Mit heissem Sound im Dienste des Herrn
Von Religionsverdruss keine Spur: Freikirchen ziehen Jugendliche in Scharen an. Mit trendiger Musik, Videoclips und attraktiven Events bringen die Prediger eine rigide Sexualmoral an die junge Frau und den jungen Mann.
Veröffentlicht am 30. November 2000 - 00:00 Uhr
Die beiden jungen Frauen, nabelfrei und hauteng gestylt, fallen sich um den Hals und küssen sich dreimal. Die Jungs im Disco-Outfit sind zurückhaltender: Sie klopfen sich auf den Rücken. Die Stimmung ist aufgestellt beim Gottesdienst der International Christian Fellowship (ICF) im Saal der alten Zürcher Börse. 16- bis 28-Jährige dominieren. Über 30-Jährige sehen alt aus.
Auf der Bühne legt sich die Musikband ins Zeug. Es wummert, dass das Zwerchfell vibriert. Das Publikum nimmt den Rhythmus auf und singt die englischen Lieder mit. Videoclips, Theater auf der Bühne, heisser Sound – die jungen Zuhörerinnen und Zuhörer sind begeistert.
«Fette» Events für Jugendliche
Der Prediger lobt Gott als allmächtigen Praktiker. Ihm selbst habe er geholfen, den Pendenzenberg im Büro abzutragen. Auch den Sohn des Predigers habe Gott geheilt, als die Ärzte nicht mehr weiter wussten. Und aus erster Quelle weiss der Prediger, dass Gott einen KZ-Insassen vor den Nazi-Schergen rettete.
Damit die jungen Leute die Gebetstechnik nicht vergessen, erhalten sie einen Faltprospekt. Und beim Ausgang gibt es noch die Zeitschrift «Amen» mit biblischen Texten und einer Auflistung von Workshops und Events. Ein Neujahrscamp auf der Rigi und ein Snowboardcamp in der Lenk preisen sich mit jugendlichen Vokabeln wie «ultimativ», «fett» und «lässig» an. «Get your stuff und melde dich an!» – Englischkenntnisse sind Voraussetzung, um die ICF-Botschaft zu verstehen. «It's a gospel movement», steht auch auf der Homepage im Internet.
Gläubige zahlen zehn Lohnprozente
Jeden Sonntag finden vier Gottesdienste statt. Pro Veranstaltung finden sich rund 500 Leute ein. Ein Gottesdienst richtet sich an junge Familien, die übrigen an Jugendliche und jüngere Erwachsene.
Doch was geschieht, wenn die Leute älter werden? ICF-Sprecher Daniel Linder: «Wir werden immer altersspezifische Gottesdienste durchführen. Gesamtgottesdienste gibt es nicht. Das ist die grosse Schwäche der Landeskirche.»
Der Zulauf junger Menschen hält unvermindert an. In Bern, Basel, Biel, Baden und Chur sind neue ICF-Gemeinden entstanden. Und es klingelt in der Kasse: Die Mitglieder liefern der Gemeinschaft den zehnten Teil ihres Einkommens ab. Allein die Zürcher Gemeinde hat ein Budget von zwei Millionen Franken pro Jahr. Ein Grundstückskauf und der Bau einer Mehrzweckhalle sind geplant.
Auf der Erfolgswelle reitet auch die Vineyard Christian Fellowship. Allein in Bern besuchen Sonntag für Sonntag über 700 Personen den Gottesdienst. Bei Vineyard hat das Gebet für die Kranken einen grossen Stellenwert. «Wir beten unabhängig vom Erfolg, doch Heilung hat sich auch schon eingestellt», sagt Sprecher Wilfried Gasser. Er ist Arzt von Beruf.
Wie die ICF huldigt auch Vineyard dem generationenspezifischen Gottesdienst. Und auch Vineyard vertraut der Macht der Musik. Wilfried Gasser: «Wir hatten in den letzten Jahren eine kleine Krise. Im Gottesdienst dominierte sanfte Rockmusik, die Teenager jedoch wollten Härteres. Nun hat der Trend Richtung «soft» wieder Oberhand. Das Problem ist gelöst.»
Auch andernorts sind Vineyard-Ableger gegründet worden: in Basel, Biel, Liestal, Rapperswil-Jona Solothurn, Olten, Burgdorf, Luzern und Zürich.
