Fleischproduktion: Wie Poulets aus China eingebürgert werden
Die Europäische Union hat den Import von Pouletfleisch aus China verboten – aus Angst vor Seuchen und wegen Mängeln in der Tierhaltung. Anders die Schweiz: Sie importiert so viel wie nie zuvor aus dem Reich der Mitte.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Industriegebiet Root bei Luzern. Zwischen Möbel- und Einkaufsmärkten, Erotikzentren und Garagen steht das Fabrikationsgebäude der Firma Fredag. Für die meisten Konsumenten ein unbekannter Name. Doch ihre Produkte sind in fast aller Leute Mund. Wer im Restaurant Chicken Nuggets bestellt oder aus der Tiefkühltruhe ein pfannenfertiges Pouletprodukt nimmt, kommt um die Fredag kaum herum.
Das Sortiment reicht von «Ballotines de Poulet Provençale» über das «Poulet Cordon Kiew» bis zum «Pouletgeschnetzelten Zürcher Art». Ziel der Fredag ist es, «veredelte Geflügelprodukte mit einem Maximum von Qualität und Geschmack herzustellen», heisst es auf der Internet-Homepage. Dies erfordere «den Einsatz wertvoller Rohstoffe (…) in der Geflügelmast».
Für Poulet-Fertigprodukte ist die Fredag in der Schweiz die Nummer eins. Rund 20'000 Kilo Pouletfleisch verarbeitet die Firma jeden Tag. Den Fabrikationsbetrieb zeigt Direktor Remo Hansen mit Stolz: «Wir haben überhaupt nichts zu verbergen.»
Erste Station. Ein riesiges Lager, vollgefüllt mit Kartonschachteln. Temperatur: minus zwei Grad. «Chicken Ragout» steht auf einem Karton, daneben eine Kontrollnummer und dazu in fetter Schrift «Vegi». Ein Poulet für Vegetarier? Nein. «Vegi» stehe für die «rein pflanzliche Ernährung» des Huhns, sagt Betriebsleiter Thomas Wallig. Mit der Nummer könne die Verarbeitung genau zurückverfolgt werden. Ob Geschnetzeltes, Ragout oder Pouletbrüstli – eines haben die Produkte gemeinsam: Sie stammen alle aus China.
Transport um die Welt
Rund sieben Wochen lang waren sie in Kühlcontainern von China via Rotterdam bis nach Basel unterwegs. 150 Franken pro Tonne kostet der Transport aus dem Reich der Mitte bis nach Rotterdam, 120 Franken der Weitertransport nach Basel.
Pro Kilo und auf den ganzen Transport umgerechnet, macht das 27 Rappen. Als Kosten vernachlässigbar. Der Einstandspreis von einem Kilo Pouletbrüstli aus China liegt bei drei Franken. In der Schweiz sind es zehn Franken mehr.
Trotzdem seien die Haltungsbedingungen nicht schlechter als hierzulande, behauptet Hansen. Zum «Beweis» spielt er ein Video aus China ab. Man sieht darauf Hühnerscharen von 10'000 bis 12'000 Stück in riesigen, offenen Unterständen. Das ist zwar nicht gerade eine Bauernhofidylle, scheint aber auch nicht schlimmer als die konventionelle Pouletmast in der Schweiz oder sonstwo in Europa.
Das industrielle Schlachten spielt sich auf dem Video ähnlich ab wie überall auf der Welt. Im Sekundentakt werden die betäubten Hühner maschinell getötet und im Akkord weiterverarbeitet. Es ist der Blick in eine Poulet-Produktionsfabrik.
Hybridhühner aus den USA
Kein anderer Bereich der Fleischproduktion ist so systematisiert und industrialisiert wie die Geflügelhaltung. Das System ist heute weltweit überall etwa dasselbe: Ein Unternehmen organisiert und bestimmt den ganzen Produktionsablauf vor Ort. Am Tag X liefert es dem Vertrags- oder Lohnmäster mehrere tausend Mastküken und holt sie je nach Rasse 40 bis 60 Tage später als schlachtreife Hühner wieder ab. Die gleiche Firma liefert in der Regel auch das Futter. Die Fredag arbeitet in China mit insgesamt drei Schlachtbetrieben zusammen. Hansen hat von ihnen «einen guten Eindruck», auch wenn man nie ganz ausschliessen könne, dass jemand krumme Sachen macht.
Zur Fleischverarbeitung hat die Fredag aber einen eigenen Verarbeitungsbetrieb in China: die Fresico. Das Fleisch, das von dort in die Schweizer Küchen kommt, heisst «Pouletgeschnetzeltes Zürcher Art». Eine Ausnahme, sagt Hansen, alles andere Pouletfleisch werde «grundsätzlich in der Schweiz» verarbeitet.
