Es ist der 14. Dezember 2007, ein Freitag, kurz vor 13 Uhr. Die Juristin Rosmarie Naef nimmt den nächsten Anruf auf der Beobachter-Beratungshotline entgegen. Nicole Dill beginnt «die Geschichte meiner Ermordung» zu erzählen, wie es die Luzernerin heute nennt, mit fester Stimme, strukturiert, ohne Emotionen. Sie berichtet, wie sie von ihrem früheren Partner während Stunden gefangengehalten wurde, vergewaltigt, gefoltert und mit einer Armbrust niedergeschossen (siehe «Die Polizei wusste, wie gefährlich der Täter war»).

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Sie erzählt, wie sie nur durch Zufall dem Tod entging. Und auch, wie es niemand für nötig erachtet hatte, sie vor dem Täter zu schützen. Bei diesem handelte es sich um einen verurteilten Mörder, der nach dem gleichen Muster gewalttätig wurde, wenn Frauen die Beziehung zu ihm abbrechen wollten. Das war einem Netz von Leuten bekannt – Ärzten, Polizisten –, nicht aber Nicole Dill selber. Weil niemand sie warnte, lief sie unwissend in die Falle.

Jener Anruf beim Beobachter bildete vor knapp drei Jahren den Anfang, damit heute an einem beklemmenden Beispiel Fragen öffentlich behandelt werden, die sonst gerne untergehen: Was richtet eine Gewalttat mit den Opfern an? Welchen Schutz vor rückfälligen Tätern bieten ihnen die staatlichen Instanzen?

Beobachter: Ende Oktober erscheint Ihr Buch, mit dem Sie ein sehr persönliches Erlebnis öffentlich machen. Weshalb?
Nicole Dill: Ich habe etwas überstanden, an dem die meisten zugrunde gehen. Deshalb habe ich mir gesagt: Ich darf überleben – was mache ich nun daraus? Ich möchte die Öffentlichkeit für Fragen des Opferschutzes sensibilisieren und so einen Beitrag leisten, damit sich solche schreckliche Taten nicht wiederholen. Ich habe die Kraft, hinzustehen, um zu erzählen, was passiert ist. Und über die Hintergründe, weshalb es passiert ist – in der Hoffnung, dass daraus die nötigen Schlüsse gezogen werden. So rede ich sicher auch im Namen von anderen Opfern, die diese Kraft nicht haben. Oder für jene, die es nicht überlebt haben.

Beobachter: Geht es Ihnen auch darum, eine derartige Tat erklärbar zu machen?
Dill: Den Sinn für eine solche Tat wird man nie finden, das will ich auch gar nicht. Mir geht es um die Opfer. Ich möchte ihnen sagen, dass man auch nach einem so einschneidenden Erlebnis wieder ins Leben zurückfinden kann.

Beobachter: War es von Anfang an Ihr Ziel, die Sache nicht für sich zu behalten?
Dill: Nicht unbedingt. Während der Behandlung im Spital habe ich begonnen, alles aufzuschreiben – zuerst für mich, als eine Art Tagebuch. Ich habe mich ganz bewusst mit dem konfrontiert, was mir widerfahren ist. So lernte ich, damit umzugehen. Das Bedürfnis, die Geschichte nach aussen zu tragen, ist nach und nach entstanden.

Beobachter: Dazu kam es erstmals im Mai 2009 durch einen Artikel im Beobachter, damals wollten Sie Ihren Namen noch nicht veröffentlicht haben. Was gab den Ausschlag, diesen Schritt zu tun?
Dill: Ich habe nach der Tat Stück für Stück erfahren, was von Seiten der Polizei und anderer Instanzen alles schiefgelaufen ist. Dass nämlich etliche Leute den Mord an mir hätten verhindern können, wenn sie meine Hilferufe ernst genommen hätten. Das lässt mir bis heute keine Ruhe. Ich wollte nicht, dass das einfach verschwiegen wird.

Nach Nicole Dills Anruf beim Beobachter-Beratungszentrum Ende 2007 bleibt die Redaktion mit ihr in losem Kontakt. Man erwägt eine Publikation, doch Dill signalisiert, dass sie Zeit für sich braucht. Zur ersten Begegnung kommt es erst im August des folgenden Jahres. Es ist ein Treffen mit einer Frau, die auf freundliche Art Distanz zu ihrem Gegenüber bewahrt, die überaus kontrolliert auftritt und sorgfältig abwägt, was sie sagt und wie sie es sagt. Oft zitiert sie aus schriftlichen Unterlagen, als wolle sie sich Abstand zur eigenen Betroffenheit verschaffen. Wie es tatsächlich in ihr aussehen muss, offenbart sie ein einziges Mal: Als sie das Ende ihrer Gefangenschaft schildert, bricht sie in hemmungsloses Weinen aus.