Neben den grossen Freikirchen sind in den letzten Jahren auch zahlreiche lokale Gemeinden entstanden. Auch sie sprechen vor allem junge Leute an. Etwa die von Andy und Elsbeth Kunz gegründete Harvest Church in Winterthur. Knapp 200 Menschen besuchen jeweils die sonntäglichen Zusammenkünfte.
Eine ähnliche Grösse hat die Maranatha-Kirche in Arbon TG. Die seit 15 Jahren bestehende Gemeinde versteht sich als grosse Familie. Junge Familien und Teenager bilden auch hier den Hauptharst. «Unsere Anbetungslieder sind zum Teil Ohrwürmer, die aus dem angelsächsischen Bereich stammen. Auch moderne Rhythmen haben Platz», sagt Kirchengründer Urs Jundt. Der Zustrom junger Leute halte immer noch an. «Ob unsere Bewegung von Dauer ist, wird sich weisen, wenn wir den Generationenwechsel vollziehen.»
Sex vor der Ehe ist tabu
Gottesdienst als intensives Erlebnis ist auch den Anhängern der Bus-Kirche in Untersiggenthal AG ein grosses Anliegen. Der Name stammt vom Autobus-Depot, in dem die Gottesdienste stattfinden.
Die Gemeinde ist nach wenigen Jahren auf 100 Erwachsene, ebenso viele Kinder und rund 30 Teenager angewachsen. Die Mitglieder spenden so viel, dass Kirchengründer und Prediger Hans Rosenberg ein Salär beziehen kann. «Ich erhalte einen Bedürfnislohn, der weit unter dem Lohn eines Pfarrers liegt», sagt er.
Die Lehren der neuen Freikirchen differieren so stark wie ihr Erscheinungsbild. In allen hat jedoch die Devise «Wahre Liebe kann warten» den Stellenwert eines Dogmas. Sexualiät vor der Ehe ist tabu. Und die Repräsentanten sind davon überzeugt, dass dieses Dogma die Jungen anzieht. «Junge Leute sind auf der Suche nach klaren Konzepten», sagt etwa Daniel Linder von der ICF, «und wir scheuen uns nicht, diese auszusprechen.»
Auch Andy Kunz von der Winterthurer Harvest Church ist überzeugt, dass häufiger Partnerwechsel viele Junge abstosse. Und Wilfried Gasser von Vineyard doppelt nach: «Die Treue hat bei den Jungen einen sehr hohen Stellenwert. Ob der Vollzug immer gelingt, ist eine andere Frage.»
Heterosexuelle müssen warten – ein vergleichsweise kleines Opfer, verglichen mit der Situation der homosexuellen Mitglieder. Ihnen wird eine sexuelle Umpolung nahe gelegt. So heisst es etwa in einer Schrift der Schweizerischen Evangelischen Allianz: «Die Wirklichkeit des homosexuellen Lebensstils und ihrer Szene ist tragischer und brutaler, als gewisse Veröffentlichungen sie darstellen. Viele homosexuell empfindende Menschen leiden an inneren Zwängen und wollen psychisch weiterkommen. Hier kann sich die christliche Seelsorge nicht entziehen, ohne an Menschen schuldig zu werden.»
Schwule werden «weggebetet»
Claudio Minder, Mister Schweiz und praktizierendes ICF-Mitglied, hat die Öffentlichkeit über diese Haltung informiert. Vor laufenden Fernsehkameras qualifizierte er die Homosexualität als Sünde ab. Das war kein Ausrutscher eines Unbedarften. ICF-Sprecher Daniel Linder behauptet, dass Homosexualität widernatürlich sei. Und auf der ICF-Homepage sind alle Bibelstellen aufgelistet, die gegen die gleichgeschlechtliche Liebe sprechen.
Ebenso streng sind die Leute von Vineyard. Vor vier Jahren rief die Gemeinde die Homosexuellen auf, sich durch Gebete in Heterosexuelle zu verwandeln. Ein Betroffener von damals: «Die Vineyard-Verantwortlichen waren zwar sehr freundlich, aber in der Sache knallhart. Homosexualität ist für sie nicht mit dem Christentum vereinbar. Schliesslich versuchten sie, mich wegzubeten.»