Heimischer macht auch dieser Schritt das Produkt nicht. Pouletfleisch ist ein Paradebeispiel für den globalisierten Wirtschaftsmarkt. Die Brutbetriebe in China sind zwar Geheimsache – auch Hansen wird dort kein Zutritt gewährt –, doch woher die Bruteier oder Küken stammen, ist bekannt: von der Firma Ross aus den USA.
Wie alle führenden Hühnerzuchtbetriebe hat sich Ross auf sogenannte Hybridlinien spezialisiert. In einer Eliteauslese wurden Hühner mit besonderen Eigenschaften so lange gekreuzt, bis ein Tier resultierte, das mit immer weniger Futter immer schneller schlachtreif wird.
Vor 30 Jahren brauchte es noch drei Kilo Futter für ein Kilo Schlachtgewicht, heute sind es noch zwei. Doch die Medaille hat eine Kehrseite. Die Hochleistungstiere werden immer krankheitsanfälliger. «Deshalb müssen sie stärker mit Antibiotika und anderen Medikamenten behandelt werden», kritisiert Hans-Georg Kessler von der Konsumentinnenarbeitsgruppe für tier- und umweltfreundliche Nutztierhaltung (KAG).
Weiter züchten und vermehren dürfen und können die Mäster diese Hybridlinien selber nicht. Das gilt für China ebenso wie für die Schweiz. Auch hier kommen heute sämtliche Elterntiere aus ausländischen Zuchtbetrieben – nur einige Hobbyhalter züchten selber. «Eigentlich stimmt unser Name nicht mehr. Zucht machen wir schon lange keine mehr», bestätigt Ruedi Hadorn von der Schweizerischen Geflügelzuchtschule in Zollikofen BE.
Auch die beiden marktbeherrschenden Systembetriebe SEG (Coop) und Optigal (Migros) beziehen alle Elterntiere aus dem Ausland. Die «Einbürgerung» der Hühner läuft problemlos. Noch keine zwei Monate alt, erhalten sie den Schweizer Stempel. Mitunter werden sie auch vorher geschlachtet, was freilich aufs selbe herauskommt: Im Endeffekt gelten sie als Schweizer Poulets. Nur bei den chinesischen Poulets, die aus US-Zuchten stammen, ist es etwas komplizierter. Dieses Fleisch muss in der Schweiz erst «bearbeitet» werden, damit es die Bezeichnung «in der Schweiz hergestellt» tragen darf. Aber auch das ist kein grösseres Hindernis. Es genügt, das Pouletfleisch zu marinieren.
Angestellte aus 15 Nationen
In der Fredag in Root wird das gefrorene Pouletfleisch aus China je nach Verwendungszweck zu einer Masse – zu sogenannter Formware – zermalmt oder in riesigen Tumblern während mehrerer Stunden langsam aufgetaut und weichgeschüttelt. Am Besichtigungstermin laufen drei Linien. Auf der einen entstehen «Poulet Cordon Bleu», auf der zweiten «Cordon Creamy Spinat». Nur auf der dritten Verarbeitungslinie, wo Pouletschenkel gefüllt werden, stammt das Fleisch ganz aus Schweizer Produktion.
Die Angestellten kommen aus 15 Nationen, die meisten von ihnen sind Tamilen. Für einen Monatslohn von rund 3000 Franken verwandeln sie chinesisches Poulet in ein Schweizer Produkt. Gearbeitet wird im Dreischichtbetrieb. In der Nacht ist die Reinigungsbrigade am Werk.
Ob «Cordon Creamy Spinat» oder Cordon bleu, es dauert nur wenige Sekunden, um zwischen die Pouletbrüstli einen tiefgefrorenen Spinatwürfel, ein Stück Käse und Schinken zu legen. Den Rest erledigen Maschinen.
Auf einem Förderband wird das Poulet vollautomatisch paniert, fritiert, gegart, tiefgefroren, in Kunststoffbeutel verschweisst und in 3-Kilo-Kartons abgefüllt. Sie gehen an die Gastronomie. «Auf jeder Packung steht, dass das Fleisch aus China stammt», betont Hansen. Wie das der Wirt den Gästen dann auch mitteilt, bleibt seine Sache. Im Detailhandel jedenfalls liebt man es möglichst diskret. Hansen: «Unsere Abnehmer haben verlangt, dass keine konkreten Verpackungen und Produkte fotografiert oder erwähnt werden dürfen.»
Skeptische EU – Blauäugige Schweiz
Kein anderes Land liefert so viel Pouletfleisch in die Schweiz wie China. Uber neun Millionen Kilo waren es allein 1998.
