Im Zweifel für den Arzt
Ein Künstler fühlt sich wegen Ärztepfuschs seiner Karriere beraubt – und blitzt mit seiner Klage ab. Bei Fehlbehandlungen haben Ärzte wenig zu befürchten.
Veröffentlicht am 15. September 2015 - 14:09 Uhr
Der Basler Künstler Louis A. Schlumberger wurde jahrelang mit Kortison behandelt – wegen chronischer Darmentzündung. Das Kortison führte zu Knochenschwund, Schlumberger erlitt mehrere Rückenwirbelbrüche wegen dieser Nebenwirkung. Daher warf er einem Arzt Behandlungsfehler vor – und verlangte für seinen Verdienstausfall 2,3 Millionen Franken Schadenersatz.
Denn mit einem Schlag war im Frühling 2006 die künstlerische Karriere Schlumbergers zu Ende. Wenige Jahre zuvor hatte er noch mit grossformatigen Ölbildern in der internationalen Kunstszene auf sich aufmerksam gemacht. Seine Darstellungen von Schein- und Seinwelten kamen beim Publikum an. Er stellte in namhaften Galerien in der Schweiz und in London aus, die Verkäufe zogen an. Allein 2002 verkaufte er Bilder für über 160000 Franken. Gleichzeitig produzierte er Filme, und plötzlich winkte in England sogar die Realisierung eines Pilotfilms für eine TV-Serie.
«Es hat nicht viel gefehlt, und ich wäre für immer im Rollstuhl gelandet.»
Louis A. Schlumberger, Künstler
Doch daraus wurde nichts. Er musste die Verhandlungen mit der Produktionsfirma beenden; auch ans Malen war nicht mehr zu denken. «Ich war bettlägerig und zur Untätigkeit verdammt», sagt er. Bei jeder noch so kleinen Bewegung litt er extreme Schmerzen. Der Grund: Seine Knochen, vor allem im Rücken, waren wegen fortgeschrittener Osteoporose in desolatem Zustand. Diese gilt als häufige Nebenwirkung von Kortison.
Als sich im März 2006 Schlumbergers Gesundheitszustand nicht besserte, überwies ihn sein Arzt an einen Gastroenterologen, der an einer Zürcher Privatklinik praktizierte. Schlumberger war gezeichnet, sein Gesicht stark aufgedunsen – ein typisches Zeichen bei einer Kortisonbehandlung. Obwohl in der Fachwelt unbestritten ist, dass Osteoporose häufig als Nebenwirkung einer Kortisonbehandlung auftritt, erhielt der Patient keine prophylaktische Behandlung.
Erst fünf Monate später untersuchte der beigezogene Spezialist den Knochenzustand mit einer Magnetresonanz-Analyse (MRI). Doch passiert ist auch damals nichts. Im Oktober 2006, zwei Monate später, brach schliesslich der erste Rückenwirbel, kurz darauf ein zweiter. «Ich ging durch die Hölle, die Schmerzen waren unbeschreiblich», sagt Schlumberger. Er wirft dem Arzt der Privatklinik vor, ihn nicht ordnungsgemäss behandelt zu haben.
Bereits im März 2006, spätestens aber bei der MRI-Untersuchung im August hätte diesem klar sein müssen, dass Knochenbrüche unmittelbar bevorstanden und Schlumberger dringend gegen Osteoporose behandelt werden müsste – zur Vorbeugung wird das Füllmaterial Bisphosphonat in den Knochen gespritzt. Doch diese Behandlung erhielt er erst Ende 2006. «Es hat nicht viel gefehlt, und ich wäre für immer im Rollstuhl gelandet», sagt er.
«Ich habe in 20 Jahren nie erlebt, dass ein Richter einen Klagerückzug vorschlug.»
Schlumbergers Anwalt
Für Schlumbergers Anwalt ist der Fall klar: Die faktische Nichtbehandlung war ein klarer Behandlungsfehler. Der Patient klagte beim Bezirksgericht gegen den Spezialisten der Privatklinik in Zürich auf Schadenersatz. In der Klageschrift wirft er dem Arzt vor, gegen allgemein anerkannte Regeln der ärztlichen Wissenschaft verstossen zu haben – aus mangelnder Aufmerksamkeit. Für diesen Behandlungsfehler müsse er geradestehen: «Hätte der Beklagte seine Pflichten erfüllt und im März beziehungsweise im August 2006 nicht die Fortführung der Kortisontherapie empfohlen beziehungsweise angeordnet, so wären die Knochen des Klägers auch nicht weiter geschwächt und die Wirbelbrüche verhindert worden.»
