David S. (Name der Redaktion bekannt) ist homosexuell und leitet eine Jungwacht- und Blauringgruppe im Kanton Aargau. Zwei Wochen vor dem diesjährigen Sommerlager spricht er in der Leiterrunde Klartext. Es ist Mittwochabend, die Sitzung zu Ende, David nervös. Er kündigt an, dass er noch etwas sagen möchte. Ein Mitleiter scherzt: «Jetzt kommt sicher, dass er schwul ist.» Es kommt. Stille, dann Kommentare wie: «Hey, das ist doch kein Problem!» Der 21-Jährige fühlt sich erleichtert.

Nicht immer reagieren die Leiterinnen und Leiter jedoch so offen und locker wie bei David. Die 17-jährige Jasmin Fausch leitete zwei Jahre lang eine Blauringschar im Kanton St. Gallen. Als sie und ihre Freundin von ihren Mitleiterinnen zusammen im Dorf gesehen werden, beginnt das Mobbing. «Sie tratschten herum, dass ich lesbisch sei, zerrissen sich hinter meinem Rücken die Mäuler und ignorierten mich. Irgendwann wurden mir die Spannungen im Leitungsteam zu viel.» Jasmin schmiss den Bettel hin und beendete ihr freiwilliges Engagement als Leiterin.

David gehört - Jasmin gehörte - zu den 93'000 Jugendlichen und Kindern in der Schweiz, die ihre Freizeit in einem der drei grossen Jugendverbände Pfadi, Cevi und Blauring-Jungwacht verbringen. Jugendverband, das heisst, mit Schlafsack und Zelt ins Sommerlager zu reisen, an verregneten Samstagen heisse Spuren im Wald zu verfolgen und anschliessend Cervelats über dem Feuer zu bräteln. Aber nicht nur: In den Jugendverbänden übernehmen Heranwachsende als Leiterinnen und Leiter Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder. Wer die Jugendverbandskarriere bis zur Leitungsfunktion mitmacht, durchlebt seine ganze Jugendzeit in den Verbänden.

Eine dichte Zeit, vom ersten Pickel bis zum ersten Sex. Das sexuelle Frühlingserwachen fordert die Heranwachsenden - und einige von ihnen erhalten mit ihrer Homosexualität noch eine knifflige Zusatzaufgabe gestellt. Das weiss auch Brigitte Röösli von der Lesbenorganisation Schweiz: «Junge Lesben und Schwule sind einem hohen psychischen Druck ausgesetzt. Zu erkennen, dass man anders ist als die anderen, ist schwierig, gerade in der Jugendzeit. Davon zeugt auch die Tatsache, dass homosexuelle Jugendliche gemäss internationalen Studien vier- bis siebenmal häufiger Suizid begehen als ihre heterosexuellen Altersgenossen.» Rund zehn Prozent der Menschen sind homosexuell. Hochgerechnet auf die Mitgliederzahl sind also rund 9000 Angehörige von Pfadi, Cevi oder Blauring-Jungwacht lesbisch oder schwul. Eine stattliche Minderheit.

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Katholische Kirche: Kein Kommentar
Zwei Monate später. David erklärt, weshalb er vor versammelter Leiterrunde verkündete, dass er schwul ist. «So im Nachhinein ist es schon etwas komisch, dass ich mich vor den anderen Leitern für meine Sexualität erklärte. Ein heterosexueller Leiter tut das ja auch nicht. Aber ich mochte meinen Freund nicht mehr länger verstecken, auch wenn mir das Coming-out vor dem Leitungsteam schwerfiel.» David wünscht sich, dass die Verbandsspitzen das Thema in der Leiterausbildung aufgreifen. Und er glaubt, dass in den Jugendverbänden die Sensibilität für die schwierige Situation vieler homosexueller Jugendlicher fehlt.

Daniel Ritter, Mitglied der Geschäftsleitung von Blauring und Jungwacht, gibt zu: «Bei uns ist das kein vordringliches Thema. Und es wird auch nicht explizit in der Leiterausbildung erwähnt.» Ähnlich klingt es bei den Pfadis: «Homosexualität wird in den Ausbildungsunterlagen der Leitenden nicht spezifisch thematisiert», sagt Andrea Adam, Kommunikationsverantwortliche der Pfadibewegung Schweiz. Wer die sonst fortschrittliche Auseinandersetzung der Jugendverbände mit Jugendfragen kennt, ist überrascht, dass zu sexueller Identitätsfindung keine qualifizierten Aussagen gemacht werden. Warum schweigen die Jugendverbände zum Thema Homosexualität konsequent?

