«Als Jenischer musst du los»
Im Frühling spüren Fahrende das Reissen – es zieht sie auf die Strasse. Auch die Jungen unter ihnen halten stolz diese Tradition hoch: An der Sesshaftigkeit reizt sie wenig.
Veröffentlicht am 20. Mai 2010 - 08:38 Uhr
Am Morgen des 10. März 2010 hängen die Wolken schwer am Himmel über Birmensdorf ZH und der Wind weht kühl, doch Pascal Gottier mag nicht länger warten. Seit ein paar Tagen schon riecht die Luft anders. Riecht nach Frühling statt Schnee, und die Vögel, so kommt es ihm vor, singen jeden Morgen ein bisschen forscher. Der 27-Jährige spürt ein Ziehen in sich, seiner 22-jährigen Frau Miranda geht es genau gleich. Ein Kribbeln und Brodeln im Körper, wie jedes Jahr um diese Zeit, wenn die Tage langsam länger werden.
«Das Gefühl ist schwierig zu beschreiben», sagt Gottier. «Du siehst, wie die Natur nach dem Winter erwacht, spürst die Aufbruchstimmung. Und als Jenischer fühlst du: ‹Ich muss los.›» Noch an diesem Vormittag spannt Pascal Gottier seinen weissen Fiat Ducato vor den Wohnwagen, einen Dethleffs Exclusiv VIP, fast neun Meter lang.
Rund 35'000 Jenische leben heute in der Schweiz. Die meisten bleiben unscheinbar, sie haben ihre traditionelle Lebensweise aufgegeben und den Wohnwagen gegen eine Wohnung eingetauscht, das Hausieren gegen einen geregelten Job. Sie sind, wie es im Jargon der fahrenden Jenischen heisst, zu «Betonjenischen» geworden.
Gut 3500 Jenische jedoch ziehen noch immer durchs Land, und es sind nicht bloss die letzten Jenischen alter Schule, im Gegenteil: Eine neue Generation hält die alte Lebensweise aufrecht. Kaum sind die kalten Monate vorüber, kommen die jungen Jenischen hervor aus ihren temporär bewohnten Wohnungen oder aus den Baucontainern, an die sie ihre Wohnwagen angedockt haben. Sie machen ihre Gespanne flott, nehmen die Kinder aus der Schule und fahren los, quer durchs Land, alleine oder mit anderen Familien.
Sie sind freilich nicht mehr nur die Korber und Scherenschleifer früherer Zeiten, sie haben ihre Fertigkeiten der Nachfrage angepasst: Sie malen, sie handeln mit Textilien oder Altmetallen, sie führen Dachdeckerarbeiten aus, Spenglerarbeiten, Abbrucharbeiten. Auf den offiziellen Durchgangsplätzen bleiben sie gemäss einem ungeschriebenen Gesetz jeweils höchstens einen Monat, ziehen dann weiter. Ihre Kinder bekommen Schulmaterial für unterwegs, müssen den Lehrern die Aufgaben zur Korrektur schicken und bekommen neue nachgesandt. Erst im Oktober kehren die Familien zurück in ihr Winterquartier in der Gemeinde, in der sie gemeldet sind und wo sie ihre Steuern bezahlen.
«Es ist ein Leben in Freiheit, denn wir haben Räder unter den Füssen, wir können gehen, wann immer wir wollen», sagt Pascal Gottier. Fast zwei Monate sind vergangen seit seinem Aufbruch in Birmensdorf. Das junge Ehepaar sitzt an einem Tisch vor dem Dethleffs, die Sonne brennt aufs Vorzelt des Wohnwagens auf dem Durchgangsplatz Ibach, am Rand der Stadt Luzern.