Beobachter: Bis ein Artikel und erst recht ein Buch entstehen, muss man seine Geschichte wieder und wieder erzählen – erst noch gegenüber Fremden. Ist Ihnen das schwergefallen?
Dill: Am Anfang war es sehr emotional, das haben Sie ja selber erlebt. Aber je mehr man darüber redet, umso mehr kann man auch eine Distanz zu dem aufbauen, was geschehen ist. Natürlich wird mich das immer begleiten, es ist stets präsent, aber ich habe heute einen anderen Bezug dazu.

Beobachter: Heilt die Zeit alle Wunden?
Dill: Nein, das ist nicht möglich. Aber die Zeit erzeugt einen Balsam.
Die meisten Gewaltopfer schweigen, bleiben ohne Gesicht. Das brechen Sie auf, Ihr Buch macht Sie quasi zum Sprachrohr von Opfern. Stört Sie das?
Dill: Nein, weil es der Realität entspricht. Wer einmal Opfer gewesen ist, bleibt das auch. Das werde ich mit mir tragen wie ein Tattoo – ich bin tätowiert worden für den Rest meines Lebens. Natürlich, niemand ist gern ein Opfer. Aber eines zu sein, hat nichts mit Schwäche zu tun, das darf man nie so verstehen. Deshalb habe ich auch keine Mühe damit, heute mit meiner richtigen Identität dazu zu stehen.

Beobachter: Aber oft sind Opfer in einer schwachen Position. In Ihrem Fall will bis heute niemand die Verantwortung für das übernehmen, was Ihnen passiert ist. Wie weh tut das?
Dill: Sehr weh, weil ich mich nicht ernst genommen fühle. Deshalb will ich die Haftungsklage, die meine Anwältin und ich vorbereitet haben, unbedingt durchziehen. Dafür nehme ich in Kauf, dass mein Kampf noch eine Weile anhält. Ich steh das durch.

Beobachter: Weshalb ist es Ihnen so wichtig, dass jene, die Sie im Stich gelassen haben, belangt werden?
Dill: Ich vergleiche es immer mit meinem Job: Wenn ich einen Fehler mache, dann muss ich auch hinstehen. Ich finde, das sollten diese Leute ebenfalls tun. Zumal es hier um Leben und Tod gegangen ist.

Beobachter: Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie an die beteiligten Personen denken?
Dill: Es ist ein Cocktail von allem – manchmal Hass, manchmal bittere Enttäuschung. Klar, Fehler macht jeder Mensch, das kann allen passieren. Aber wenn man von allen allein gelassen worden ist, fühlt man sich wertlos. Das ist das Schlimmste.

Beobachter: Hat sich Ihr Menschenbild verändert?
Dill: Ich schaue die Menschen heute anders an. Wenn ich es mit jemand Unbekanntem zu tun bekomme, dann «scanne» ich ihn zuerst: schaue, wie er sich verhält, wie er spricht. Ich glaube nicht, dass ich das Vertrauen in andere Leute je wieder hundertprozentig zurückgewinnen kann. Die Unbefangenheit ist weg.

Beobachter: Wie wirkt sich diese Veränderung auf Ihr eigenes Verhalten aus?
Dill: Ich verlasse mich heute viel mehr auf mein Bauchgefühl. Ich hatte schon früher ein gutes Bauchgefühl, aber ich habe es nie so umgesetzt. Das ist jetzt anders: Wenn mir der Bauch etwas meldet, dann folge ich dem, immer. Heute gewinnt der Bauch gegen den Kopf.

Beobachter: Wie werten Sie das?
Dill: Positiv. Dass ich heute mehr auf mein Bauchgefühl vertraue, hat auch viel mit dem Vertrauen in mich selber zu tun. Ich bin selbstbewusster geworden, sensibler. Nicht sensibler von den Gefühlen her, sondern in der Wahrnehmung.