Sexualpädagoge Lukas Geiser von «Lust und Frust», einer gemeinsamen Fachstelle für Sexualpädagogik der Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich und der Zürcher Aids-Hilfe: «Ich finde es wichtig, dass sich die Verbandsspitzen in den Leitbildern und in der Ausbildung mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen. Sexualität allgemein ist nach wie vor ein heisses Thema, so auch Homosexualität. Die Jugendverbände sollten sich dessen annehmen und Homosexualität als eine akzeptierte Lebensform anerkennen.» Solch ein öffentliches Bekenntnis durch die Verbandsspitzen sei auch für junge Lesben, Schwule und Bisexuelle wichtig, die dadurch in ihrer Identität gestärkt würden. Geiser ist sich sicher, dass «mit einer solchen Positionierung auch den anderen Jugendlichen klar signalisiert würde, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung im Jugendverband nicht toleriert wird».

Daniel Ritter von Blauring und Jungwacht teilt Geisers Ansicht: «Wir sollten das Thema Sexualität konkretisieren.» Ritter selbst hätte keine Mühe, wenn sich sein Jugendverband positiv zu homosexuellen Lebensformen äussern würde. Was das für die Zukunft konkret bedeutet, bleibt dennoch ungewiss - denn Blauring und Jungwacht haben die katholische Kirche im Rücken, die die homosexuelle Lebensform ablehnt. Es besteht eine finanzielle Abhängigkeit von der Kirche, die Blauring und Jungwacht mit namhaften Beträgen unterstützt.

Müssten die Verbände fürchten, dass diese Geldquelle rasch versiegt, wenn sie sich in Sachen Homosexualität aus dem Fenster lehnen? Auf Anfrage liess Pater Roland-Bernhard Trauffer vom Gremium der Deutschschweizer Bischöfe ausrichten, dass man sich nicht zu solch hypothetischen Fragen äussere. Sprich: Die Kirche bleibt im Dorf, solange die beiden katholischen Jugendverbände sich nicht öffentlich zur Akzeptanz homosexueller Lebensform bekennen.

Immer wieder Vorurteile
Dass sich besonders Jugendverbände mit kirchlichem Hintergrund mit Lesben und Schwulen in ihren Reihen schwertun, zeigt sich auch im Verein christlicher junger Frauen und Männer, kurz Cevi. Vertreter evangelikaler Cevi-Gruppen äusserten im November 2003 an einer Tagung der Cevi-Region Bern zum Thema «Christ sein und Homosexualität» die Ansicht, Homosexualität sei widernatürlich, die gleichgeschlechtliche Liebe lasse sich nicht mit der Bibel - und somit mit dem Christsein - vereinbaren.

Diese Haltung gegenüber Homosexuellen im Cevi erfuhr die 29-jährige Gina Gasser am eigenen Leib. Sie und ihre heutige Freundin lernten sich in einem Ausbildungskurs im Cevi kennen. «Wir standen offen zu unserer Liebe und verheimlichten sie nicht», sagt sie. Der Abteilungsleiter intervenierte und führte neben religiösen Ansichten ins Feld, dass die Eltern negativ reagieren könnten, wenn ihre Kinder in der Obhut einer lesbischen Leiterin sind. Auch fürchtete er sich davor, dass Zeitungen darüber berichten könnten. «Seine Reaktion war wirklich unterste Schublade», erinnert sich Gina. Ihre Freundin zog die Konsequenzen und trat aus der Cevi-Abteilung aus.

«Das ist echt ätzend»
Doch es gibt auch andere Ansichten im Cevi. Die Gruppe Pink Cevi beweist Courage und macht Schwule, Lesben und Bisexuelle im Verband sichtbar. Daniel Senn leitet die Gruppe zusammen mit anderen und weiss um die Brisanz des Themas: «Pink Cevi ist ein schwaches Pflänzchen, auf das immer wieder Kritik hagelt. Wir verstehen uns deshalb nicht als Gruppe, die schrill für die Rechte von Lesben und Schwulen kämpft, sondern bieten hauptsächlich Beratung für Lesben und Schwule im Cevi.»

David S. und Jasmin Fausch sind froh, ihre Andersartigkeit nicht mehr verstecken zu müssen. Dennoch: Vorurteile gegenüber Lesben und Schwulen halten sich hartnäckig. Am Ende des Gesprächs erwähnt David, dass es ihn trifft, wenn fälschlicherweise Homosexualität mit Pädophilie gleichgesetzt wird - was besonders im Zusammenhang mit seiner Funktion als Leiter öfter vorkommt: «Das ist echt ätzend, aber leider verbreitet.» Und Jasmin erzählt, wie die anderen Leiterinnen plötzlich Angst hatten, dass «ich etwas von ihnen wolle. Das ist Quatsch.» Es sind genau solche Vorurteile und Sprüche, die es Jugendlichen schwermachen, offen zu ihrer Homosexualität zu stehen. «Und ich kenne einige, die sich nicht getrauen, im Jugendverband offen dazu zu stehen», sagt Gina.