In nur wenigen Jahren hat China Brasilien und Ungarn an der Spitze der Pouletlieferanten abgelöst. Keine Selbstverständlichkeit. Denn die Europäische Union (EU) hat den Import von Pouletfleisch aus China aus Angst vor Seuchen und Mängeln bei der Tierhaltung vor drei Jahren verboten.
In der Schweiz scheint dies die Behörden nicht zu beunruhigen: «Diese Massnahmen sind rein handelspolitisch bedingt. Die EU will die eigenen Produzenten schützen», sagt Jakob Schluep vom Bundesamt für Veterinärwesen.
Auch der Detailhandel relativiert: «China ist nicht gleich China, da gibt es riesige Unterschiede», argumentiert etwa Felix Wehrle von Coop Schweiz. «Wir arbeiten nur mit lizenzierten Betrieben zusammen, die strengen Anforderungen genügen.» Ähnliches lassen die Migros und Waro/Denner verlauten.
Der Bundesveterinärbeamte Schluep hat chinesische Mast- und Schlachtbetriebe mehrmals besucht. Sein Fazit: «Die Verhältnisse sind weniger schlimm, als man vielfach behauptet, und generell in Ordnung.»
Was er genau damit meint und wie der Schweizer Beamte im riesigen Land herausgefunden hat, welche Betriebe die Schweiz beliefern, bleibt seine Sache.
Die EU jedenfalls ist bedeutend skeptischer. Sie hält das Importverbot unter anderem deshalb aufrecht, weil es immer wieder vorkam, dass Herkunftszeugnisse gefälscht wurden.
Die China-Poulets kommen grösstenteils auf dem Seeweg in Containern nach Basel. Verantwortlich beim grenztierärztlichen Dienst ist Ruedi Maier. «Wir schauen uns die Ware an und lassen sie ab und zu bakteriologisch untersuchen. Kürzlich war der Inhalt eines Containers nicht ganz gefroren.» Beanstandungen gebe es sonst aber kaum, «und wenn, dann spuren die Chinesen sofort».
Für die Kontrollen im Detailhandel und in der Gastronomie sind die kantonalen Laboratorien zuständig.
Erstaunlich nur: Vom EU-Importverbot für chinesisches Poulet hat Verena Figueiredo, zuständig für Lebensmittelkontrollen im Kanton Basel-Stadt, nichts gewusst.
Schweizer Produkte sind viel zu teuer
Der globale Markt bringt auch die teure Schweizer Landwirtschaft unter Druck. Bauernpolitiker haben jedoch bereits eine Lösung parat: Sie verlangen Finanzhilfe vom Bund.
Poulets aus China, Steaks aus Argentinien, Äpfel und Birnen aus Südafrika. Der Handel mit Lebensmitteln ist inzwischen fast grenzenlos. Die inländischen Bauern sind alarmiert. «Im Weltmarkt kann die Schweiz mit ihrem hohen Lohnumfeld nicht mehr mithalten», sagt der Berner SVP-Nationalrat Fritz Abraham Oehrli. «Sehr viele Bauern werden deshalb aufgeben müssen.»
- Bergbauer Oehrli fordert deshalb vom Bund finanzielle Ausstiegshilfen. In einem Vorstoss schlägt er «gezielte Anreize» vor, zum Beispiel bei der beruflichen Vorsorge oder mit Steuererleichterungen. Aktiv wird auch die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats. Sie verlangt «Ausbildungs- und Umschulungshilfen» für Landwirte, die die landwirtschaftliche Tätigkeit aufgeben.
- Nach einem Strohhalm greift der Luzerner SVP-Nationalrat und Landwirt Josef Kunz. Er verlangt vom Bundesrat einen Bericht, wie die Riesenschuld von 20 Milliarden Franken der Landwirte getilgt werden könnte. Damit möchte Kunz «die hohen Fixkosten senken» und so die Landwirtschaft «mittel- und langfristig wettbewerbsfähiger machen».
- Der Bundesrat ist bereit, die Vorschläge zu prüfen. «Offenbar läuten auch dort die Alarmglocken», freut sich Fritz Abraham Oehrli. «Der Druck auf die Landwirtschaft nimmt weiter zu», bestätigt Martin Stoll vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Jede Marktöffnung – sei es die Annäherung an die EU oder die nächste Agrarrunde der Welthandelsorganisation WTO – verschärft die Situation. Das BLW schätzt, dass fortan jährlich drei Prozent oder 3600 bäuerliche Arbeitsplätze verlorengehen.
- Sinkende Preise und Spezialitäten statt Massenware – so sieht der Bund die Zukunft der Schweizer Landwirte. Das heisst: qualitativ gute Labels für Fleischspezialitäten, Wein, Gemüse oder Früchte. Dann, so die Hoffnung, darf der Preis auch etwas höher sein als bei den anonymen Massenprodukten.