit geraumer Zeit ein Konzept für eine Vereinheitlichung der Polizeiausbildung. Allerdings werden dabei einzelne Polizeischulen auf der Strecke bleiben, und der Steuerzahler wird mit höheren Kosten rechnen müssen. Ein vergleichsweise geringes Übel.

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