Gottiers Worte erinnern an Lieder wie «Lustig ist das Zigeunerleben», bekommen an diesem Ort aber eine zynische Note. Nichts zu sehen ist hier vom besungenen grünen Wald, der des Zigeuners Aufenthalt: Links die Kehrichtverbrennungsanlage, in der jedes Jahr über 90'000 Tonnen Abfall verbrannt werden, rechts der Werkhof der Stadt, ausserdem der Entsorgungshof für Sonder- und Separatabfälle. Acht Franken bezahlt das Paar der Stadt täglich, damit es seinen Wohnwagen auf dem abschüssigen Platz aufstellen darf, Strom kommt noch dazu, die Toilette auf dem Platz ist demoliert. Pascal Gottier zuckt mit den Schultern, fährt mit der Hand über seinen Familiennamen, den er auf dem linken Unterarm tätowiert trägt. «Das gehört dazu. Auf den Durchgangsplätzen, die uns die Gemeinden zur Verfügung stellen, ist die Infrastruktur oft dürftig. Dafür sind Kläranlagen, Gefängnisse und Hochspannungsleitungen nicht weit.»
In Balsthal, Kanton Solothurn, zieht der 21-jährige Jeremy Huber an seiner Zigarette, am Rand des Industriequartiers, vor seinem gelben Baucontainer und dem angedockten Wohnwagen. Er sagt: «Nein, mit den Volksliedern, die das lustige Zigeunerleben romantisieren, hat das Leben eines Jenischen nichts zu tun.» Ein unregelmässiges Einkommen, manchmal tagelang kaum Arbeit, und plötzlich wieder so viel, dass sie kaum zu bewältigen ist. Dann die Behörden, das Misstrauen, das Jenischen aus vielen Amtsstuben noch immer entgegenschlägt. Die Schikanen, die ständigen Polizeikontrollen. Die Beschimpfungen als «Dreckszigeuner», die sich manche Leute selbst heute nicht verkneifen können, weil die alten Klischees von den klauenden und kinderraubenden Herumtreibern noch immer in vielen Köpfen sind. Die Jenischen hätten mit all dem leben gelernt, sagt Huber, und die meisten Vorurteile seien so weit hergeholt, dass es sich gar nicht lohne, sich darüber aufzuregen. «Aber das alles zeigt halt, dass wir nicht völlig frei sind», sagt er. «Wir sind eingebunden in die Welt mit ihren Pflichten und Zwängen, genau wie die Sesshaften.» Er lächelt. «Wobei: Ein bisschen freier sind wir eben doch.»
Dieses Bisschen mehr Freiheit ist es, was junge Jenische dazu bringt, bei ihrer traditionellen Lebensweise zu bleiben. «An einer sesshaften Existenz reizt mich nichts», sagt Jeremy Huber. «Ich würde mich unwohl fühlen, an eine Wohnung und an eine feste Stelle gebunden zu sein, mich in einem festen Schema zu bewegen, jeden Tag zu wissen, was passiert.» Huber lebt mit seiner Freundin zusammen, Franziska Kunfermann, 19 Jahre alt, ursprünglich eine Sesshafte. Die Liebe hat sie zum Leben im Wohnwagen geführt, die Liebe und eine Abneigung gegen die Vorhersehbarkeit des sesshaften Lebens. «Alles schien so vorgezeichnet, so voller Zwänge», sagt sie. «Man macht eine Lehre, arbeitet, bildet sich weiter, und am Schluss schlägt man sich doch nur mit dem Chef und den Nachbarn im Wohnblock herum.» Hätte sie Jeremy Huber nicht kennengelernt, wäre sie wohl Weltenbummlerin geworden. Hätte ein paar Monate gejobbt, um dann wieder für eine Weile verreisen zu können.