Beim Gespräch in einem Luzerner Restaurant strahlt Dill eine selbstsichere Gelassenheit aus. Das Gehetzte, die nur mühsam vertuschte Verletztheit, die bei der Begegnung im Sommer 2008 spürbar waren, scheinen wie weggeblasen. Damals fehlten die Worte, um sie aufzumuntern. «Das Leben geht weiter», hätte man sagen können, doch das hätte plump und hohl geklungen. Aber das Leben ist tatsächlich weitergegangen: Heute ist Nicole Dill zurück im Leben, im Job und auch privat. Nur einen Monat ist es her, seit sie ihr erstes Kind zur Welt gebracht hat. Und während des Interviews hält sie unablässig die Hand von Andi, dem neuen Mann in ihrem Leben.

Beobachter: Was hätten Sie uns erwidert, wenn wir Ihnen damals ein solch trautes Szenario Ihres Privatlebens prophezeit hätten?
Dill: Vermutlich hätte ich Sie für verrückt erklärt (lacht). Doch es war ja immer auch meine Haltung, dass das Leben weitergeht. Ich bin nicht der Typ Mensch, der resigniert, sondern jemand, der optimistisch ist, der nach vorne schaut. Das war selbst in den Zeiten so, als es mir ganz schlecht gegangen ist. Das hat mich gerettet.

Beobachter: Wäre die Rückkehr ins Leben auch möglichgewesen, wenn der Täter noch leben würde?
Dill: Wenn er noch am Leben wäre, selbst im Gefängnis, dann wäre ich heute nicht hier. Ich hätte mich abgesetzt ins Ausland, so weit weg wie möglich. Dann hätte mein Leben eine andere Wendung genommen. Aber ich hätte es mir auch dort zurückerobert.

Beobachter: So viel geschafft in so kurzer Zeit: Sind Sie stolz auf sich?
Dill: Nein. Stolz ist das falsche Wort. Nur schon wegen des Hintergrunds der Tat: Ich will nicht Stolz in Zusammenhang bringen mit all dem Schrecklichen, was passiert ist. Ich bin einfach dankbar und froh, dass ich die Kraft habe, dahin gekommen zu sein, wo ich jetzt stehe.

Die Polizei wusste, wie gefährlich der Täter war – und schwieg

Der 20. September 2007 ist für Nicole Dill «der Tag, an dem ich zum zweiten Mal geboren wurde». Damals ging für die heute 41-Jährige eine Tortur zu Ende, die sie fast das Leben gekostet hätte. Am Vorabend hatte sie ihr damaliger Freund Roland A. in seine Gewalt gebracht, sie aufs Schwerste misshandelt und ihr mit Schüssen aus einer Handarmbrust gravierende innere Verletzungen zugefügt. Erst am folgenden Morgen, nach einer Irrfahrt in einem Kofferraum, konnte die Polizei sie befreien und den Täter verhaften.

A., in den Medien als «Armbrust-Amok» betitelt, beging kurz darauf in U-Haft Selbstmord. Nicole Dill wurde schwer traumatisiert und war monatelang arbeitsunfähig.

Die Tat ist ein Lehrstück von verpasstem Opferschutz. Denn Roland A. war ein notorischer Gewalttäter, der wiederholt gegen Frauen tätlich wurde, sobald diese die Beziehung zu ihm beenden wollten. 1993 hatte er nach diesem Schema gar einen Mord verübt. Die Bedrohung, die von ihm ausging, war Polizei und Strafvollzugsbehörden ebenso bekannt wie Ärzten und Psychologen. Doch niemand reagierte, als Nicole Dill, die von der kriminellen Vergangenheit ihres Partners nichts wusste, die Trennung vorbereitete; der Mann war ihr durch seine besitzergreifende Art unheimlich geworden. Im Fokus steht besonders das Verhalten eines Luzerner Kantonspolizisten. Er liess die hilfesuchende Frau im Ungewissen über die drohende Gefahr, obwohl Rapporte belegen, dass er A.s Verhaltensmuster in solchen Situationen gekannt haben muss. Begründung: Datenschutz.

Mit einer Haftungsklage will Nicole Dill die beteiligten Instanzen zur Verantwortung ziehen. In einer Stellungnahme zeigt sich das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern «tief betroffen von dem, was Nicole Dill widerfahren ist». Ein Fehlverhalten der involvierten Beamten wird aber bestritten: «Die Polizei klärte die Frau im Rahmen ihrer Befugnisse und Möglichkeiten über die Situation auf.» Wie die Geschichte zeigt, genügte dies nicht. Deshalb: Haben die Ereignisse die Polizei dazu veranlasst, ihre Handlungsweise in solchen Situationen zu überprüfen? Welche Massnahmen wurden daraus abgeleitet? Auf diese Fragen hätte der Beobachter gern konkrete Antworten gehabt, doch sie blieben aus.