Der angeschuldigte Magen-Darm-Spezialist sieht seine Rolle komplett anders: «Es ist ausgeschlossen, dass die Wirbelbrüche auf die Behandlung durch mich zurückzuführen sind», hält er gegenüber dem Beobachter fest. Und: «Herrn Schlumbergers gesundheitliche Probleme stehen in absolut keinem Zusammenhang mit der Behandlung durch mich.» Seine Behandlung habe erst im August 2006 begonnen. Im März sei er nicht «behandelnder Arzt» gewesen, er habe «bloss ein einmaliges Konsil vorgenommen». Der Gastroenterologe ist der Meinung, er habe den Patienten am Anfang lediglich wegen der auffällig hohen Leberwerte abklären müssen. Schlumbergers ursprünglicher Arzt formulierte allerdings im Überweisungsschreiben klar: «Ich möchte Sie um eine weitergehende gastroenterologische Abklärung und Therapieempfehlung bitten.»
Ruinierter Rücken, ruinierte Karriere und nun eine Niederlage: Bei der neulich vor Bezirksgericht durchgeführten Einigungsverhandlung schloss Schlumberger zwar mit seinem damaligen Facharzt der Zürcher Privatklinik einen Vergleich. Der Künstler erhält eine Entschädigung von 35000 Franken – für «Haushaltsschaden und Genugtuung». Doch was auf den ersten Blick gut aussieht, ist eine herbe Niederlage. Im Vergleich heisst es, der Arzt leiste diese Zahlung «ohne Anerkennung einer Sorgfaltspflichtverletzung, einer Haftung und einer Rechtspflicht».
Die juristisch relevante Frage, ob das Arbeitsverhältnis für den Spezialisten im März 2006 mit der Überweisung begann, wurde erst gar nicht diskutiert. Und der Betrag gleicht weder Schmerzen noch Lohnausfall aus.
Schlumberger: «Mir blieb nichts anderes übrig, als den Vergleich zu unterschreiben.» Richterin Kerstin Habegger sei voreingenommen gewesen und habe sich auf die Seite des Arztes gestellt. Unverblümt habe sie Schlumberger zum Rückzug der Klage aufgefordert. Die Beweise seien «überhaupt nicht gewürdigt» worden. Mehr oder weniger deutlich habe man ihm klargemacht, dass er keine Alternative habe: Falls er den Vergleich nicht akzeptiere, müsste er Jahre prozessieren und den Fall vor Obergericht ziehen, was ihn Hunderttausende Franken kosten könnte. Denn in erster Instanz hätte dieselbe Richterin entschieden, die ihn zum Rückzug der Klage drängte. Richterin Habegger gibt zur konkreten Vergleichsverhandlung aus Gründen der Vertraulichkeit keine Auskunft. «Die Entscheidung, ob die Parteien einen Vergleich abschliessen oder nicht, liegt alleine bei diesen, was das Gericht den Parteien jeweils auch erklärt. Eine Einigungsverhandlung soll den Parteien eine Grundlage für die Entscheidung für oder gegen eine Vergleichslösung geben».
Schlumbergers Anwalt, Partner einer renommierten Zürcher Kanzlei und Spezialist für Versicherungsrecht, Berufshaftpflicht und Verantwortlichkeitsrecht, kommt zu einem ernüchternden Schluss: «Ich habe in meiner 20-jährigen Karriere noch nie erlebt, dass ein Richter einen Klagerückzug vorschlug, schon gar nicht in einem Fall, in dem es um die Auslegung eines Auftragsumfangs eines Arztes ging.»
Heute lebt Schlumberger immerhin wieder mehr oder weniger schmerzfrei. An einen normalen Arbeitsalltag aber ist nicht zu denken. Auch wenn sein Ziel klar ist: «Ich will wieder zurück.» Damit meint er den Kunstmarkt, wo er vor über zehn Jahren reüssiert hat. Doch vorerst hat ihn mit der zivilrechtlichen Auseinandersetzung die Vergangenheit eingeholt. «Ich fühle mich gedemütigt» – vom damals beigezogenen Facharzt und von seiner fehlenden Einsicht. Aber auch vom Gericht, das seiner Meinung nach «von Anfang an» gegen ihn Position bezogen hat. «So kann man einen Menschen nicht behandeln.»