Charles Huber würde auch gerne losfahren. Losfahren von diesem Waldrand in Rüttenen, Kanton Solothurn, hinein in den Frühling, seine Dienste als Maler anbieten. Doch Charles Huber, 22 Jahre alt und mit fröhlichen Augen, ist zur Sesshaftigkeit gezwungen. Seit den gesundheitlichen Beschwerden der Mutter haben die Eltern das Reisen aufgegeben, wohnen stattdessen in einem Holzhaus, das ein wenig aussieht wie ein zu gross geratenes Schrebergartendomizil. Gedacht war es einst nur als Quartier für die Wintermonate. Es hat kein Fundament, sondern ein Chassis mit Rädern. Das Wasser muss jeden Tag mühsam in grossen Milchkessi herangeschafft werden. Die Eltern würden das alleine nicht schaffen, also bleibt Charles Huber hier.
Wie lange das noch dauert, ist nicht klar. Die Hubers leben auf einem Grundstück, das an eine Firma verpachtet ist, sie sind Untermieter. Probleme gab es nie in den vergangenen 23 Jahren – doch jetzt will Rüttenen die Familie loswerden. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, aber Charles Huber sagt: «Ich bin blockiert. Ich weiss nicht, ob meine Eltern hierbleiben dürfen und ich mir bei ihnen ein eigenes Winterquartier bauen kann. Keine Ahnung, wies weitergeht.» Vorerst lebt der 22-Jährige in einem kleinen Zimmerchen bei den Eltern, klappert mit dem Vater die Umgebung nach Aufträgen ab. Manchmal blickt er auf das Foto, das er sich über dem Bett an die Holzwand gepinnt hat. Sie zeigt sein Gespann, mit dem er sich als 19-Jähriger auf die Reise machte, bevor er es wegen der gesundheitlichen Beschwerden der Eltern wieder verkaufte: ein Dethleffs Exclusiv Emotion, zwei Achsen, 6,80 Meter lang, davor ein VW Caravelle, schwarz, weil ihm Autos nur gefallen, wenn sie schwarz sind. Irgendwann, ist er sich sicher, wird er so etwas wieder haben.
Charles Hubers unsichere Zukunft ist symptomatisch für die meisten Jenischen. Die Schweiz nämlich gesteht ihren Fahrenden nicht viel Platz zu, auch wenn das Bundesgericht 2003 ausdrücklich ihr Recht auf «angemessene Halteplätze» anerkannt hat. Alle Stand- und Durchgangsplätze entsprechen zusammengezählt einer Fläche von 15 bis 20 Hektaren. Das ist ungefähr so viel wie 25 Fussballfelder. Und das kann schnell eng werden, denn die 3500 Schweizer Jenischen teilen sie sich mit zahllosen Fahrenden aus anderen Ländern.
Und während einzelne Kantone, wie unlängst der Aargau, neue Plätze schaffen, scheitern ähnliche Vorhaben etwa in St. Gallen am Widerstand der politischen Rechten. Das stört Pascal Gottier wesentlich mehr als eine Verbrennungsanlage in der Nachbarschaft. «Manchmal komme ich mir als Schweizer zweiter Klasse vor», knurrt er. Als einer, der zwar Steuern und AHV-Beiträge bezahlen und Militärdienst leisten dürfe – aber sein Leben so zu gestalten, wie es seiner Kultur entspreche, das verwehre ihm sein angeblich so freiheitliches Land. «Ein zentraler Bestandteil der jenischen Kultur ist das Reisen. Stellen uns die Behörden keine Plätze zur Verfügung, würgen sie diese Kultur ab.»
Die jungen Jenischen bekennen sich stolz zu ihrer Kultur, doch wer sie sich als exotische, filmreife Gestalten vorstellt, liegt falsch. Junge jenische Männer tragen nicht die Schnurrbärte und Haartollen ihrer Väter, die jungen Frauen nicht das aufgesteckte Haar und den üppigen Goldschmuck ihrer Mütter. Junge Jenische sehen aus wie gewöhnliche junge Menschen. Junge Jenische haben ein Handy in der Tasche und einen Computer im Wohnwagen, sie gehen am Wochenende gerne ins Kino oder in die Disco, fahren winters Snowboard, legen sich sommers gerne in die Badi.
Doch junge Jenische wirken schon als Zwanzigjährige so reif und ernsthaft wie die wenigsten ihrer sesshaften Altersgenossen. Das Leben lässt ihnen nicht viel Zeit für Flausen im Kopf. «Für mich war als Kind schon klar, dass ich als Fahrender leben will. Obwohl meine Eltern keine Mühe gehabt hätten, wenn ich eine Lehre gemacht und mich irgendwo niedergelassen hätte», sagt Jeremy Huber in Balsthal. Mit 14 Jahren, kaum die Töffliprüfung im Sack, löste er ein Hausiererpatent und begann in den Quartieren Besen zu verkaufen. Mit zunehmendem Alter wuchs er in verschiedene Handwerke hinein. Er lebte sparsam, legte während Jahren seine Tageseinnahmen auf die hohe Kante und wusste auch, wofür: Mit 18 Jahren musste die Autoprüfung her, dann sofort ein Wohnwagen und ein Auto, das stark genug war, um den Wagen zu ziehen und gleichzeitig als eine Art fahrbare Werkstatt zu dienen. «Das ist das Ziel», sagt Huber. «Der schnellstmögliche Weg in die Unabhängigkeit. Darauf arbeiten wir schon als Teenager hin.»
Die Kehrseite: Junge Fahrende machen keine reguläre Berufsausbildung. Sie sind handwerklich zwar versiert, haben aber keine anerkannten Abschlüsse, ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten sind beschränkt. Charles Huber räumt ein: «Meine sesshaften Freunde haben bezahlte Ferien, fixe Löhne, Aufstiegsmöglichkeiten. Darum beneide ich sie manchmal schon.»
Mehr noch als die Männer trifft es die jungen jenischen Frauen – ihre Mütter trimmen sie von Kind an darauf, gute Hausfrauen und Mütter zu werden, etwas anderes ist für sie nicht vorgesehen. «Unser Tätigkeitsgebiet ist in erster Linie der Haushalt», sagt Miranda Gottier. «Mich stört das nicht, aber man muss schon sagen: Wir haben eine Rollenverteilung wie in den fünfziger Jahren.»
Trotz alledem: Die jungen Jenischen, die sich für ihre traditionelle Lebensweise entschieden haben, wollen nicht tauschen mit dem Leben junger Sesshafter. In Ibach am Stadtrand von Luzern ist es kühler geworden, die Sonne hat aufgehört zu brennen, und Miranda Gottier sagt: «Ich verzichte gerne auf ein paar Dinge, wenn ich dafür frei sein kann.» Und schwärmerisch fährt sie fort, erzählt vom Herzklopfen, das sie auf der Reise bekommt, in einer Karawane von fünf oder sechs Gespannen. «In solchen Momenten bin ich einfach nur stolz, eine Jenische zu sein.»
Hintergrund
Schätzungsweise 100'000 Jenische leben in Westeuropa, 35'000 sind Schweizer Staatsbürger. Woher sie stammen, ist unklar. Einige Jenische beschreiben sich als Volk und sehen sich als Nachfahren einer nomadisch lebenden europäischen Urbevölkerung oder eines indischen Stamms, der vor Jahrhunderten westwärts gezogen sei.
Sozialwissenschaftler hingegen gehen davon aus, dass die Jenischen die Nachfahren von einheimischen Bevölkerungsschichten sind, die wirtschaftliche Not und soziale Ausgrenzung seit dem 16. Jahrhundert zu einem Leben auf Achse zwang.
Seit 1998 sind die Jenischen in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt. Viele von ihnen sprechen unter sich Jenisch – eine Sprache, die im deutschsprachigen Raum und in Frankreich entstanden ist und Elemente des Deutschen, Jiddischen, Romani und des spätmittelalterlichen Rotwelsch enthält.